The Project Gutenberg eBook of Hôtel Buchholz. Ausstellungs-Erlebnisse der Frau Wilhelmine Buchholz
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Title: Hôtel Buchholz. Ausstellungs-Erlebnisse der Frau Wilhelmine Buchholz
Author: Julius Stinde
Release date: October 24, 2016 [eBook #53359]
Most recently updated: October 23, 2024
Language: German
Credits: Produced by Matthias Grammel and the Online Distributed
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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HÔTEL BUCHHOLZ. AUSSTELLUNGS-ERLEBNISSE DER FRAU WILHELMINE BUCHHOLZ ***
i
Hôtel Buchholz.

Ausstellungs-Erlebnisse
der
Frau Wilhelmine Buchholz.

Herausgegeben
von
Julius Stinde.

Berlin, 1897.
Verlag von Freund & Jeckel.
(Carl Freund.)
ii
Das Recht der Uebersetzung ist vorbehalten.
iii
Herrn August Scherl
zugeeignet.
v
Inhalt.
Seite | |
Große Erwartungen | 1 |
Sommeraussichten | 9 |
Angriffspläne | 18 |
Ein Damen-Ausflug | 25 |
Der Hausbesuch regt sich | 35 |
Ein Blick über das Ganze | 46 |
Das erste Lichtfest | 54 |
Bei den Maschinen | 63 |
Ueber Architektur und einiges Andere | 72 |
Ein freier Tag | 82 |
Kindervergnügen | 92 |
Verwickelungen | 102 |
Meine Einquartierung | 110 |
Täuschungen | 119 |
Eingeregnet | 130 |
Nebenbuhlerei | 139 |
In den Kunstalpen | 148 |
Auswärtige und innere Angelegenheiten | 157 |
Provinz-Erlebnisse | 165 |
Es kommt zum Klappen | 176 |
Alt-Berlin | 188 |
Spree-Afrika | 200 |
Glückliche Leute | 210 |
1

Große Erwartungen.
Ich ging lange mit mir
zu Rath. Sollte ich oder
sollte ich nicht? Aber es
war zu verlockend, der Antrag,
für die offiziellen Ausstellungsnachrichten
auf
mittlere Familien berechnete
Berichte aus meiner Feder abzulassen
über das große Unternehmen
im Osten Berlins, die
Gewerbeausstellung. Endlich,
um sicher zu gehen, überlegte
ich dies Anerbieten mit meinem
Mann, der ging auch nun
längere Weile mit sich zu Rath
und sagte:
»Wilhelmine, ich fürchte, die
Arbeit wird zu anstrengend für
Dich, Du mußt doch Studien
machen, und wenn's regnet...«
»Dann gehe ich in die Baulichkeiten.
Karl, es ist ja eine
ganze Stadt im Treptower Park
entstanden, so daß die Ausstellung
in Inneres und Aeußeres,
sowie in Altes, Neuestes
und Fremdländisches zerfällt.
Und daran hängend der Vergnügungstheil
und zwischendurch Erfrischungsanstalten. Wo
ist da Arbeit?«
2
»Das Betrachten und genaue Ansehen greift an.«
»In einem weg besehen, darin gebe ich Dir Beifall. —
Aber es ist von einer wissenschaftlichen Commission genau
abgezirkelt, wohin immer Getränkunternehmen zu legen
waren, den Nerven Beruhigungspunkte zu bieten, und die
sind auf den Zentimeter genau von beeidigten Landmessern
ausgerechnet.«
»Wer hat Dir das erzählt, Wilhelmine?«
»Karl, nichts beleidigt mehr als unangebrachter Unglaube.
Wenn die Krausen Dir etwas beschwört, ist es allerdings
Deine Pflicht, mit dem Gegentheil zu dividiren, und was
dann herauskommt, damit sei auch noch vorsichtig, es weiter
zu verbreiten. Uebrigens brauchst Du ja nur hinauszugehen
und nachzumessen.«
»Wilhelmine, ich bitte Dich, schreibe nicht,« bat mein
Karl mit Nachdruck. »Wenn Du treuherzig bringst, was
Hinz und Kunz Dir aufbinden, fällst Du mit Glanz hinein.«
»Karl,« entgegnete ich, »Du redest wie das blinde Huhn
von Anilin. Herr Kriehberg ist nicht Hinz und Kunz.«
»Was ist das für 'n Fremdling?«
»Er ist ein höchst talentbegabter Architekt, dessen Bekanntschaft
ich auf dem Ausstellungsgelände machte, als ich
mir das Ganze vorläufig darauf ansah, ob es sich zum Ausschlachten
für mich eignete. Gerade so wie draußen in
Treptow denke ich mir die Schöpfung beim Beginn: noch
keine Wege, keine Schutzleute zu fragen, wo's lang geht, kein
gedruckter Führer, Alles wüst durcheinander, so zu sagen:
erst in der sich gestaltenden Idee.«
»Hübscher Ausdruck, sich gestaltende Idee,« sagte mein Karl
mit verdächtiger Anerkennung. »Hast Du den aus Dir selbst?«
»Nein, von Herrn Kriehberg. Der war nämlich so
liebenswürdig, als ich mich verlaufen hatte, sich meiner anzunehmen
und mir nützliche Winke zu geben, weil man sich mit
dem bloßen Augenmaße zurechtfinden mußte und dabei
immer in die entgegengesetzten Anlagen gerieth. Er wußte
von Allem Bescheid, was er als geaichter Architekt ja auch
muß, und später, wenn ich über die Baulichkeiten schreibe, hat er
mir versprochen, das Technische von den Stilarten zu liefern.«
»Das kann ja recht heiter werden.«
»Karl, er ist ein hochbedeutender junger Mann. Wenn
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es nach ihm gegangen wäre, hätte die Ausstellung eine ganz
andere Physiognomie gewonnen, mehr an das zwanzigste
Jahrhundert tippend. Aber sie hörten nicht auf ihn und
deshalb hat Manches nicht seine unbedingte Billigung. Es
ist ihm schon oft so ergangen. Weißt Du, es giebt Menschen,
die ausgezeichnete Pläne entwerfen und hoch erfinderisch sind,
bei der Konkurrenz nachher aber haben sie jedesmal die
falsche Katze beim Schwanz.«
»Hm. Und was stellt er jetzt vor?«
»Er ist Inspectorist.«
»Was inspectorirt er denn?«
»So beim Kalchlöschen und was sonst beim Bauen verknippert
ist. Ohne ihn würde das Meiste falsch ausfallen
oder doch sehr aus dem Loth.«
»Auch nicht bitter. Wilhelmine, wenn Du besser nicht
schriebest...«
Ich warf meinem Karl einen Blick zu von der Sorte,
bei der man auf Nachbestellung verzichtet.
»... ich meine nicht über Architektur.«
»Die gehört wesentlich dazu. Und sieh', Karl, selbst,
wenn ich wollte — ich kann nicht mehr zurück. Ich habe
schon drei Toiletten für die Ausstellung in die Mache gegeben,
die ich Dir nicht zuwälze. Nein, mein Karl, die
schreibe ich mir zusammen, namentlich die eine mattstrohgelbe
mit geklöppeltem Fichu, traumhaft gediegen, der Hut mit
gelblichem Kräuselwerk und weiße Handschuhe mit schwarzen
Raupen. Du sollst sehen, es wird verblüffend.«
Er war besiegt, der gute Karl, besiegt durch die unumstößliche
Gewalt der Thatsachen, ohne Widerspruch und Ränke,
wie so viele Frauen anwenden, um ihren Willen durchzusetzen.
Meine Seele war sauber wie ein Dutzend unangebrochener
Taschentücher direct aus dem Laden.
Gebäude sind allerdings nicht leicht zu knacken, jedoch
mit Kriehberg überwinde ich sie. Er hat allerdings über
Vieles ein geradezu vernichtendes Urtheil und merkwürdiger
Weise meistens über das, was mir so gut gefällt, wogegen
er furchtbar lobt, was meine Anschauung unberührt läßt.
Aber ich nehme wie aus zwei Kochrezepten von uns beiden
das Beste. Männer allein sind stets einseitig.
Mit Onkel Fritz hatte ich leichten Kampf.
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»Schreib, Minchen,« sagte er. — Darauf sollte ich »Nein«
antworten, aber ich that ihm den Gefallen nicht. Haben wir
Frauen erst mal Prinzipien, sind wir auch nicht wieder herunter
zu bringen, und mein Prinzip lautet: Widerspruch giebts
nicht mehr. Das heißt nur, wenn er nöthig ist. Dann aber feste!
Nun hat Onkel Fritz es an sich, seine Nebenmenschen
mit Spitzfindigkeiten so lange zu triezen, bis er Recht kriegt,
immer mit Vergnügtheit, aber mit Absicht. Um dies Spielwerk
von vorne herein aus dem Gang zu bringen, sagte
ich: »Ihr habt ja ausgestellt, Du und mein Karl, und ich —
ich schreibe. Aber was ich von Euren Gegenständen in die
Blätter setze, hängt von Eurem Betragen gegen mich ab.«
»Das ist Erpressung,« rief Onkel Fritz.
»Nothwehr!« entgegnete ich. »Du kannst mir dreist
Zucker versprechen, ehe meine Entschlüsse wanken. Schlecht
machen werde ich Euch nicht...«
»Das könnte Dir eklig in die Blusen regnen,« warf
Onkel Fritz ein, jedoch nicht mit gewohnter Sicherheit. Er
wurde schon klein.
»Weiß ich,« fuhr ich unbeirrt fort. »Wer sich Geschäftsschädigung
zu Schulden kommen läßt, kann mit mehr oder
weniger Erfolg in Anklagezustand erhoben werden. Aber
was viel schlimmer ist und wogegen keine Abhilfe möglich:
ich kann Euch todtschweigen.«
»Hu,« rief Onkel Fritz, aber es war ein ziemlich benautes
Hu, ohne jegliche komische Wirkung. Er fühlte, daß
die Druckerschwärze mir Gewalt über ihn gab. Kein Zeugnißzwang
vermag auch nur eine einzige anerkennende Zeile
aus mir herauszupressen oder selbst nur den bloßen Namen.
Und das weiß sowohl Fritz wie mein Mann. Und genannt
wollen sie sein. Es ist freilich viel Einbildung dabei, denn
was nützt das Genanntwerden, wenn das Publikum kurz von
Gedächtniß ist, aber ich ließ sie dabei. Es puckerte ordentlich
in mir, wie ich so das Herrschergefühl verspürte und Onkel
Fritz an der Strippe hatte.
Natürlich werde ich mich nie zu solcher Gewaltthätigkeit
entschließen. Eine wie die Maria Stuart'sche Elisabeth unterhaut
Todesurtheile in der eigenen Familie; in unserem Jahrhundert
grassirt dagegen die Humanität. Nein, ich werde
meines Karls Sachen gehörig herausstreichen und ebenso
5
Onkel Fritzens, wenn auch erst gegen Schluß der Ausstellung,
damit sie nicht zu früh wieder üppig werden. Drohen kostet
nichts. Allerdings hält es auch nicht vor.
Mein Schwiegersohn, der Sanitätsrath, ist Feuer und
Flamme für die Ausstellung, soweit er brennbar ist. Er
spitzt unbändig auf die elektrischen Verkehrsverbindemittel
zwischen Berlin und Treptow, wohin er jedes Jahr einmal
mit seinen medicinischen Vereinsbrüdern zum Krebsbundes-Essen
reist: auf dem Schiff hin und in einem eigens bestellten
Nachtkremser zurück. Sie sind immer in vorwurfsfreiem Zustande
wieder in Berlin abgeliefert, weil der Weg so lang
ist, daß sie sich ausheitern, bevor sie versuchen, ob die Hausschlüssel
passen. Ob die raschere elektrische Beförderung mehr
von ihrer Vereinsthätigkeit verrathen wird, bleibt dahingestellt;
aber da sie diesmal ihr Krebsgelage auf der Ausstellung
feiern wollen, wird hoffentlich mehr Licht in die Sache kommen.
Er ist noch nie elektrisch gefahren und verspricht sich
besonderen Genuß davon, worauf ich mir zu bemerken erlaubte:
»Wagen ist Wagen, Herr Schwiegersohn.«
»Damit ist nichts gesagt,« erwiderte er.
»O doch. Es ist mit den elektrischen Wagen wie mit
den Klößen aus Mahlmühlen-Mehl oder aus Dampfmehl:
mehr als glitschen können sie nicht.« — Er lachte beifällig,
worüber ich stutzte und die nachfolgende Erläuterung erwartete,
die jedoch nicht von ihm ausging, sondern von
seiner Gattin.
»Mama,« fing Emmi verlegen an, »Mama, Franz
meint, namentlich sei es überaus angenehm, daß wir die
elektrische Bahn nahe vor der Thür haben und deshalb
öfter hinausfahren können.«
»So ist es recht,« pflichtete ich bei. »Die Ausstellung ist
eine Veranstaltung des Gemeinwesens, die man durch persönliches
Erscheinen nicht genug unterstützen kann. Wer
Bürgersinn hat, lege ihn hier klar; die Gelegenheit ist günstig.«
»Ja, Mama, das ist auch unsere Ueberzeugung. Aber
siehste, da Du Berichte schreibst, mußt Du doch die Hände
voll Freibillete haben, die Du nicht allein absitzen kannst...«
»Ih, seht einmal,« rief ich. »Aus diesem Perspectiv
kuckt ihr? Nein, mein Schatz, was Ihr Euch ausgedacht
habt, ist nicht. Erstens giebt es keine Freibillets, denn die
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Ausstellung ist kein klassisches Theaterunternehmen, und zweitens,
mit welcher Nothlage wollt Ihr Eure Bedürftigkeit
nachweisen? Nee, Kinder, für Nichts ist Nichts. Die Ausstellung
liegt in Treptow und nicht in Nassau.«
Dieser kalte Strahl verschnupfte. Emmi zog einen
Flunsch, und bei ihm, wo er sich schon als Persona gratis
geschmeichelt hatte, wurde die Heiterkeit so alle, als wäre sie
auf einem elektrischen Extrawagen abgeblitzt.
»Mama«, sagte Emmi patzig, »Du hast oft genug gepredigt,
Kinder legten Eltern Sparsamkeit auf, damit sie
nicht als junge Armuthsraben in das Leben flattern und
nun wir für unsere Kleinen nach Deinen Worten thun, willst
Du's nicht wahr haben.«
»An Euch sollt Ihr schinden, aber nicht an mir. Außerdem
ist die Ausstellung ein Bildungsmittel und wer seine
Bildung vernachlässigt, schädigt sich selbst.«
»Vergnügen ist wohl nicht draußen?« fragte er maliziös.
»Gewiß, zur Belohnung für die Bemühungen, die industrielle
Entwicklung der Kultur zu erfassen. Bewundert,
was Menschenhände geschaffen haben und dann dürft Ihr
Euch stärken. Wissenschaft als solche ist trocken. Das sieht
man an dem Flüssigkeitsverbrauch der Studenten. Und deshalb
ist für Alles gesorgt. Kinder, bloß allein die lebensgroßen
Schiffe in voller Natürlichkeit und eins inwendig
trinkfähig. Und ein chemischer Palast und ein Gebäude für
Erziehung und Unterricht, für Eure Knaben wie geboren.
Man weiß nicht, wo anfangen und wo aufhören?«
»Ich denke bei Siechen,« sagte der Rath.
Aus diesem Scherz merkte ich, daß seine Mucksigkeit nur
äußerlich war und er es auf etliche Märker nicht ankommen
lassen wird. »Schön,« sagte ich, »und damit Ihr seht, daß
ich nicht so bin, lade ich Euch sämmtlich zu einer Sitzung in
dem Siechen-Ausschank ein mit Anblick der Spree und Blasorchester.
Ueberhaupt werden wir gemeinsame Wallfahrten
unternehmen, davon verspreche ich mir etwas.«
Ich behielt jedoch bei mir, was ich im Sinn habe. Ich
denke mir nämlich, wenn wir ein größerer Anhang zusammen
sind, die Krausen mit bei und Andere aus der Bekanntschaft
und wir gehen so herum, dann deichsle ich die Fortbewegung
unmerklich, daß wir ungeahnt an dem Pavillon des Lokal-Anzeigers
7
vorbeikommen, der sie wegen seiner Vornehmheit
anhält. Während sie ihn betrachten, löse ich mich von ihnen
ab und gehe die Treppe hinauf. Sie fragen dann: »Herrjeh,
Frau Buchholz, wo wollen Sie hin?«
Ich wende mich zu ihnen und sage: »Entschuldigen Sie
mich einen Momang, ich habe Geschäftliches: ich bin Presse.«
Ich verweile einen Augenblick auf der Treppe, schneide
ihnen eine gnädige Verbeugung zu und verschwinde redactionell.
Das Gesicht von der Krausen will ich sehen, wenn ich
so dastehe gewissermaßen als Schwiegermutter der siebenten
Großmacht — denn das ist und bleibt die Presse — in meinem
Strohgelben oder falls der Wetterbericht es räth, in meinem
neuen Marineblauen mit Crême. Sie soll merken, daß man
Gewicht hat, trotz ihres naslöcherigen Betragens, weil ihr
Mann Studirter ist und sie sich in jeder Gesellschaft das
Meiste dünkt. Wenn ich wieder erscheine, thu ich ganz wie
gewöhnlich mit Schlichtheit und Selbstverständlichkeit. Und
sie hat den Aerger intus. Den hat sie reichlich an mir verdient
mit früheren Pikanterien und Ueberhebung, sogar über
meinen Mann, der doch ganz anders einzubrocken hat als
ihr Mann mit den dicken griechischen Büchern und dem
dünnen Gehalt.
So verspreche ich mir viel Interessantes und Erhebendes
von der Ausstellung schon jetzt, wo sie aus dem Gröbsten
heraus den letzten Schmuck angelegt kriegt. Wie viel tausend
Hände sich regen, das muß man sehen, und Alle von dem
einen Gedanken beseelt, daß es schön wird.
Solcher Anblick erfreut, wo so viel Zerstören in der
Welt ist, so viel Hader und Häßliches. Hier soll es schön
werden. Und das wird's auch.
Allein blos die Natur. Der Berliner ist ja schon vergnügt,
wenn er einen Baum sieht. Desto grüner er ist, desto
besser, daß er ihm gefällt, und nun im Park die massenhaften
Anlagen mit Bäumen und Gebüschen, Teichen, Kanälen, Rasenflächen
und Beeten, wie wird ihm dies Alles zu Herzen sprechen.
Und in dem Waldartigen die verschlungenen Pfade und
die einzelnen Fachgebäude, freundlich und lustig, bunt bemalt
und fröhlich geziert, so im Grünen darin, als hätte der
Osterhase sie versteckt. Welche Ueberraschung, wenn man
immer wieder Neues entdeckt, wenn man beinahe vorbeigetrabt
8
wäre und nach und nach inne wird, wie groß und
bedeutend die Ausstellung wirklich ist, und wie riesig mannigfaltig.
Man müßte schon vier Beine haben und ein Dutzend
Augen.
Bald fängt es an zu blühen, der große Park wird zu
einem Garten, zu einem Paradies des Fleißes und der Arbeit.
Die Springbrunnen plätschern, die Maschinen wirbeln,
Fahnen flattern, Blumen duften, auf dem Gewässer wiegen
sich Gondeln, die Wilden lagern in Kairo, Alt-Berlin wird
lebendig. Musik erschallt, die Thore öffnen sich und jubelnd
ziehen wir ein, wir Alle miteinander aus Nah und Fern.
Und die Vögel sitzen auf den Zweigen und singen dazu.
Mein Karl fing aber noch einmal an: »Wilhelmine, es
werden Sachverständige über die Ausstellung schreiben — wo
bleibst Du?«
»Darüber beunruhige Dich nicht, viel eher fürchte zu
viel Sachkenntniß. Du willst wissen wie und weshalb? Das
bleibt vorläufig mein Geheimnis. Ich nenne Dir nur den
einen Namen: Ottilie.«
Er sah mich ganz perplex an der gute Karl.
»Du wirst es schon erfahren!«

9

Sommer-Aussichten.
Das merkwürdigste von allen Organen
des Menschen ist sein Gedächtniß. Ich
habe bis vor Kurzem keinen rechten Begriff
davon gehabt, aber ich stelle mir es
vor wie früher Bellachini's Hut — Nichts
ist darin und ohne daß man daraus klug
wird, kommt die erstaunungswürdigste
Füllung zum Vorschein: Laternen, Bälle,
Becher und zuletzt ein Wickelkind, das
einen Heiterkeitserfolg erntet. Oeffentliche
Wickelkinder sind immer von durchschlagender
Wirkung.
Ich muß mich an diesen Vergleich
halten, um mir zu erklären, wieso mein
Karl und ich mit einem Male in dem
Kopfe so sehr Vieler auftauchten, die sich
erinnern, daß wir sie gebeten haben, uns
zu besuchen, wenn der Weg sie nach
Berlin führte, und mit unserem Fremdenstübchen
vorlieb zu nehmen.
Da sind Verwandte von meinem Karl, die mit ihm blos
durch höchst zweifelhafte Urgroßmütter zusammenhängen und
es vor Gott und der Welt unverantwortlich finden, intimere
Beziehungen so lange vernachlässigt zu haben und ihre Saumseligkeit
nur dadurch tilgen können, daß sie während der Ausstellung
einige Tage bei uns weilen. Ablehnung meinerseits
ist nicht angebracht, denn keine Behandlung schmerzt den
10
Mann mehr, als wenn die Gattin seinen Angehörigen und
Freunden das Haus zum Eiskeller macht, und außerdem bin
ich durch meine Seitenlinien in gleiche Lage gedrängt. Als
damals die Tante in Bützow starb, habe ich mitgeerbt, und
Erben legt Verpflichtungen auf. Sollen die Leute sagen:
»den Draht schluckt die Buchholz, aber trotzdem sind die Familienbande
zerrissen.« — Nein!
Und dann die Geschäftsfreunde, theils mit, theils ohne
Hälften, die sich bei unserer Silberhochzeit förmlich fürstlich angestrengt
haben — die eine Servante ist geradezu ein Schützentempel
werthvollster Metallgaben — und Jeder, der sich
darin verewigte, ist zum Ehrenmitgliede unseres Hauses ernannt,
und die Ruppigkeit, die einmal zuerkannte Ehre hinterher
zu verweigern, haben wir nicht, selbst, wenn sich Einiges
auch blos als plattirt herausstellt. Beim Putzen schimmert
der Verdacht an den Kanten manchmal durch.
Bei jedem neuen Briefe mit dem Wunsche des Wiedersehens
und der jetzt erst möglichen Annahme der überaus
liebenswürdigen Einladung vom so und sovielten, Anno so
und so, sagen wir »Sehr schätzbar, aber wo unterbringen«?
Denn das Fremdenzimmer habe ich ursprünglich für Ottilie
bestimmt, die mit mir die Ausstellung studiren wird und ihr
ungeheures Wissen hineinträufelt, wo ich eine Zuthat nothwendig
erachte.
Sie ist die Tochter einer Halbcousine von mir und geprüfte
Lehrerin, womit sie sich ziemlich sorgenfrei ernährt,
soweit das Leibliche in Betracht kommt. Mit dem Geistigen
und den Nerven aber hat sie ihre Molesten. Wer versteht
sie in dem Nest? Vielleicht Einige, aber mit denen geht sie
unglücklicher Weise nicht um. Seit Jahren hat sie unbändige
Gelehrtheit in sich aufgespeichert, von der sie nicht erleichtert
wird, da sie nur in den Anfangsgründen unterrichtet, weshalb
die Nerven unter fortwährendem, wissenschaftlichem Druck
leiden. Sie schrieb mir, Berlin wäre der einzige Ort, mit
seinen Kapazitäten ihren Nerven aufzuhelfen, sie ginge zu
Grunde in der geistigen Einsamkeit und so kam ich auf den
Gedanken, sie als Ausstellungsvertraute heranzuziehen.
Mein Karl sagte: »Es ist mir lieb, Dich draußen nicht
allein zu wissen, denn ich kann Dich nicht so oft begleiten,
als Du wegen Deiner Berichte Dich abstrappeziren mußt. —
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Aber wenn Ottilie das Fremdenzimmer bezieht, wo bleiben
wir mit den anderen Gästen?«
»Karl,« sagte ich, »Ottilie schläft bei mir.«
»Und ich?« unterbrach er mich.
»Du wirst in der Fabrik eingerichtet.«
»Danke!« — —
»Danke nicht eher, als bis Du siehst, wie gemächlich Du
es dort haben wirst. Fabrik und Haus sind durch den
Zwischengang ein und dasselbe. Wollen wir die Kundschaft
vor den Kopf stoßen? Herr Ungermann hat sich angemeldet,
einer Deiner besten Abnehmer — er widmete die große
silberne Fruchtschale — durch und durch echt — und seine
Frau kommt mit. Und alle die Anderen! Wir müssen noch
die gute Stube als Logirzimmer hergeben. Wenn das
Mädchen auf dem Boden bivuakirt, läßt sich ein einzelnes
Wesen in ihrer Kammer beherbergen, wie zum Beispiel Tante
Lina. Kleinstädter sind anspruchslos.«
»Das kann ja reizend werden.«
»Karl, es muß sein.«
»Aber bedenke die Menge!«
»Es gehen viele Sardinen in eine Dose, wenn das Oel
nur gut ist, ich meine nämlich die Behandlung. Die Hôtels
sind bis unter das Dach übervölkert, also muß die Privatmildthätigkeit
eingreifen. Freilich die Krausen vermiethet für
Geld, ich glaube, sie nächtigt mit ihrem Mann in seinem
Schreibsecretair oder sonst, wo es unpassend ist, blos um
Beute zu machen. Kein Laster dünkt mich empörender, als
diese Art von Wucher, wo er doch die Jünglingsjahre ihr
geopfert hat und in seinen alten Tagen Bequemlichkeit beanspruchen
darf.«
»Mit mir wird auch nicht viel anders umgegangen.«
»Nicht, daß ich wüßte.«
»Kommandirst Du mich nicht aus meiner gewohnten
Behaglichkeit in die Fabrik?«
Ich lächelte. »Karl, wie kannst Du Dich mit Krause in
eine Kompanie reihen? Der Versuch allein schon ist verwerflich.
Was wir thun, geschieht aus Humanität für unsere
Kunden, und nicht aus Mammonsgier. Und das werden sie
bei den Herbstbestellungen beherzigen und nicht drücken, bis
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kaum noch das Maschinenfett verdient wird. Du sollst sehen,
wie die Ausstellung die Industrie hebt.«
Mein Karl legte ein Fremdenbesuchs-Conto an, worin
jeder Angemeldete seinen Termin bekam, um Platzzwistigkeiten
vorzubeugen. Dies war vom theoretischen Standpunkte so
glänzend einfach, daß wir hoffnungsfreudig in die Zukunft
blickten, aber vom praktischen wollten sie so ziemlich sämmtlich
Ende Mai eintreffen. Für die folgenden Monate hatten
sie Badeaufenthalt oder sonstige hygienische Abstecher vor.
Nun ging es an ein Umlegen und Aendern und Hin-
und Herschreiben, wobei Einige sogar mit Bemerkungen antworteten,
als fühlten sie sich in die Ecke gesetzt. Einer
schrieb, er hätte geplant, das Geschäftliche mit dem Ausstellungsaufenthalt
zu verbinden, schwerlich sei ihm dies im
August möglich. Er ließ mit vieler Noth bis Mitte Juli
herunter, aber dadurch klemmte es sich mit meines Mannes
Verwandten, dem Amtsrichter. Und Gerichtspersonen sind
leicht verletzt.
Mein Karl sah dies ein, aber er hatte die Hände mit
seinem Aufbau in der Ausstellung voll — geradezu überwältigend
mit einem Reichsadler aus schwarzen Socken nach
dem Grundriß eines akademisch vorgebildeten Künstlers —
und schob mir den Besuchsschlachtenplan zu. Ich saß und
bebrütete ihn mit stundenlangem Nachdenken, ohne daß jedoch
eine rettende Idee ausschlüpfte; immer uns stets war der
Amtsrichter im Wege.
Da wurde mir ganz unerwartet Hilfe in der Noth, obgleich
sie nicht so aussah, denn wenn die Bergfeldten, oder
jetzt nach ihrer Wiedervermählung Frau Butsch, auf der
Bildfläche erscheint, taucht irgend etwas Erbauliches im
Hintergrunde auf, woran sie weniger Schuld hat, als das
ihr im Kalender des Lebens angestrichene Pech. Sie ging
zweckmäßig gekleidet, wie es einer Weißbierwirthin vom Kietz
geziemt, wo Schleppen wegen der übergeschwappten Bodenfeuchtigkeit
nicht lokalgemäß sind. Sie arbeitet tüchtig in
Küche und Haushalt und da sie merken, daß sie etwas vor
sich bringen, fassen sie Beide unverdrossen an. Er zieht das
Bier alleine ab mit inclusive Flaschenspülen, wobei er manchmal
zwei Zentimeter äußere Rundung verliert. Weil das
gesund ist, freuen sie sich Beide so darüber, daß sie ihm ein
13
deutsches Belohnungs-Beefsteak von Suppentellerumfang brät
und er sich eine Selbstanerkennungs-Weiße gönnt oder auch
mehrere — genau weiß sie es nicht — worauf die alte Dickdität
überhaupt nicht weg gewesen zu sein scheint.
»Butschen,« sagte ich, als sie mir dies erzählte, »mästen
Sie Ihren Mann nur nicht auf den Schragen.« — »Es
schmeckt ihm immer so schön, da kann ich doch nicht davor?
Mein Seliger gab zuletzt das Essen auf und da war's alle.
Nee, Buchholzen, Hungerkuren sind ja hochmodern, aber sie
endigen ebenso tödtlich wie andere Millezin.«
Dies verdroß mich. Es ist anmaßend für beschränktere
Intelligenz, in Familien mit einem Sanitätsraths-Schwiegersohn,
herabsetzend über arzeneiliche Sachen zu sprechen.
»Liebe Butschen,« entgegnete ich daher klarstellend, »wenn
jemand an einer Behandlung stirbt, so liegt es stets an dem
Patienten. Oder haben Sie vielleicht bei Virchow gehabt,
daß Sie es besser wissen?«
»Nee,« erwiderte sie verlegen. »Hab' ich mich vielleicht
mit 'ner Ansicht vergallopirt? Wissen Sie, nehmen Sie's man
nicht übel, ich krieg die Zeitungen immer erst zwei Tage
später nach der Küche zu lesen, da bleib ich denn wohl ein
Bisken in der Bildung zurück. Und eben deshalb komm ich
zu Ihnen, Frau Buchholz, weil Butsch auch keine Zeit für
die Anzeigen hat, — wir haben nämlich ein Ausstellungszimmer
zu vermiethen —, vielleicht, daß Sie mal was erfahren
und uns rekommandiren?..«
»Butschen,« rief ich, »alleweil sind Sie auf Ihrem Terrain;
Medicin ist dagegen für Sie eine verrannte Sackgasse.
Zimmer? Zu Mitte Juli ganz sicher. Wie sind die Preise?«
— »Zwei Mark mit Frühstück« — »Ist das nicht etwas zu
lindenhaft für die Schulzendorferstraße?« — »Wir haben
Alles machen lassen, ich sage Ihnen, einzig. Die Stühle sind
im empirischen Stil, der jetzt mächtig aufkommt, wie der
Möbelfritze sagt.«
»Sind die Möbel bezahlt?«
Die Butschen jetzt; über das ganze Gesicht griente sie.
»Ja,« sagte sie. »Wir haben's sauer verdient,... groschenweis.«
— Sie seufzte tief auf. War es ein Freudenseufzer
oder mehr ein Aufstoßen alter Zeiten, wo sie doch, wenn sie
irgendwo hintraten, ausschließlich in Dalles und Rechnungen
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nicht anders kannten als schmerzhafte Papiere in unquittirtem
Zustande. Um mich zu überführen, fragte ich: »Und Ihnen
bekommt die Arbeit? Appetit gut? Schlaf gut? Augen gut?
Gedächtniß gut?« — »Nee,« sagte sie und seufzte noch einmal,
»das Gedächtniß ist schlecht, es erinnert mich immer an
so Vieles, was ich am besten vergessen möchte. Aber ich will
nicht klagen. Sie wissen ja selber, wie ich mehr Schatten
vom Leben gehabt habe, als Sonne.«
Ihr darzulegen, daß bei dieser Art Beleuchtung sehr
viel davon abhängt, welche Seite man der Menschheit zuwendet,
wäre nicht angebracht gewesen, denn einmal hatte
sie sich mit dem Zimmer von einer wohlthuenden Seite gezeigt
und hat zweitens im Laufe der Jahre viel Bloßstellendes
abgelegt. Die Krausen hingegen bleibt konstant unverändert,
obgleich in der Zoologie sich selbst Schlangen häuten.
Der bekannte Stein, der schon so vielen vom Herzen
gefallen ist, obgleich ihn noch niemand gesehen hat, war
herunter. Was sich auch ereignete, wenn auch Zwei zusammenstießen:
bei Butsch war für den Einen Unterkommen. Ich
klingelte der Dorette, um ihr dies mitzutheilen.
Ein wahres Glück, sagte ich zur Butschen, daß ich ein
so zuverlässiges Mädchen habe. Freilich, gleich nach der
Ausstellung macht sie Hochzeit. Ihr Bräutigam setzt sich als
selbstständiger Tapezier, und die Trinkgelder, die es inzwischen
giebt, bringt sie mit in die Ehe.
»Baar Geld kann man nie genug haben, zumal wenn
es Einem fehlt,« bemerkte die Butschen.
Ich wollte ihr sagen, daß sie soeben ziemlichen Kaff
geredet hätte, wenigstens in der feineren Gedankenfügung,
als die Dorette endlich antrat, aber nicht wie gewöhnt rasch
und adrett, sondern langsam in Trauergefolgeschritt mit rothgeweinten
Augen und zusammengewrungenem Thränentuch
in der Hand.
»Dorette?« rief ich. »Was giebt's denn? Was ist los?«
Keine Antwort.
»Ist Ihnen was Nahes gestorben?«
»Uh!«
»Wer denn, Dorette?«
Sie schüttelte verneinend mit dem Kopfe.
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»Was ist Ihnen denn?«
»So reden Sie doch.«
»Det — kann ick — Ihn'n — man blos — janz
alleene sagen,« schluchzte Dorette und drückte das Taschentuch
ins Gesicht.
Mit einem Takt, den sie früher nie hatte, stand die
Butschen auf und verabschiedete sich. »Sie können das
Zimmer jederzeit haben, wenn wir's nur vorher wissen.
Uebrigens hat Butsch seine Telephonnummer.«
Ich zurück zur Dorette. Was hat sie? Was soll ich
ohne sie anfangen mit dem Haus voller Gäste und ich selber
halb auf der Ausstellung und halb am Schreibtisch, nie voll
und ganz für den Hausstand? Eine neue Philippine anbändigen,
Berichte schreiben und dabei tadellose Wirthin
spielen — das übersteigt meine Fähigkeit. Mehr als seine
gewisse Anzahl Pferdekräfte hat der Mensch nicht.
Ich also mir schleunig die Philippine vorgebunden und
reinen Wein verlangt. Sie aber immer gedruckst und mit
Wortnoth behaftet, daß ich schon dicht daran war, fuchtig
zu werden, als mein Karl kam, der im Gegensatz zu ihrer
Zurückhaltung sich in einer Lebhaftigkeit erging, die mich erschreckte.
So hatte ich ihn noch nie schimpfen gehört.
Als ich nach und nach erfuhr, worum es sich handelte,
glaub' ich, hab' ich auch einige unsanfte Aeußerungen dazu
geliefert. War es denn erhört? Jetzt, wo die Ausstellung
eröffnet werden sollte, jeder Tag ausgenutzt werden mußte,
jetzt warfen die Tapeziere die Arbeit nieder, gerade jetzt,
wo sie die letzte Hand anzulegen hatten, damit alles die
Vollendungsfalten und Fransen kriegte und den rothen Callicot
um die Tische und was sonst zu bekleben, zu benageln und zu
betroddeln war.
Die Philippine weinte bei dieser Auseinandersetzung ganz
schrecklich.
»Ja, plärren Sie nur,« schnauzte mein Karl sie an.
»Ihr Bräutigam, der mir sein Wort gab, meinen Stand
rechtzeitig fertig zu stellen, ist auch mit ausgerückt. Ist das
der Dank, daß ich ihm versprach, ihm bei seiner Etablirung
behilflich zu sein? Jetzt läßt er mich sitzen.«
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»Mir ooch,« jammerte Dorette. »Er sagte, hier könnte
er sich von wejen Undank nich wieder blicken lassen.«
»Kann er auch nicht,« gab ich drauf.
»Und mit Heirathen is et nischt. Er setzt Alles bei den
Strike zu, ooch wat ick ihm erspart habe.«
»Warum begeht er denn solche Gemeinheit und verloddert
sein Glück, Ihr Glück?«
»Er wollte ja ooch nich, ihn hat das Herz jeblut't,
aber er mußte ja. Wat kann er alleene jejen die Uebermacht?
Er jinge für den Herrn und die Frau durch den
dicksten Kleister, aber er derf nich.«
»Wer macht mir nun den Adler für meinen Aufbau?«
»Was?« rief ich, »der ist noch nicht da? Die Hauptkrone
der ganzen Ausstellung?«
»Vorläufig nur im Grundriß.«
»Karl, her damit. Ich hole den Eiserkasten. Den
bringen wir selbst auch wohl noch zu Stande, der akademische
Plan ist ja vorhanden und die Socken dito.«
»Halt, Wilhelmine, nicht übereilt. Es sind Tapeziere
von auswärts verschrieben, die werden kommen. Was am
Eröffnungstage nicht fertig ist, wird's vierzehn Tage später
sein.«
»Das werde ich besonders in meinen Berichten hervorheben,
mein Karl. Du sollst nicht wegen des Streikes zu
kurz kommen. O nein. Ich werde öfter lobend auf Dich
hinweisen, und wenn er erst an seinem Platze prangt, auch
auf den Sockenadler. — Haben Sie sich man nicht so, Dorette,
Sie sehen, es geht auch ohne.«
»Ach, Madame, et is schon nich mehr scheen. Ick weeß
nich, wie't werden soll.«
»Dorette,« nahm ich strenge das Wort, »wir haben diesen
Sommer doppelte, ja dreifache Arbeit, dabei müssen Sie
durchaus auf dem Posten sein.«
»Det kann ick nich versprechen.«
»Dann gehen Sie besser.«
»Det wollt' ick ooch nich.«
»Was wollen Sie denn, Dorette?«
»Blos en Bisken Nachsicht mit meine traurije Lage.«
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»Das werde ich mir erst noch mal überlegen. Gehen
Sie an Ihre Arbeit.«
Sie ging.
»Karl,« sagte ich: »die Ausstellung, ein Mädchen, auf das
kein Verlaß, die Berichte, oder gar ein unerfahrenes neues,
das Haus voller Fremden, weißt Du, das sind Sommer-Aussichten,
die ich mir doch etwas anders gedacht hatte.«
»So denkt man immer,« sagte mein Karl.

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Angriffspläne.
Die Ausstellung war kaum eröffnet, als der Herr Redakteur
energisch die versprochenen Berichte verlangte; es
wäre doch reichlich Stoff vorhanden.
Als ob ich das bestritten hätte? So weit mir bewußt,
niemals. Also weshalb Vorwürfe? Womit soll ich anfangen
und an welchem Ende, da gerade, was sich zum Beginnen
eignet, noch nicht fertig ist? Liegt die Schuld etwa an mir?
Soll ich das Unterrichtswesen zuerst vornehmen? Was
sagen dann die Damen, die das Seidenkleiderige vorziehen
oder die Juwelenabtheilung? — Oder das chemische Gebäude?
Ich habe mir ein Buch mit bunten Ausstellungs-Ansichten
gekauft, darin steht: »Das Dach dieses Gebäudes hat
eine eigenthümlich gewellte Form: ein Rundbogen verläuft
in einen scharfen Kamm, als Andeutung gleichsam, daß der
Bau der Wissenschaften, deren Pflege sich hier zeigt, immer
höher und höher steigen werde.« — Wenn man dies nicht
wüßte, würde man dem Dache garnicht ansehen, was für
ein schlaues Dach es ist. Manche sagen, sie sähen es auch
schon, ich aber sehe mir es noch nicht darin, obgleich ich
wiederholt das Opernglas zu Hilfe nahm.
Ich holte Herrn Kriehberg darüber aus. Er meinte,
»die Wissenschaft als Rundbogen gedacht, wäre sehr geistreich.«
— »Dann rummelt ja die ganze Stadtbahn über
Wissenschaft weg,« entgegnete ich, »blos, daß in den Stadtbahnbögen,
soweit mir bekannt, mehr die Gurgel als der
Geist genährt wird.« — »Sie laufen auch nicht in scharfe
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Kämme aus,« bemerkte er, »darin liegt es. Der Kamm ist
das Individuelle. Hätte man mich gefragt, ich hätte ihn
dreifach so scharf konstruirt, wenn nicht noch schärfer, um die
eminente Höhe der Wissenschaft durch architektonische Lineamente
auf das Allerschärfste zum Ausdruck zu bringen.«
»Schade, daß Sie es nicht waren, Herr Kriehberg,«
sagte ich, »Sie hätten es gewiß für Jedermann aus dem
Volke faßbar hingemauert.« — »Das versteht sich,« versicherte
er, und man sah ihm an, er hätte es.
Wenn nun ein Gebäude schon in seinem Aeußeren so
viel Unverständliches birgt, wie wird es dann erst drinnen
sein, wo sie die gesammte Wissenschaft losgelassen haben?
Ich fürchte, mit Frauen-Emancipation allein bewältigt man
die innere Bedeutung nicht, wenigstens nicht in einigen Stippvisiten,
und darum halte ich die Chemie mit den daran
hängenden Gruppen als Erstes nicht recht angrifflich. Vielleicht
wimmele ich in meine späteren Berichte hin und wieder
einen Atzen Chemisches, aber zum Ausspiel ist es mir zu riskant.
Auch hoffe ich Beistand von Ottilie, denn die ist auf
Sauerstoff, Spectralismus, Galvanistik und alle anderen neueren
Bildungsmittel examinirt worden. Nur Muth.
Wenn Ottilie blos erst käme. Beschreibe ich Sachen ohne
sie, will sie natürlich hinterher sich auch daran belehren, und
ich versäume die Zeit, neue Eindrücke aufzusaugen während
der Wiederholung des bereits durch die Tinte Gezogenen.
Aber sie kann noch nicht, ihre Schneiderin hat sie auf das
Sündhafteste vernachlässigt, indem sie zwischendurch ein Brautkleid
zurecht prünte. Hatte das denn solche Eile? Ich kenne die
Leute nicht und will auch keine Steine schleudern, aber den
Vorwurf der Rücksichtslosigkeit kann ich ihnen nicht ersparen;
ihretwegen muß ich mich vorläufig mit Ottiliens Photographie
behelfen.
Sie sieht in Cabinetgröße recht jugendlich aus, aber wie
ist sie frühmorgens ohne Retouche? Wenn es keine schwarze
Tusche gäbe, wie Viele da wohl ohne Augenbrauen in den
Albümern stächen?
Mein Karl fand sie passabel. — »Mehr nicht, Karl?«
— »Eher weniger« — »Karl, sie gehört zu meiner
Verwandschaft.« — »Sie ist Dir aber nicht im Geringsten
ähnlich.« — »Das wollt' ich mir auch ausgebeten haben.
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Nein, Karl, solche spitze Züge habe ich nie besessen, selbst
nicht in den Heranwachsjahren; und die Augen reißt sie
etwas gewaltsam groß.« — »Dafür zieht sie den Mund um
so kleiner.« — »Ich vermuthe, sie kommt bedeutend unähnlicher
an, als sie aussieht.« — »Bezweifle ich keinen Augenblick.«
— »Karl, Gelehrte sind nie bildschön, also Gelehrtinnen
erst recht nicht; das heißt ihre Figur ist nicht übel.«
— »Zeig' noch mal her das Bild.« — »Nein, Du hast genug
gesehen, Ihr Männer gebt viel zu viel auf den Wuchs und
bedenkt nie, wie viel Fischbein dabei ist. In dieser Beziehung
kann ich Professor Röntgen nicht hoch genug preisen; der
dreht Euch endlich ein durchschauendes Licht auf, und er
nennt es auch sehr richtig X-Strahlen, weil alle X-Beine
dadurch ersichtlich werden.« — »Hat sie welche?« — »Wer?«
— »Die Ottilie.« — »Karl, selbst als Scherz betrübt diese
Frage mich tief. Ich habe über Ottilien zu wachen, wie
eine Mutter über dem Hühnchen aus dem Ei...« — »Schon
mehr Henne,« lachte mein Karl dazwischen. — »Wer?« fuhr
ich auf, »wer ist die Henne?« — »Nun, die Ottilie,« lachte
er weiter, »sie hat wirklich etwas hühnerhaftes in ihrer Physiognomie.«
— »Photographieen treffen manchmal daneben,«
wies ich ihn ab. Ueber meine Verwandtschaft spectakeln erlaube
ich nicht.
Wäre Ottilie, was man unter schön versteht, hätte ich
sie bei den lieben Ihrigen gelassen oder nur auf flüchtigen
Besuch gebeten. Meine beiden Töchter würden es krumm
nehmen, obgleich sie längst ihre Männer haben, wenn plötzlich
eine entfernte Cousine Aufmerksamkeit in den Kreisen
auf sich lenkt, die sie bis zum Jetztpunkt beherrschten, und
wenn die Männer auch ehelich gut gezogen sind, wie leicht
wird ein Wort, eine nuttige Höflichkeit oder eine unbedachte
Aufmerksamkeit albern ausgedeutet und die Feuerwehr kann
geholt werden. Ich sage deshalb: Unschönheit hat so ihre
Vortheile.
Und wenn eine gelehrt dazu gilt und studirt habend,
vor der rücken die Jünglinge aus, zumal solche, die das
ihrige schon vergaßen, eh' sie es lernten. Dagegen ernste
Männer werfen sich heran und es sprießen Gespräche auf,
die den Geist erheben, ohne daß man Bange vor leichtsinnigen
Anknüpfungen zu haben braucht und kann Worte
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von höherem Fluge fallen lassen, oder unbesorgt Musike
hören, oder einen kleinen Nick machen, je nach den nächtlichen
Wärmegraden und den Anstrengungen des Tages.
Die Abende draußen versprechen überirdische Befriedigung.
Nun werde ich sie mit Ottilien genießen. Wäre
sie blendend, käme es umgekehrt; sie bildete dann die elektrische
Lampe, von Dämmerungs-Verehrern umschwärmt, und
ich den Laternenpfahl dazu. Dafür dankt Wilhelmine jedoch
ergebenst.
Wenn ich nun auch noch nicht genau weiß, welchen
Zipfel der Ausstellung ich für meine Berichte anschneide, so
weiß ich doch bereits, wohin ich die mir überantworteten
Fremden geleite und zunächst Erika, um ihr das Schönste zu
zeigen, das ich bis jetzt entdeckt habe und zwar, wie bei
allen Forschungsreisen Mode ist, durch den Zufall.
Wie es im Leben überhaupt ohne Zufall aussähe, durch
den noch jedesmal das Weltbewegenste erfunden wurde, wie
z. B. der Theekessel, auf den sich die ganze Dampfmaschinenkraft
stützt, oder der Telegraph durch Froschkeulen, obgleich
mir dies nicht recht klar ist, weil man doch im Allgemeinen
mit Padde das Niedrige der Schöpfung bezeichnet. Auch
steht nie dabei, wie es gemacht wurde und wie der eigentliche
Kniff ist. Dies muß Ottilie glatt legen; sie bringt ihre
Bücher mit.
Mein Zufall äußerte sich einfach, indem ich dem Baumeister
Herrn Bauer begegne und ihn frage »Herrjeh! Sie
hier?«, obgleich seine Anwesenheit auf dem Treptower Gelände
eine Sache von größter Natürlichkeit war. Aber Gespräche
und Kegelpartieen werden meistens mit Pudeln eröffnet.
Um den Schnitzer zu übertünchen, frage ich weiter:
»Mit welchem Stil werden Sie uns überraschen? Es ist ja
Vieles da, vor dem man Kopf stehen möchte... wie Onkel
Fritz sagt.«
»Als wenn ich ihn reden hörte,« lächelte er, indem er
mich betrachtete, wie ich mich wohl in dieser Stellung ausnehmen
würde. »Interessirt Sie mein Bau, treten Sie bitte
näher.«
Bei diesen Worten wies er auf das große Kaiserschiff.
»Nanu?« entgegnete ich, »seit wann legen Sie sich
auf Marine-Architektur?« — »In Berlin machen wir Alles.
22
Freilich ist dies Schiff nur ein Modell, aber jedes Stück ist
so gearbeitet, daß es nach der Ausstellung direct einem im
Bau begriffenen Oceandampfer des Norddeutschen Lloyd eingefügt
werden kann. In den Größenverhältnissen und seiner
Einrichtung ist es im Inneren wie Aeußeren die getreue
Wiedergabe der prachtvollen Riesendampfer Bremens und
Hamburgs, auf denen die Engländer und Amerikaner lieber
fahren als auf ihren eigenen.«
»Ich bin ungemein für Schiffe,« erwiderte ich. »Auf
meiner Fahrt nach dem Orient hab' ich sie kennen gelernt,
englische, französische und auch die Dampfer des Oesterreichischen
Lloyds, an die ich nicht mit Wohlgefallen zurückdenke,
denn sie sind das undeutscheste, was Oesterreich liefert.
In Port Said lag der Bremer Dampfer >Baiern<, den wir
besuchten. Sehen Sie, Herr Baumeister, der schlug die anderen
Schwimmanstalten gewaltig, auf denen ich das Mittelmeer
durchlavirt hatte, und wenn mich einmal überseeisch gelüstet,
dann nur auf unsern norddeutschen Fahrzeugen. Ich hab'
doch lieber deutsche Bretter unter meinen Füßen und die
deutsche Flagge über meinem Haupte, als für mein Geld
geduldet zwischen Fremden mit fremder Sprache, die nicht
nöthig haben mir zu antworten, wenn sie mich nicht verstehen
wollen. Diese Art nationaler Dicknäsigkeit hab' ich kennen
gelernt. Ich bin für eigene Schiffe. Und das Geld bleibt
im Lande.«
So sprechend traten wir ein.
Der Kaiserdampfer ist nur die Hälfte eines Oceandampfers,
aber welch' ein Kasten! Hier bekommt man den
Begriff von einem schwimmenden Hause oder richtiger von
einem Wasser-Hôtel.
Der vordere Theil ist als nautische Sammlung ausgestattet,
mehr für Admirale und Capitaine und seefahrende
Fachleute, die daran stoßende Küche wendet sich dagegen an
das Allgemeinverständniß. Denn essen wollen sie Alle, selbst
die Gelehrtesten, die mitunter kiesätiger sind, als man ihnen
zutraut. Ich kenne solche.
Die Propertät in der Küche sucht ihres Gleichen und
dazu die listigen Vorkehrungen, daß nichts überläuft, wenn
das Schiff auf hoher See schaukelt. Nachher liegen die
Setzeier in der Asche und es riecht verbrannt in den Salons,
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wo die Möbel eine Pracht entfalten, daß die Herrschaften
immer erst um Entschuldigung bitten, ehe sie sich niederlassen.
Die Treppen sind mit Läufern, das Holzgetäfel ist auf
das Zarteste geschnitzt und weiß lackirt, die blanken Messinggeländer
sind bildgießerisch höchst kostbar, aber doch nichts
im Vergleich mit den Kaiserlichen Gemächern, die nicht blos
so heißen, sondern es wirklich sind.
Wenn der Kaiser die Ausstellung besucht, ist das Bremer
Schiff sein Absteigequartier, wo ein Speisesaal, ein Besprechungszimmer
und ein Rauchgemach bereit stehen und
für die Kaiserin Zimmer und Salons, deren Deckengemälde
von so lieblicher Schönheit sind, daß sie eine Weide für die
verwöhntesten Augen bilden.
Wenn die Majestäten abwesend sind, kann man diese
Herrlichkeiten betrachten, ebenso die vollkommen eingerichteten
Kabinen erster und zweiter Klasse, die Damen-, Speise- und
Rauchzimmer, Capitainskabine, Arztwohnung mit Apotheke,
Lazareth, Badestuben und weiß dann, wie ein Personendampfer
aussieht.
Klettert man höher auf das Promenadendeck und noch
höher, wo der Capitain steht, auf die Commandobrücke, dann
ist das Schönste erreicht, was ich Erika zeigen will.
Das Schiff ist so hoch wie ein vierstöckiges Haus und
liegt auf dem Lande, wenn auch mit der Spitze in die Spree
hineingebaut. Von hier oben nun hat man eine Aussicht,
die nicht zu beschreiben ist. Nach Westen zu das große,
weite Berlin mit unzähligen Fabrikschornsteinen, die qualmen
und rahmen, und wenn die Sonne scheint, blitzt es ab und
zu goldigglänzend von einer Kuppel oder der Siegessäule
oder was sonst auf blank gearbeitet ist. Nach Rechts,
nach der Eierhäuschengegend und Sadowa, ist grünes Gefilde
mit Waldbegrenzung, eine echte Spreelandschaft, bildschön für
Einheimische, und für Ausheimische eine freundliche Bitte,
die Berliner Umgegend nicht blos zu lesen und zu höhnen,
sondern zu betrachten und der Wahrheit die Ehre zu geben.
Und nun erst die Spree. Die Südsee ist breiter, das
gebe ich zu, und die Elbe auch und, wie klein die Schiffe
sind, das mißt man sofort durch Vergleiche mit dem Kaiserschiff
ab, aber dies Leben, dies Gondeln, diese Rührigkeit zur
Ausstellungszeit, das Alles ist die Märchenhaftigkeit der Wirklichkeit.
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Wenn die Blätter von den Bäumen fallen, schwindet
auch dies lebendiges Bild aus dem Leben der Großstadt. Und
kommt nie wieder.
Deshalb soll und muß Erika hinauf auf die Commandobrücke
des Kaiserschiffes und ich will nichts weiter betrachten
als ihre lieben blauen Augen, die All dies Schöne auftrinken
und leuchten wie Kinderaugen am Weihnachtsfest. Sie
spricht dann nicht viel, weil ihre Seele sammelt, aber im
Winter, nach Jahr und Tag, bei rechter Gelegenheit, fängt
sie davon an und hilft unserm Erinnern auf, bis wir wieder
vor uns sehen, was uns Freude machte. Sie erzählt keine
längere Feuilletons, o nein. Ein kleiner Satz, oft nur ein
Wort und fertig ist die Laube, als säße man darin und hörte
die Nachtigall singen. Die kleine Wilhelmine muß natürlich
mit. Heut zu Tage kann die früheste Jugend nicht genug
anschauen; es ist mehr Wissen vorhanden, als das Leben
lang ist.
Onkel Fritz dagegen darf unter keinen Umständen mit
hinauf. Wenn der dort oben steht und hat die Gegend
ausgekundschaftet, er dann gerufen: »Herrjeh, ist das gegenüber
nicht Stralau? Und das links... das ist ja Tübbecke!«
Und dann die Hände als Sprachrohr an den Mund und
geschrieen:
»Kellneer, einmal grünen Aal!« — Nein, er bleibt
irgendwo an einem näßlichen Orte; es giebt ja vorzügliche
Weißen draußen. Außerdem hänge ich ihm Ottilie an die
Rockschöße.
Wie freue ich mich auf die kommende Zeit.

25

Ein Damen-Ausflug.
Ich hatte der Bergfeldten — merkwürdig, daß ich sie
immer wieder nach ihrem ersten Manne nenne, den sie doch
eine Reihe von Jahren hinter sich hat — also richtiger der
Frau Butsch versprochen, sie baldigst nach der Eröffnung mit
nach der Ausstellung zu nehmen und ihr durch meine allmählich
erworbene Platz-Plankenntniß in kürzester Zeit einen
Ueberblick beizubringen, daß sie zu Hause Rechenschaft ablegen
kann. Denn dies ist die Hauptsache. Alle Kunden fragen
in der Weißbierstube, wie es sich mit der Ausstellung verhält
und Herr Butsch hat nichts gesehen und sie noch weniger
und die Gäste betrachten das Lokal nachgerade als ein
Nebengeschäft der Idioten-Anstalt. Wer nichts von der
Ausstellung zu sagen weiß, gilt allmählich für unbetheiligt an
der Civilisation.
Weil sie nun mir so freundlich mit dem Zimmer aushelfen
will, bin ich ihr auch gern wieder gefällig und schrieb
ihr auf einer Fahrrad-Karte, daß ich sie zu einem gemüthlichen
Nachmittag erwarte.
Sie hat sich in der letzten Zeit bedeutend gebessert. Verhältnisse
ändern zum Guten oder zum Schlimmen, je nachdem
der Mensch hineingesetzt wird. Herr Butsch läßt sich wenig
gefallen. Wenn man so seine Statur betrachtet, da muß sie
klein beigeben, wogegen Herr Bergfeldt weder die Beamtenluft
vertragen konnte noch die häuslichen Zustände. Den
tödteten die Sorgen, ehe er starb.
Wenn man mit Leuten im Leben Freud und Leid durchgemacht
hat, Erzürnen und Vertragen und, was die Zeiten
26
so brachten, steht man sich näher, als man oberflächlich zugiebt.
Das jüngere Geschlecht wächst heran, dem Zukunftslichte
zu und läßt uns Aelteren in dem Schatten der Vergangenheit.
Aber wir sehen auch hinaus in das Helle, blos
mit dem Unterschied, daß wir einen ganzen Kasten voll Erfahrungen
haben: Früchte des Lebens, die wir öfter anbieten,
als sie von der klügeren Jugend abgenommen werden. Aber
man knabbert selbst daran und freut sich der Zeiten, als man
sie sammelte.
So dachte ich mit der Butschen den Ausstellungsnachmittag
zu verbringen: das Neuere und Neueste bestaunen,
Meinungen darüber austauschen, obgleich immer nur zwei
Ansichten sein können, meine oder die verkehrte, zwischendurch
den Gastwirthen etwas zu verdienen geben und während des
Ausruhens vergangene Erlebnisse aufwärmen und in aller
Behaglichkeit vieräugig Plaudern, mit einem Worte von seinem
Dasein etwas haben. Aber in der Butschen waltet immer
noch die Bergfeldten.
Konnte sie denn nicht alleine kommen? Was mußte sie
die Fräulein Pohlenz mitbringen, die ich stets freiwillig übersehe,
sobald sie mir begegnet, da ich sie drei Schritt vom
Leibe am liebsten habe. Und wenn sie sich an die Butschen
anklettet, muß die soviel Mumm haben, daß sie sagt: Fräulein
Pohlenz, ich glaube nicht, daß Sie heute angebrachter
Maaßen sind oder wie sie sonst abwinkt. Gegen gute
Freunde kann man ja deutlicher sein, als gegen Fremde.
Ich durfte deshalb mein Mißfallen nicht in passende
Worte kleiden, sondern mußte die Pohlenz mit übernehmen,
wie sie da war: aus dem ersten Jugendtraume längst erwacht,
aber immer noch sich gehabt, wie eben aus der Wiege.
Und das kann ich nicht ausstehen. Wer dumm geboren ist,
den entschuldigt man mit der Vorsehung, die wohl ihre
Gründe gehabt haben mag, aber wer sich dumm stellt, der
hält Andere für noch dümmer, und das ist eine Beleidigung.
»Sie hat so'n Gieper auf die Ausstellung,« sagte die
Butsch, »daß ich sie endlich mitnahm. Und als einzelnes
Mädchen allein unter die Menschenmenge lassen, das kann
man auch nicht gut verantworten.«
»Ich glaube, Sie bilden sich was ein, Fräulein Pohlenz,«
bemerkte ich.
27
»Ach nein,« sagte die mit niedergeschlagenem Blick
»aber draußen im schlesischen Busch ist doch schon mancherlei
passirt....« Weiter kam sie nicht, sondern hustete den
Schluß ihrer Rede.
»Fräulein Pohlenz,« entgegnete ich, »der schlesische Busch
hat mit der Ausstellung keine Gemeinschaft, alle Penn- und
sonstigen Brüder sind durch Drahtgitter polizeidicht abgesperrt
und die vollziehende Straßengewalt sorgt zu Pferde für
strengste Draußenverbleibung sämmtlicher sogenannter Elemente.
Also was kann da groß an Ihnen verdorben
werden?«
Sie suchte zu erröthen und hustete.
»Und aus den Schüchternheits-Jahren ist sie,« stand die
Butschen mir bei. »Wenn ihr jedoch ja was geschieht, dann
braucht sie blos ordentlich schreien.«
»Ganz recht,« bediente ich in derselben Farbe, »die
Kraft der Schwachen liegt im Schreien.« — »Damit wehr'
ich mich auch immer gegen die Mause,« sagte die Butschen.
Weil in meiner Absicht lag, den Kaffee draußen zu
nehmen, bot ich den Damen ein Gläschen Maltonsherry, der
ihnen derart mundete, daß sie sich zur zweiten Auflage so
gut wie gar nicht nöthigen ließen, dabei einen Posten von
Kokusnußmakronen, selbstgebackene Probe für den Sommerbesuch.
Sie sollen billiger sein als aus Mandeln, aber ich
vermuthe, die Berechnung bezieht sich mehr auf die Breitengrade,
wo die Nüsse umsonst wachsen. Von Geschmack fanden
sie Beifall.
»Ist Ihnen ein Krümel auf das unrechte Stimmband
gerathen?« fragte ich die Pohlenz, die, wie ich wiederholt
beobachtete, einen sehr aufbegehrenden Kehlkopf hatte, »oder
haben Sie sich erkältet?«
»Ein ganz klein wenig,« gab sie zu.
»Da müssen Sie vorsichtig sein. Vernachlässigte Erkältungen
zersetzen oft die Athmungsorgane.«
»Meinen Sie?«
»Ich nicht. Aber die medicinische Wissenschaft. Mein
Schwiegersohn, der Sanitätsrath, sagte vor ein paar Tagen
noch, es sei ein gefährliches Lungenwetter. Wer Symptome
weg hätte, bliebe am besten im Zimmer und hielte sich warm.
Wie lange husten Sie schon?«
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Die Pohlenz wurde ängstlich und besann sich.
»So,« dachte ich, »noch ein paar Rathschläge und sie
ist so vernünftig und zoppt rückwärts nach Hause; dann
hätten die Butschen und ich unseren Nachmittag reizend für
uns.« Eben wollt' ich von einer Frau erzählen, die sich
auch nicht warm gehalten und innerhalb dreier Tage ihren
trostlosen Gatten zum Wittwer gemacht hatte, als die
Butschen dazwischen fuhr: »Mir sagten mal der Herr
Sanitätsrath, beim Husten nur ja nicht die frische Luft abgewöhnen.«
»Bei Ihnen, halb auf dem Lande, trifft das zu,« entgegnete
ich, »aber hier bei uns doch nicht.«
»Die Pohlenz wohnt ja in unserer Gegend, also muß
sie an die Luft.«
»Dann wollen wir auch nicht länger zögern,« entschied
ich und blickte die Butschen mit tadelndem Kopfschütteln an,
das sie natürlich nicht begriff. Hätte sie sonst gesagt: »Ich
halt es auch nicht für schlimm. Husten reinigt.«
Wir trabten nach dem Alexanderplatz-Bahnhof, kauften
am Schalter mit dem Fahrschein gleich unsern Ausstellungseinlaßzettel
und wegen des Sonnabends war ganz commodes
Mitkommen auf der Stadtbahn. Sonntags wird es jedoch
engbrüstiger zugehen.
Wir stiegen Bahnhof Treptow aus, gingen die Chaussee
lang und näherten uns dem Haupteingange. Die Pohlenz,
naiv wie immer, wollte durch das Central-Verwaltungsgebäude
eindringen, indem sie es für ein Thorhaus hielt.
»Meine Liebe,« belehrte ich sie: »Das Publikum theilt sich
rechts und links und geht durch die Kassen-Kontrole an den
Seiten. Auf dem Rückwege dürfen Sie durch die Mitte,
nachdem Sie sich durch die Drehzähler gequetscht haben, die
jedoch ohne Nummerwerk sind.« — Dies bewunderte die
Pohlenzen sowohl, wie die Butschen, aber mich mit ihnen
auf das statistische Gebiet zu begeben, schien unangebracht.
Wo wenig Verstand ist, muß man ihn für wichtigere Aufgaben
schonen.
Als unsere Eintrittsscheine richtig befunden waren,
schlüpften wir auf das Ausstellungsgelände. Die Pohlenz
wollte ihren bis dahin verhaltenen Ueberraschungsgefühlen
Ausdruck verleihen, aber, da es so eingerichtet ist, daß man
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anfänglich nichts sieht, machte sie ein Gesicht, wie Eine die
ein bischen mager zu Weihnachten bekommen hat. Die
Bergfeldten war inzwischen in Ablehnungskampf mit einem
von den officiellen Jünglingen gerathen, die das verbriefte
Recht haben, die Tagesprogramme feil zu halten. Da die
Pohlenzen sofort in dieselbe Verlegenheit gesetzt wurde, war
ich neugierig, ob sich wohl eine von den Beiden so anständig
zeigte, eins zu kaufen. Aber nein.
Wenn sie jedoch dachten, ich würde den Groschen in's
Allgemeine Beste werfen, täuschten sie sich gründlich und deshalb
winkte ich dito Schippen.
Wir gingen nun rechts die künstliche Anhöhe hinauf,
die, genau besehen, eine Brücke über die elektrische Eisenbahn
darstellt, und betraten nach und nach die Hauptbetrachtungswürdigkeit,
die Anlagen zwischen dem Neuen See und dem
Industriegebäude. »Meine Damen,« sagte ich, »sehen Sie
sich erst um, wenn ich vernehmlich rufe: Nu! So verfahren
gewiefte Reisende, wenn's wo schön ist.« — »Ich schiele
nicht,« antwortete die Butschen, »hingegen für die Pohlenzen
übernehme ich keine Garantie« — »Woso?« begehrte die
auf — »Sie kann mit zugemachten Augenlidern um die Ecke
glupen,« setzte die Butschen hinzu, »und sieht mehrstens gerade
stets, was sie nicht sehen soll. Woher weiß sie sonst Alles?«
Um Zwistigkeit zu verhüten, schritt ich rasch bis zum
Bismarckstandbild und machte Halt. »Schlagen Sie Ihre
Sehorgane auf,« befahl ich, »und begrüßen Sie dieses Bildniß
aus Erz. Hier hat Berlin seinem Ehrenbürger ein
Monument gesetzt, das der Ausstellung zum Ruhm gereicht.
Wo der große Mann gewirkt hat, ist noch alles zu Heil und
Segen ausgefallen.« Ich wollte einige fernere Worte hinzufügen,
aber ein Programm verkaufender Jüngling litt es
nicht. — »Danke, wir sind schon versehen,« verscheuchte die
Pohlenz ihn. Wie Eine angesichts Bismarckens so lügen
kann, ist mir unbegreiflich und mindestens das Zeichen eines
sehr fleckigen Charakters.
Nach etlichen Schritten rief ich: »Nu!«
Die Wirkung war, wie ich gedacht.
Die Meeresfläche, im Hintergrunde mit dem weißen
Wasserthurm und dem Hauptrestaurant, vorne die Blumengefilde,
die Obelisken und dazu Musik aus den Pavillons,
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das war wirklich wunderschön. Und dann durch einfache
Umdrehung des menschlichen Körpers der Blick auf das
Industriegebäude mit der Kuppel und den Thürmen, deren
Aluminiumkappen in der Sonne glänzten wie nagelneue
Suppentöpfe und die Orangenbäume auf dem Dache des Vorbaues,
der in zwei Wandelhallen ausläuft, die das Ganze
in übersichtlicher gerader Linie durchschneiden, dies wirkte
verstummend auf die Beiden, die derartiges noch nie in ihrem
Leben gesehen hatten. Die Pohlenz that so überwältigt,
daß sie auf einen der vielen Stühle sank, die einladend an
den Ufern des Sees entlang stehen.
Kaum jedoch war sie gesunken, als flugs ein Knabe
nahte, der zehn Pfennige Stuhlmiethe verlangte. Sie sich
gesträubt. Es half ihr aber nichts und so kaufte sie
für einen Nickel Sitzgerechtigkeit, die für den ganzen Nachmittag
gilt.
Dies war die Strafe dafür, daß sie kein Programm
gekauft hatte, worin zu lesen steht, was per naß ist, und was
Auslagen verursacht.
Als ich nun für angebracht hielt, den Kaffee zu nehmen,
wollte die Pohlenz für ihre zehn Pfennige weiter sitzen.
»Wie Ihnen beliebt,« bemerkte ich, »aber einmal getrennt ist
Wiederfinden ein Glückszufall. Kommen Sie, Butschen, wir
gehen in's Café Bauer.«
Dieses erreichten wir unangefochten und nachdem wir
einen Tisch mit bester Mitten-Aussicht gefunden hatten, bestellten
wir dreimal Melange. Wir nennen es sonst Kaffee
mit Milch, aber die Oesterreicher kennen es nicht anders und
den Dreibund-Gebräuchen muß man sich fügen.
Der Kellner brachte das Verlangte. »Auch Gebäck
gefällig?« fragte er und stellte einen Korb mit feiner Backwaare
auf den Tisch.
»Nee,« rief die Butschen, »nehmen Sie den man wieder
mit. Wir haben selber.« Und ehe ich mich von meinem
Schreck erholen konnte, sagte sie zur Pohlenz: »Nu man
heraus mit den Gesangbüchern, ich hab' Hunger.«
Die Pohlenz denn auch ihre Handtasche aufgemacht
und einen Packen Klappstullen hervorgeholt, als wäre
Hungersnoth in Sicht. »Wollen Sie mit Wurst oder mit
Käse?« bot die Pohlenz mir an. — Ich dankte. — »Es ist
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delinquente Schlackwurst und prachtvoll durcher Ramadour.«
— »Danke,« lehnte ich nochmals ab, »den hab' ich bereits
gerochen.«
War dies glaublich? In dem feinen Café, wo die
Kellner herumlaufen wie die Ballherren während der Tanzpausen
und der Zahlkellner es mit jedem Bräutigam aus
der höchsten Noblesse aufnimmt, entblödeten die beiden
Weiber sich nicht, den Eßkober zu entfalten, als machten sie
eine Landpartie nach der Wuhlheide. Und die spietschen
Physiognomieen von den Wienern. Und meine Angst, daß
Bekannte kämen. Ich fürchte doch, die Butschen wird in der
Weißbierstube ihres Mannes nach und nach gemischt. Von
der Pohlenz sage ich nur: Kein Mensch kann über seinen
Horizont.
Ich zahlte ohne Ansehung des Kellners und that, als
ob ich die Bemerkung der Pohlenz über die kleinen Tassen
garnicht hörte. Ob sie Trinkgeld gegeben haben, weiß ich
nicht, mir war blos, als ob das »Hab' die Ehr'!« den Beiklang
eines Hinauscompliments hatte.
Die Butschen wollte hierauf in das Hauptgebäude, was
mir jedoch insofern nicht recht war, als meines Karls Aufbau
noch der letzten Krönung mit dem Adler aus echtschwarzen
Socken ermangelte, allein, was vermochte ich gegen
zwei Stimmen, da die Pohlenz auf der Butschen Seite stand,
innig durch die Klappstullen verschwestert? Ich folgte
willenlos.

Vor dem Portal blieb die Butschen stehen. »Herrjeh,«
rief sie, »das ist ja eine ganze neue Mode: da raucht Einer
aus zwei Cigarrenspitzen auf einmal.« — »Wo denn?« —
»Da über dem Thürbogen der Kopp.«
32
»Nein,« erwiderte ich, nachdem ich das Bildhauerische
ergründet hatte, »das bezieht sich nicht auf Tabak, das ist der
Ruhm, der bläst auf der sogenannten Fama, wie die Trompeten
im Alterthum hießen.« — »Da gehört aber eine tüchtige
Puste dazu,« sagte die Pohlenz. — »In früheren Zeiten
waren die Lungen kräftiger,« gab ich ihr zu verstehen, »aber
man schonte sich auch mehr bei Erkältungen und blieb zu
Hause.«
Wir traten ein, in der Vorhalle den Löwenbrunnen zu
besichtigen, wobei wir von einem Blumenmädchen anmuthig
unterbrochen wurden. Sie war weiß gekleidet mit einer
Achselschleife in den deutschen Farben, hatte aber kein Glück
mit uns. Auch einer schwarz gekleideten erging es ebenso.
Eine dritte, die dies sah, wagte sich nicht erst heran. Mir
war auch nicht blumenkauferig.
Mein Karl hält abgeschnittenen Blumenhandel ebenfalls
für unnöthig. Warum? Man ist eben aus den sogenannten
Galanteriejahren heraus.
Die Pohlenzen strebte vorwärts: sie hätte so viel von
dem Deckengemälde in der Kuppelhalle gelesen, das müßte
sie betrachten. »Gewiß,« willigte ich ein, »Gemälde bilden.«
— »Man sagt ja auch, Kinder wie die Bilder,« setzte die
Butschen hinzu. Was sie damit meinte, war mir unerfindlich
und wird wohl für immer räthselhaft bleiben, denn, gerade
als ich nachfragen wollte, stieß die Pohlenz einen Mordsschrei
aus und legte ihre linke Baumwollen-Handschuhhand
wie eine Scheuklappe an die Stirn.
»Was ist Ihnen?« fragte ich besorgt. — »Haben Sie
sich den Fuß verknaxt?« fragte die Butschen. — »Nein, nein,«
ächzte die Pohlenz, »Gott nein. Nein, nein, ich kann das
nicht sehen...« — »Was nicht?« — »O nein... nein...
die Puppen.« — »Was für...« — Wir hielten nun auch
einen Rundblick und entdeckten an einer Ecke der Halle ein
paar Museumsriesen in der bekannten klassischen Auffassung,
bei der das Stoffliche vernachlässigt wird, weil doch die
Marmorfiguren aus dem sonnigen Griechenland entspringen
und es im Alterthum keine Confectionsgeschäfte gab. Aber
wegen der Größe und der Fleischfarbigkeit mochte die
Pohlenz sie wohl für lebendig gehalten haben und gedacht,
sie thäten ihr was.
33
»Es sind ja nur gipserne,« suchte die Butschen sie zu
beschwichtigen. — »Nein, nein,« blieb die Pohlenz bei, »ich
kann so was nicht sehen.« — »Denn kommen Sie man raus,«
griff ich ein, »draußen sind die Blümelein und die rauschenden
Gewässer und was sonst unerröthend ist. Für Kunst sind Sie
noch nicht reif, die hat das Unbekleidete einmal so an sich.
Oder wollen Sie nach den Wilden?«
»Nein... nein. Aber nach den Marineschauspielen will
ich, dazu hab' ich ein Freibillet.« — -»Wie kommen Sie dabei?«
Sie stach sich noch röther an, und lispelte kaum verstehbar:
»Geschenkt.«
Ich drang nicht weiter in ihre maritimen Verhältnisse,
sondern war froh, daß wir um die aus Strikegründen unvollendete
Ausstellung meines Karls herum kamen, und fragte:
»Wann ist denn der Zauber?« — »Das weiß ich nicht genau,
es steht wohl irgendwo zu lesen.« — »Freilich in dem Programm.«
— »Haben Sie eins?« — »Nein.« — »Sie auch
nicht, Frau Butschen?« — »Ih, wo werd' ich!... Aber ich
kann ja mal den Kaffee-Kellner fragen.«
Sie hin. Der Frackmensch sie mit ziemlicher Obenherabheit
betrachtet, aber doch höflich geantwortet, sie müßte sich
wohl irren, von Marineschauspielen wüßte er nur, daß sie
vor längerer Zeit bei Kiel stattgefunden hätten. Ob sie
vielleicht die Fischerei-Ausstellung meinte, die wäre bitte jenseits
am diesseitigen Ufer der Spree gelegen.
»Wir werden es schon finden,« sagte die Pohlenz. »Mir
recht,« entgegnete ich. — Bei dem Durchwandeln des Parkes
konnte ich wundervoll feststellen, wie angestrengt in den
letzten Tagen gearbeitet worden war und wie die Ausstellung
immer completer und schöner wurde. Es will eben alles
seine Zeit haben, selbst der simpelste Hefenteig.
Schritt vor Schritt gab es etwas zu betrachten, eine von
uns Dreien blieb immer irgendwo hängen und war nicht
mit zu kriegen und, als wir glücklich bei den Marineschauspielen
anlangten, war die Vorstellung justement vorbei.
Die Pohlenz, nun beleidigt gethan und vorgeworfen,
wir, also die Butschen und ich, hätten absichtlich gebummelt,
damit sie zu spät käme und so wie ich hätte mich gerühmt,
Bescheid zu wissen und das schiene doch nur sehr plundrig.
Grade ihrem Husten hätte die Marine-Seeluft gut gethan.
34
Aber man gönnte ihr nichts Gutes. In denselben Ton verfallen
war meinerseits nicht, obgleich sie es war, die am
meisten stehen blieb und überall hineinwollte, wo noch garnicht
eröffnet wurde. Hocharistokratisch entgegnete ich daher:
»Mein Fräulein, die Ausstellung ist zu groß, als daß sie auf
ein- oder zweimal in den menschlichen Geist geht. Schuld
allein ist die Gnietschigkeit, sich kein Programm zuzulegen.«
— Das könnten Andere sich nicht minder zuziehen, schnatterte
sie gegen in ihrer sticheligen Manier und bewies dadurch
wieder, wie sehr es ihr zwei Finger hoch über der Nase fehlt.
Mir fiel sofort plötzlich ein, daß ich meinem Karl versprochen
hatte, rechtzeitig wieder zu Hause zu sein, und,
indem ich zur Butsch sagte: »Sie bleiben wohl noch,« machte
ich eine absichtlich gelenkarme Verbeugung, woran die Pohlenz
etwas zum Nachdenken hat, und verabschiedete mich. Mir
war klar geworden, daß es bei Ausstellungen doch sehr auf
die Gesellschaft ankommt, mit der man sie besucht.

35

Der Hausbesuch regt sich.
Noch bin ich nicht zu meinen Berichten gekommen.
Wie kann ich auch?
Kaum haben nämlich die Herrschaften auswärts
in den Zeitungen gelesen, daß die Ausstellung angegangen
ist, ehe sie fertig war, sie sich, wie sie gebacken sind,
hingesetzt und geschrieben, sie kämen erst
später. Die Antworten darauf und das Umkatern der Anmeldezeit,
der Zimmerbesetzung und gegenseitiges Verständigen,
da Ungermann's jetzt mit Tante Lina zusammenfallen und
der Amtsrichter dito mit ihr zusammenstößt, wenn auch Ungermann's
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umgelegt werden, das hinderte. Ungermann's müssen
in die gute Stube und Tante Lina läßt sich allenfalls nach
Butsch's abzweigen, andererseits jedoch ist der Amtsrichter
unmöglich mit der Mädchenkammer zufrieden. Das Fremdenzimmer
ist besetzt. Und die Dorette sperrt sich gegen das
Schlafen auf dem Boden.
Hat man den Kopf voll von Einrichtungen, kann man
keine allgemein einleuchtende Berichte über die Größe der
Industrie und das Bedeutendste der Gesammtleistungen verfassen.
Es sind in der That Leistungen draußen, von denen
man, wie Napoleon oder wer es war, nur sagen kann: es
sind welche! Und wie manches, geradezu nicht hoch genug
anzuerkennende ist in einem Seitenflügel angebracht. — Jawohl,
das ist es! — Da wird es Pflicht der Berichterstattung,
es hervorzuziehen und laut zu verkündigen: da seht her, was
hier gewebt ist, diese prachtvolle Qualität und dauerhaft im
Tragen. Und preiswürdig! Denn bei den immensen Kosten
will doch auch der Aussteller sein Geschäft machen und das
kann er nicht in einem Winkel, an dem das Publikum sinnlos
vorüberrennt und seinen Fleiß, seine Arbeit, seine Tüchtigkeit
links liegen läßt.
Aber ich will's schon schieben.
Was Auswärtige nun unter »nicht fertig« denken, das
würden sie selbst mit den schrecklichsten Daumenschrauben
nicht gestehen können, da sie ja garnicht wissen, wie die Ausstellung
werden soll, wenn sie fertig ist. Freilich, desto vollendeter
sie ist, desto mehr Totaleindrücke giebt sie her, aber
für Viele thut sich ohne dies schon fast zu reichlich. Außerdem
hat bis jetzt noch keine große Ausstellung ihren Zeitpunkt
innegehalten. Den letzten Pinselstrich hat wohl noch
Niemand gesehen, wie mein Karl meint.
Was ihn selbst betrifft... er will nicht in der Fabrik
schlafen und sagt: »er sei nun einmal ein Gewohnheitsthier
und werde, so weit in seiner Macht stände, sich auch nicht
ändern.«
»Karl,« hielt ich ihm vor, »die Aufgabe des menschlichen
Geschlechts liegt neuerdings in der Vervollkommnung. Man
muß das Thierische, das Einem noch von den Vorzeiten anstammt,
immer mehr abstreifen, namentlich Gewohnheiten.«
»Meine Familie hat sich nie zu der Darwin'schen Religion
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bekannt,« sagte er. »Wie Deine es damit gehalten hat,
wirst Du selbst am besten wissen.«
»Was willst Du damit behaupten? Was kannst Du
mir vorwerfen? Oder willst Du meine Vorfahren verächtlich
machen? Karl, die liegen in ihren Gräbern und können
sich nicht vertheidigen und Du schiltst sie Gorillas?«
»Mit keiner Silbe!«
»Wenn einer Darwin sagt, meint er Affe. Und das
verbitte ich mir für meine Ahnen, das waren Musterleute.
Was mich selbst betrifft, bin ich viel zu aufgeklärt, um zu
leugnen, daß ich nicht auch meine Fehler hätte.«
»Ganz sicher.«
»So; und welche wären das? Wie? Ich möchte sie
wirklich kennen lernen. Jawohl, das möchte ich. So nenne
sie doch.«
Er besah seine Fingernägel, als wären es Polizeiakten,
aber es stand nichts darauf.
»Siehst Du, Karl, wie leicht etwas nicht bewiesen wird?
Gesetzt den Fall, ich wäre nicht Deine Dich innig liebende
Gattin, sondern Besuch von Außerhalb und ginge Dich direct
verklagen? Bedenke den Blam! Du in allen Zeitungen, an
jedem Biertisch gelesen und straffällig gefunden, verurtheilt
von der öffentlichen Meinung und nie — nie Kommerzienrath.
Du urtheilst zu rasch, mein Karl, Du bist zuweilen
recht unüberlegt; ich will es nicht gerade tadeln, weil es an
Deinem jugendlich aufwallenden Blut liegt — Du hast Dich
auffallend gut konservirt — aber wenn wir Fremde haben und
Du läßt Dich hinreißen und schmetterst in Deinem Leichtsinn
gerichtliche Ehrenkränkungen hin wie eben... Karl, hast Du
die Folgen bedacht? Ich meine Folgen, wenn ich Folgen
sage...«
»Wilhelmine, ich weiß nicht, wie Du mir vorkommst.«
»Bange Blicke in die Zukunft, die Besorgniß um Dich...«
»Aber Kind...«
»Karl, es ist das Beste,... Du schläfst in der Fabrik,
dann kann so etwas garnicht passiren.«
»Nein!«
»Und wenn's nachher zu spät ist? Wenn es sich erfüllt,
wie ich voraussehe?«
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»Für das, was geschieht, übernehme ich, Karl Buchholz,
die Verantwortung. Bist Du damit zufrieden?«
»Vollständig. Gewiß, mein Karl. Ich möchte den sehen,
der Dir irgendwie käme... Aber wenn Du in der Fabrik
schlafen wolltest...«
Was er sagte, als er das Lokal jetzt verließ, verstand
ich nicht genau. Ich glaube beinahe, er fluchte.
Aber er hat nun einmal das Prinzip, nicht in die Fabrik
überzusiedeln und Prinzipien sind um so eigensinniger,
je höher sie gehalten werden.
Und doch... mein Karl muß in die Fabrik.
Meine Stimmung war eine durchwachsene; es that mir
wohl, daß mein Mann nicht von mir weg wollte, und gleichzeitig
verdrossen mich seine Sperenzken. Um diese beiden
Drehpunkte bewegten sich meine Gedanken, als ich mich nunmehr
hinsetzte, der Kliebisch Tag und Woche zu schreiben,
wann wir sie mit Gatten bei uns sehen könnten, und nebenbei
einige Andeutungen über ihren Briefstil zu verabreichen,
der mein Mißfallen erregt hatte.
Daß die Kliebisch kommen wollte, war mir recht, wenn
auch mein Karl murrte.
Wir lernten uns in Italien kennen, nicht als gewöhnliche
Eisenbahnabtheils-Bekannte oder Table d'hôte-Mitesser,
sondern mancherlei Erlebnisse brachten uns näher, Gefahren
und glückliches Entschlüpfen, wie ich in dem Buche »Buchholzen's
in Italien« wahrheitsgemäß wiedererzählt habe, von
dem jedoch die Krausen hinter meinem Rücken laut behauptet,
ich hätte es garnicht geschrieben, sondern Jemand anders.
Ganz derselben Meinung war früher die Bergfeldten. Welche
Mühe hat es mich gekostet, ihr diesen Wahnwitz auszureden.
»Bergfeldten,« fragte ich sie eindringlich, »wie kann man ein
Buch über etwas schreiben, wenn man nicht da war? Wie
denken Sie sich das? So aus heiler Haut? Meinen Sie vielleicht,
man setzt sich an den Schreibtisch und, haste nicht gesehen,
Neapel geschildert oder Rom oder die Bevölkerung
und, was sonst malerisch ist, ohne persönliche Anschauung?«
Und was antwortete sie darauf? Was?
»Das Papier ist geduldig.«
Hierauf wollte ich tödtlich werden, wie es sich auch
eigentlich gehörte, aber da ich kürzlich vorher in der Familienbeilage
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unseres Blattes gelesen hatte, daß Langmuth und Unnachgiebigkeit
herrlicher von Erfolg gekrönt werden als Jähzorn
mit Handhabungen, wendete ich Nachsicht an und sagte,
sie möchte doch um Alles in der Welt nicht über Dinge
reden, die für sie ewig unaufgegangene Seifensieder blieben,
so lange sie sich absichtlich der Wahrheit verschlösse.
Da gestand sie denn, daß sie blos sagte, was die
Krausen gesagt hätte. Ich hatte die Krausen damals noch
nicht so durchschaut wie später, und stand einigermaßen ziemlich
mit ihr, so daß diese Offenbarung mir durch und durch
ging, weshalb ich rügte: »Man muß sich nie als Sprachrohr
gebrauchen lassen, weil zu viel verdreht herauskommt.«
Die Kliebisch sowohl wie ihr Gatte sollen nun der
Butschen sowohl wie der Krausen mitten in's Gesicht beeidigen,
daß ich mit ihnen zusammen in Italien war. Lügen
müssen wie die Schwaben immerwährend ausgerottet werden,
sonst dauern sie lebenslänglich.
Was mich in ihrem Schreibebriefe ärgerte, das waren
Bemerkungen. — »Wir haben hier auch das Abschreckungs-Plakat
in dem Dorfkruge hängen,« schrieb sie, »und hatten
in Folge dessen anfangs gar keine Lust zur Ausstellung. Der
sehnige Arm, der aus der Erde sich brutal erhebt und mit
dem Hammer Jeden zu zerschmettern droht, hatte für mich
etwas Widriges, bis mein Hinnerich sagte, das Plakat stelle
blos Berliner Blau vor (weil doch der Hintergrund so blau
ist), und der Hammer bedeute die Landwirthschaft, die bald
unter den Hammer käme. Da haben wir denn herzlich über
den Witz gelacht. Mein Mann macht mitunter ganz brillante
Witze und ist auch ringsum dafür bekannt. Unsere Anna ist
konfirmirt und mir eine rechte Stütze im Haushalt. Sie hat
den praktischen Sinn ihres Vaters geerbt und ebenso hellblondes
Haar wie er und dabei seidenweich. Heinrich weiß
noch nicht, was er werden will, wir lassen ihn deshalb die
Schule noch ruhig besuchen, bis er sich entscheidet. Landwirth
sieht mein Hinnerich ungern, weil zu wenig verdient wird
und ein junger Mann ohne großes Kapital zu lange bis
zur Selbstständigkeit warten muß. Henriette dagegen, unsere
dritte, ist idealer veranlagt, mit gutem Gehör und einer allerliebsten
Stimme. Adalbert und Friedrich gehen in die Dorfschule,
was für den letzteren, da er von den Masern her
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immer noch nicht ganz wieder der Alte ist, seine Bedenken
hat. Lene und Male...«
Die unflügge Nachkommenschaft war für mich wenig
von Interesse, da ich sie nicht kenne, aber ich empfing doch
die Ueberzeugung, daß die Gegend dort zu den fruchtbaren
gehört. Auf den Ehesegen ging ich daher nicht näher ein,
wohl aber auf Herrn Kliebisch's Randglossen über das Ausstellungs-Plakat.
Die hatten mich verdrossen.
»Es freut mich,« schrieb ich, »daß Sie Alle wohl und
munter sind und Ihr Herr Gemahl trotz der agrarischen
Lage noch zu Scherzen aufgelegt ist. Was diese anbetrifft,
möchte ich mir nur die Mittheilung erlauben, daß wir unsere
Witze über Berlin gewöhnlich selber zu machen pflegen.«
»Das Plakat will verstanden sein. Es schließt sich der
neueren Kunstrichtung an, die den sogenannten schönen Schein
als unnatürlich meidet und in erster Linie darauf zielt, daß
von dem Kunstwerk gesprochen wird. Wie? ist Wurst. Und
das ist erreicht, sogar bei Ihnen auf dem Lande. Sie haben
sich geängstigt: wollen Sie noch mehr Wirkung? Liebe Frau
Kliebisch, seit wir uns in Italien sahen, hat die Kunst unermeßliche
Fortschritte gemacht, daß die alten Meister, wenn
sie aus ihren Gräbern hochkämen, sämmtlich umlernen
müßten. Wie Tag und Nacht ist der Unterschied. Alles
Braune und Dunkele gehört in die Museen und der Antike
an. Alles Mehlige und wie in den Regenbogen Getauchte
ist modern und zulässig für Ausstellungen. Dies muß man
sich merken und Rafael und Rubens und die verstorbenen
Malermeister nicht loben, das nehmen die jüngeren krumm.
Wir werden über Manches zu plaudern haben und Vieles
zu besichtigen, denn eine enorme Gemälde-Ausstellung ist
Treptow gegenüber am anderen Ende der Stadt eröffnet.
Wir rechnen in Berlin eben mit größeren Entfernungen als
in kleineren Orten und so ist es auch mit dem Geistigen und
den Scherzen. Berliner Blau gehört zu den überlebten; ich
bezweifle, daß Ihr Mann Glück damit machen wird.«
Als ich über eine stilgerechte Schwenkung in die Kinderstube
nachsann, kam die Dorette, und meldete, vor der Thüre
hielte eine Droschke mit Massen-Gepäck; ob das wohl Besuch
für uns wäre?
Wir Beide aus dem Fenster gesehen. Richtig. Die
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Droschke beladen wie ein Möbelwagen zur Umzugszeit, vornehmlich
mit einem Reisespinde, daß der Kutscher völlig
unfallversicherungsreif daneben auf dem Bock pendelte.
Wer konnte es sein? Nach dem Kontrolirverzeichniß,
das ich rasch zu Rathe zog, Niemand. Aber da öffnete sich
die Thür, eine junge Dame flog auf mich zu mit den Worten:
»Ich bin es. Wie ich mich freue.«
»Ottilie?« fragte ich.
»Ja, Ottilie.«
»Warum schrieben oder telegraphirten Sie nicht?«
»Ich wollte Sie überraschen, das hatte ich mir zu entzückend
ausgedacht. Ach es geht nichts über Ueberraschungen,
die sind zu himmlisch.«
Sie hatte es gut gemeint und so fügte ich mich denn,
obgleich mir genaue Anmeldung lieber gewesen wäre, weil
ich dann meine Anordnungen getroffen hätte.
Ich betrachtete sie mir. Sie war viel ansehnlicher, als
auf der Photographie, namentlich das lebhafte Auge verlieh
ihr etwas Reizvolles und, wenn sie sich bewegte, kam ihre
schlanke Figur zur Geltung. Nun ward mir auch mit einem
Male klar, warum sie sich nicht glücklich in ihrer Heimath
fühlt und weshalb sie allerlei auszustehen hat. Sie ist über
ihren Stand hübsch.
Ich hieß sie willkommen und fügte hinzu: »Wir haben
ereignißreiche Tage vor uns, aber mit gutem Willen, verständiger
Anordnung und Fleiß werden wir sie bewältigen.«
»Ach und recht oft in die Oper,« rief sie, »Oper ist zu
himmlisch. Ich muß die Sucher hören, sie soll als Isolde
zu entzückend sein. Und Zirkus. Ich schwärme für Zirkus!«
»Ottilie,« unterbrach ich sie, »Zirkus ist eine Wintersache,
also jetzt nicht vorhanden. In die Oper werden wir
auch einmal gehen. Die Hauptsache ist unsere gemeinsame
Ausstellungsarbeit. Haben Sie Bücher mitgebracht?«
»Gewiß, zwei Kisten voll.«
»Zwei Kisten?« fragte ich entsetzt.
Der Droschkenkutscher und Dorette schleppten gerade
einen schweren Kasten die Treppe herauf. »Das Praktische
scheint ihr fremd zu sein,« dachte ich und fragte: »Was sind
denn das für Bücher?«
»Zunächst Meyer,« antwortete sie.
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»Was für'n Meyer? Doch nicht das ganze Conversationslexikon?«
»Nun ja, darin steht Alles.«
»Ottilie,« rief ich, »den Meyer habe ich selbst; die
Ueberfracht hätten Sie sparen können. Was sonst noch?«
»Ein französisches und ein englisches Lexikon, Daniel's
großes Handbuch der Erdkunde, Velhagen und Klasing's
Atlas, Brehm's Thierleben, wegen der Fischerei-Ausstellung,
Krüger's Physik...«
»Das scheint mir das einzig richtige. Haben Sie auch
Chemie mitgebracht?«
»Chemie? Nein, die hab' ich vergessen.«
»Aber Ottilie, wo ich Ihnen doch schrieb, welche Sorge
mir das chemische Industriegebäude macht. Was fangen wir
nun an? Wir müssen das Buch schicken lassen.«
»Das geht nicht. Ich habe die Schlüssel zu meinem
Bücherspinde bei mir.«
Ich seufzte. »Kommen Sie, ich will Sie auf Ihr
Zimmer führen. Später ziehen Sie zu mir.«
»Ach wie reizend.«
Der Droschkenmann wurde allmählich befriedigt; die
Ladung war nicht billig. Auch machte er Seitenbemerkungen,
als Dorette meinte, das Heraufbefördern von Gepäck läge
mit in der Taxe und sei mit zwei Groschen hinreichend belohnt.
»Denn muß das Freilein das nächste mal mit'n Rollwagen
fahren,« sagte er. —
Als mein Karl zu Tisch kam und ein drittes Gedeck
vorfand, legte er sich auf's Rathen, für wen es sei, kriegte
es aber nicht heraus, weil das Zunächstliegende stets das
Schwierigste ist. Er wurde ärgerlich und grollte: »Du willst
Dich wohl zur Sphinx ausbilden, das ist das einzige, was
auf dem Ausstellungs-Kairo noch fehlt.«
»Hast Du so genau nachgesehen?« — »Ja!« — »Ohne
mich?« — »Du gehst ja Deine eigenen Studirwege.« —
»Karl!«
In diesem Ausrufe lag eine ganze Tragödie, und das
fühlte er, denn er fragte »Wo bleibt das Essen?« Wenn
Männer ablenken, regt sich ihr Schuldbewußtsein.
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»Die Araberinnen sollen dort ja zum Theil unverschleiert
herumlaufen?« fragte ich durchbohrend. »Ist das
wahr?«
»Ich bin hungrig, Wilhelmine!«
»Ich nicht. Mir ist der Appetit vergangen.« — »Wovon
denn?« — »Was weiß ich?« — »Eben warst Du noch guter
Dinge.« — »Eben, ja.« — »Bin ich Schuld an Deiner Laune?«
— »Nein.« — »Wer denn?« — »Niemand.« — »Wilhelmine,
willst Du mich erzürnen?« — »Nein; ich bitte Dich, was
soll Ottilie denken, wenn sie gleich am ersten Tage Zeuge
tiefsten Familienzwistes wird.« — »Uebertreib' nicht, sei so gut.
Also für Ottilie ist gedeckt... Wo bleibt sie aber? Ich
möchte essen.«
»Sie macht Toilette.«
»Sie soll sich beeilen. Von der Gesellschafterin verlange
ich Pünktlichkeit. Ich werde einen Ton mit ihr reden.«
»Karl, mir zu Lieb sei freundlich gegen sie. Bedenke,
ich muß Wochen lang mit ihr auskommen. Und Du weißt,
sie hat Nerven.«
»Sie kann sich meinethalben an ihren Nerven aufhängen.«
Ich klingelte. Mein Karl war bereits in dem Hungerstadium,
wo die Männer borstig werden. »Dorette, schleunigst
die Suppe und Fräulein nochmal zu Tisch ansagen.« Glücklicherweise
hatten wir Kerbelsuppe, die mein Karl schon
öfter für sein Leibgericht erklärte, mit Ei und gebratenem
Brot. Er schlemmte ordentlich, so ausverkauft war sein
Magen gewesen und mit jedem Löffel ward er friedlicher.
Wäre jetzt Ottilie nicht gekommen, hätte er deren Antheil
mit vertilgt; ein Ei bekam sie schon weniger.
Mein Karl war überrascht bei ihrem Anblick, ich noch
überraschter. Er stand auf und verbeugte sich und sie machte
einen Quadrillenknix wie frisch vom Tanzmeister, schon mehr
die reine Hoffeierlichkeit. Und was hatte sie an? Ein
marineblaues Kleid von demselben Stück wie meines und
eben solche crêmefarbige Klöppelarbeit und der Schnitt aus
demselben Modenblatt.
Mein Effect, den ich vorhatte, war hin. Zweie aus dem
44
nämlichen Laden erregen allerdings Aufsehen, aber nur weil
Jede sagt: sie gehen gleichartig aus Billigkeitsrücksichten,
Gott weiß, wo sie den Rest gekauft haben? Und dazu schafft
man doch nichts Neues an.
Ich hatte Karl zwar gebeten, freundlich zu sein, aber
daß er Ottilie mit unverhohlenem Wohlbehagen ansah, das
war nicht ausbedungen.
Das Gespräch wurde bald recht lebhaft. Ottilie
schwärmte schon mächtig für Berlin. Nach dem Spreewald
wollte sie und einen kleinen Abstecher nach Dresden machen,
und recht, recht oft in's Theater.

»Meine Liebe,« sagte ich, »was wird aber aus Ihren
Nerven?«
»Oh,« erwiderte sie, »die sind facultativ. Ich bedarf
der Anregung, die wird mir Flügel verleihen, Flügel des
Geistes, sie wachsen mir jetzt schon. Ach, Berlin ist zu
himmlisch.« Dabei streckte sie Jedem von uns eine
Hand hin und sprach: »Wie lieb Sie sind, mich so glücklich
zu machen.«
Wir schlugen ein, weil sie so überrumpelnd war
und mein Karl, das sah ich, fand Vergnügen an dem
Händedrücken.
»Ottilie,« bemerkte ich strenge, »so lange Sie hier sind,
vertrete ich Mutterstelle und das sage ich von vorn herein:
geflogen wird nicht.«
Sie hätte nur bildlich gesprochen. — »Bei uns reden
wir deutsch.«
Nach Beendigung des Mahles schlug ich im Meyer
»facultativ« nach. »Dem eigenen Ermessen freigestellt«
stand da.
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Hierauf fragte ich meinen Mann: »Karl, weißt Du, was
facultativ besagt, in Bezug auf Ottiliens Nerven?«
»O ja,« entgegnete er trocken, »ihr freiert.«
»Und deshalb ziehst Du in die Fabrik und Ottilie schläft
bei mir. — Ohne Widerrede, mein Karl.«
Er redete auch nicht wider. Ottilie ist wirklich zu
hübsch und ohne Erfahrung. Es wird nicht leicht sein, sie
zu hüten.

46

Ein Blick über das Ganze.
Als ich Ottilie den Vorschlag machte, einen allgemeinen
Ueberblick über die Ausstellung zu gewinnen, wollte sie gleich
mit dem Fesselballon hoch.
»Nein,« sagte ich. »Vorläufig warten wir ab, ob er
Zwischenfälle kriegt, und, wenn die dann nach einigen Wochen
rasch und leicht beseitigt sind, steigen wir mit. Auch meine
ich mit Ueberblick nicht ein Häppsken Vogelschau, sondern
das fest im Gedächtnis haftende Terrain der Ausstellung, damit
man weiß, was vorhanden ist, wo es liegt, wie man
hinkommt, wie viel Zeit man auf das Einzelne verwenden
kann. Es sind über viertausend Aussteller und nun rechne
aus, wenn auf jeden nur fünf Minuten gründlicher Besichtigung
fallen, wieviel Arbeitstage Du im Ganzen gebrauchst,
den Tag zu acht Arbeitsstunden angenommen?«
»Kopfrechnen erlauben mir meine Nerven nicht,« antwortete
Ottilie nach einiger Anstrengung, als sie nicht mehr
mochte.
Sie bat mich gleich am ersten Tage um verwandtschaftliche
Du-Anrede, die ich ihr bewilligte, da sie so allein
steht und der Anschmiegung bedürftig ist.
»Nun,« fragte ich, »hast Du es?«
»Nein.«
47
»Also rund zweiundvierzig Tage. Das sind beinahe
anderthalb Monate. Von Alt-Berlin, Kairo, dem Vergnügungspark,
dem Theater, der Diamantschleiferei, dem Panorama,
der Stearinfabrik, Etzetera ist dabei keine Rede und Du hast weder
Naß noch Trocken, noch Ausruhen, noch Musikgenuß, noch
irgend eine nothwendige Pause. Deshalb ist planvolles Vorgehen
geboten. Heute ist Planschwetter, wir können nichts
Besseres beginnen, als uns vorzubereiten.«
Sie seufzte. »Ich weiß nicht, ob meine Nerven«...
fing sie an. — »Ich weiß, daß es ihnen gut bekommt,« entschied
ich und breitete den officiellen Plan der Ausstellung
auf dem Tische aus.
»Wie Du siehst,« begann ich, »wird das Gebiet durch
die Treptower Chaussee in zwei gleiche Theile gespalten, wovon
der eine reichlich noch mal so groß ist wie der andere,
und dies Röthliche, was wie ein Stiefelknecht aussieht, ist
das Hauptgebäude.«
»Ich meinte, es wäre so sehr schön.«
»Dies ist ja nur der Grundriß, dasselbe, was beim Zuschneiden
das Muster.«
»Ach so.«
»Hier, gerade vor, das Blaue ist der Neue See mit
den echten Gondolieren aus Venedig.«
»Wo sind die Gondoliere?«
»Draußen in Treptow,« erwiderte ich sehr deutlich, denn
die Hast, mit der sie sich mit einem Male den Plan betrachtete,
während sie eben noch ihre Nerven überlegte und nicht
die geringste Theilnahme zeigte, verdroß mich.
»Singen sie auch das himmlische Lied: >Komm' nach der
Piazetta, Rosetta<?«
»Für ein Trinkgeld gewiß.«
»Für Geld? Wie unpoetisch!«
»Gegenüber liegt das Hauptrestaurant. Die Laubengänge
dorthin sind mit Tausenden von Lämpchen behangen,
bei Tage wie die größte Eiersammlung der Welt, an Erleuchtungsabenden
feenhaft wie früher bei Kroll. Ist das
Wetter schön, wirst Du es erleben. Von hier kann man nun
durch das Spreewaldgehöft, durch Chocolade und Thee, bis
zur todten Katze gelangen...«
»O, pfui!«
48
»Nicht Pfui sagen, wenn Dir etwas nicht recht ist, das
ist kleinstädtische Geziertheit.«
»Aber ich hasse todte Katzen.«
»Das wird denen ziemlich dasselbe sein. In diesem
Falle ist die Katze das ausgestopfte Motto eines stilvollen
Bürgerbräu-Ausschankes in Bauernmanier, und kletternder
Weise am Vorgiebel angebracht, also durchaus nicht Pfui
sondern kennzeichnend für den Volksmund, der stets mit unerwarteter
Sofortigkeit das Besonderliche in Worte formt.«
Ich konnte nicht umhin, ihr diesen kleinen Erziehungs-Schupps
zu verabreichen, weil sie ihre schiefen Urtheile nie
zurückhält und dadurch zum Stein des Anstoßes wird, ja ich
hielt es für Pflicht, bändigend einzugreifen, wie Goethe so
treffend in Mey & Edlich's letztem Abreißkalender schreibt:
»Wenn wir die Menschen nur nehmen wie sie sind, so
machen wir sie schlechter; wenn wir sie behandeln, als
wären sie, was sie sein sollten, so bringen wir sie dahin,
wohin sie zu bringen sind.« — Unser vorjähriger war mit
Speisezetteln versehen, aber weil die Zuthaten meist in die
andere Jahreszeit fallen, haben sie als Morgenandacht keinen
sittlichen Werth, wogegen man Sprüche und Lebensregeln
ohne weitere Vorkehrungen benutzt. Dazu sind ja auch die
Dichter und dergleichen.
Ottilie schien von ihren Obliegenheiten entweder keine
Ahnung zu haben oder keinen Gebrauch machen zu wollen,
es kann auch sein, daß sie Berlin mehr für eine Amüsirerholung
hält als für ein Arbeitsfeld. Oder hatte sie sich
mich scherzhaft gedacht, als sie auf meine Vorschläge einging,
an den Ausstellungsberichten mit all' ihren wissenschaftlichen
Kräften thätig zu sein und dafür angemessen entschädigt zu
werden, nicht nur durch Kost und Unterkommen und rücksichtsvolle
Behandlung, sondern auch durch Honorarantheil an
dem schriftstellerischen Erwerbe. Man nimmt doch keine
Waschfrau, um die Arbeit selbst zu thun.
Von Ottilie verlange ich ja nicht das Gröbste — das
kann ich von alleine — sondern das wissenschaftliche und Gondoliere
sind nicht wissenschaftlich. Deshalb regte es sich in mir.
»Man kann aber auch,« fuhr ich fort, »östlich gehen,
leicht abschwenken und durch echt märkische Sandpfade nach
Alt-Berlin gelangen. Hast Du den Weg?«
49
»Wo ist südöstlich?«
»Die Himmelsgegenden ermittelt man mit dem Compaß.«
»Geht das?«
»Nun natürlich. Auf Reisen in Italien und im Orient
fand mein Karl die Wege stets mittels Compaß und Plan;
diese Kunst ist ebenso einfach, wie unfehlbar, wenn man sich
nicht irrt, und im Treptower Park durchaus nothwendig,
sobald das Dickicht sich so belaubt, daß selbst das Auge der
Aufseher nicht durchdringt, um Jemand zu entdecken, der
heimlich den Bleistift zieht und notirt, Zeichnungen aufnimmt
oder vielleicht photographirt, worauf so gut wie Todesstrafe
steht. Es ist nämlich jegliches verpachtet und unerlaubt;
deshalb Vorsicht, Ottilie, daß Dich die Wärter nicht anzeigen,
von denen, dem Ton nach zu urtheilen, viele auf der Unteroffizier-Akademie
geschliffen wurden.«
»Ich werde mich in Acht nehmen.«
»Du kennst doch einen Compaß?« kehrte ich zu unserem
Gegenstand zurück.
»Und wie; sehr genau. Das heißt, im Examen hab'
ich ihn gehabt — — — in der Hand noch nicht. Er wird
im Norden vom Nordpol angezogen und im Süden vom
Südpol und war bereits im Jahre 2133 vor unserer Zeitrechnung
den Chinesen bekannt.«
»Vergiß die Jahreszahl nicht, die gebrauchen wir in
unseren Berichten. Die Leute sollen sich wundern. Selbst
nachgezählt hast Du wohl nicht? Ich meine blos, wenn
Einer es noch genauer wüßte und verlästerte uns nachher
öffentlich — das möchte ich Onkel Fritzens wegen nicht. Der
höhnt gleich. Aber Du bist ja darauf geprüft.«
»Wenn eine Kanonenkugel mit der Fluggeschwindigkeit
von fünfhundert Meilen in der Stunde sich von der Erde
auf den nächsten Fixstern zu bewegt, erreicht sie denselben
erst nach vier Millionen fünfmalhunderttausend Jahren,« sagte
Ottilie rasch und fließend.
»Hilf daran denken, wenn wir über das Riesenfernrohr
schreiben, obgleich ich für meine Person es für Unsinn halte,
nach den Sternen zu schießen, es sei denn aus rein wissenschaftlichen
Zwecken. Da geschieht ja manches. — Hier hast
Du den Compaß, nun suche zunächst Norden.«
Die magnetische Nadel machte ihr Spaß, aber sie konnte
50
sich nicht daraus vernehmen und je mehr ich ihr es auseinandersetzte,
um so weniger faßte sie es, bis ich zuletzt ebenfalls
das feinere Unterscheidungsvermögen verlor. Auf Reisen
war es ja auch hauptsächlich mein Karl, der gleich die Richtung
heraus hatte. »Ottilie,« sagte ich deshalb, »in unseren
wissenschaftlichen Abhandlungen gehen wir um das Magnetische
bogenartig ausweichend herum. Im Park kann man
am Ende fragen. Auch stehen an vielen Orten Wegweiser.«
»Entzückend!« rief Ottilie, und legte den Compaß weit
weg.
»Ferner müssen wir Bedacht nehmen, daß die Berichte
umschichtig gelingen. Erst die Haupthalle, dann Photographie,
dann meinetwegen Unterricht und Erziehung, hierauf Hagenbecks
Affenparadies, das sich an das Kindliche schließt. Gasindustrie
kann mit Gärtnerei abwechseln, dann nehmen wir
die vereinigten Destillateure, die Volkswohlfahrt, die größte
Kanne, Fischerei, Stufenbahn, Harzbahn, Volksbrausebad...«
»Ich kann keine Brause vertragen.«
»Nur ansehen.«
»Pfui!«
»Ottilie, ich habe Dich schon einmal ermahnt, diese
Redensart zu pensioniren. Sollen die Leute fragen, wer mag
die junge Dame sein, die so schwach mit Lebensart ist? Bei
solcher Gelegenheit müßte ich Dich verleugnen und Dich
wieder siezen.«
»Es ist das letzte Mal gewesen, ganz gewiß,« betheuerte
sie.
»Schön. Passirt es noch einmal, kommst Du nicht mit
nach Kairo, das sie so naturgetreu aufgebaut haben, als wäre
man leibhaftig in Egypten.«
»Ach ja, Sie waren ja dort. Wie himmlisch! Wie ich
für Kairo schwärme, kann ich garnicht sagen. Diese Lotosblumen,
die Palmen mit beschwingten Papageien, die Muselmänner
in goldgestickter Seide; alles Marmor und Elfenbein
im Glanze des Morgenlandes...«
»Halt' die Luft an, Ottilie, Du machst Dir eine total
umgedrehte Vorstellung. Die natürliche Echtheit ist das Bezaubernde;
das Zerfallene, die malerische Ungewaschenheit...«
»O, Pf... pfie, wie schade!«
»Na ja, das wollt' ich mir auch ausgebeten haben. Du
51
wirst die Schönheiten Kairos schon unter meiner Leitung
herausfinden und, soweit ich das Arabische von damals her
noch beherrsche, mit den Beduinen und Fellachen, den Händlern
und Eseljungen in Dialog treten. Sie verstehen uns
nämlich bedeutend leichter als wir sie. Mit den Neu-Guinea-Leuten
am Karpfenteich, der halb die Spree und halb den
stillen Ozean vorzustellen hat, stehe ich jedoch in keiner sprachlichen
Beziehung.«
»Gehen die Wilden wirklich wie abgebildet?«
»Ich glaube je nach der Witterung, weiß es aber nicht
genau.«
»Wollen wir sie nicht lieber auch umgehen?«
»Sie sind unvermeidlich als unsere Kolonialbrüder. Wir
müssen sie kennen lernen und sie uns, damit ein bürgerliches
Gesetzbuch geschaffen wird, das ebenso für Klein-Popo und
Kamerun klappt wie für das große Berlin.«
»Die Gesetze werden doch mit den Menschen geboren!«
bemerkte Ottilie.
»Deshalb sind sie auch danach, denn was wird nicht
Alles verheirathet? Er zu lang, sie zu kurz oder umgekehrt,
und auch in der Breite uneinig, jedoch wegen geistiger Vernachlässigung
gegenseitig nichts vorzuwerfen. Talent höchstens
zum Absätze krummtreten; Literatur: Litfaßsäulen; Ideal:
Wo's die größten Portionen giebt. Und solche Leute insultiren
die Lehrer, wenn ihre Kinder es nicht weiter bringen
als zu Sitzquartalisten und verlangen vom Staate garantirte
Carrière für die Blasenköpfe. Darum ein völlig frisches
Gesetzbuch von der gediegensten Jurisprudenz verfertigt mit
peinlichster Rücksicht auf die herrschenden Zustände, die manchmal
schon keine mehr sind. Wie oft habe ich gehört, daß
das römische Recht, wonach sie sich richten, mit dem deutschen
nicht stimmt, und das kann es unmöglich. Was wußten die
alten Römer von Clavierspielen nach zehn Uhr oder von
Maulkörben oder von unlauterem Wettbewerb? Ueberhaupt,
was geht uns Rom an?«
»Sie waren dort ja auch! Sagen Sie, Frau Buchholz,
macht Italien wirklich den Eindruck eines Stiefels, wenn
man darin herunterfährt?«
»Nicht völlig,« gab ich zur Antwort. Dann sagte ich
52
langsam: »Ottilie, die Welt und die Bücher sind zweierlei,
Du mußt noch viel lernen und viel vergessen.«
»Warum noch lernen? — Ich habe mein Examen gemacht
und Zeugnisse, daß ich genug weiß. Die Quälerei hab'
ich hinter mir. — Aber ich meine, es ging doch ausgezeichnet
mit den vorhandenen Referendaren.«
»Mit den vorhandenen Gesetzen, wolltest Du sagen.
Früher langten sie vielleicht, aber seitdem wir uns kolonial
ausbreiten, steigern sich die Ansprüche ungeahnt. Bedenke,
wie schrecklich, daß unsere wilden Afrikabrüder bis jetzt die
Sonntagsruhe nie ordentlich gehalten haben, daß das Auswärtige
Amt einen Extra-Sonderbefehl hinüber senden mußte,
alle Arbeiten bis auf die dringlichsten an den Sonntagen in
Afrika, so weit wir zu sagen haben, an den Nagel zu hängen.
Die Missionare haben sich beschwert wegen Radau. Nun
lernen die Wilden auf der Ausstellung die Berliner Sonntagsruhe
aus eigenster Anschauung, wo sie den vorüberdrängenden
Menschenströmen ihre Tänze vorspringen müssen und
rudern und Matten flechten und fechten und was sie sonst
auf der Walze haben zur Verbreitung anthropologischer
Studien. Ob sie solches des Sonntags dürfen, wenn sie
retour gekommen sind, das steht auf einem anderen Brett.
Ich habe schon Herrn Kriehberg empfohlen, sobald seine
Ausstellungsthätigkeit beendet ist, nach Deutsch-Afrika überzusiedeln
und einen stilistischen Ausschank mit Vergnügungsgarten
zu eröffnen, womit er nach Einführung der Sonntagsruhe
dort glänzende Geschäfte machen muß.«
»Was werden die Missionare aber dazu sagen?«
»Die sind dem Gesetzbuch unterworfen und haben stille
zu sein. Gleiches Recht für Alle. Geld erwerben am Sonntag
ist große Sünde, Ottilie, aber Geld verthun darfst Du,
und wenn Du hinterher am Montag abgespannt bist, als
hättest Du vierundzwanzig Stunden hart geschuftet.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Gesetze sind eben schwer verständlich für den Mittelstand.«
»Wer ist Herr Kriehberg, den Sie eben erwähnten?«
»So zu sagen unser Mitarbeiter in Architektur und Bauwissenschaften.«
»Wie entzückend! Ist er hübsch?«
53
»Ottilie, kennst Du die Jungfrau von Orleans?«
»Wieso?«
»Der war verboten, sich um die Herren zu kümmern,
damit sie ihre Aufgabe unentwegt erfüllte. Als sie sich für
einen jungen Mann interessirte und nicht mehr auf dem
Posten war, lag sie drin.«
»Aber ich... «
»Jawohl. So wie von Sachlichem die Rede ist, sind
Dir Deine Gehörnerven zu kostbar und jetzt, blos da Kriehberg's
Name genannt wird, spannst Du wie eine Elster.
Ich warne Dich, Ottilie! Es kann lange dauern, ehe
Kriehberg's Wirthschaft mit Karussel und Schießstand hinter
dem Aequator blüht, und wenn er auch sonst Gaben besitzt,
die beste Eigenschaft eines Mannes ist ein gesichertes Einkommen.
Und die fehlt ihm.«
Ottilie machte ein langes Gesicht. Sie fühlte sich ertappt.
Ich brach die Vorstudien ab und gab ihr den Ausstellungs-Katalog
zu lesen. Der überhitzt ihre Phantasie
wenigstens nicht.
Ich selbst aber fürchte. Meine Phantasie malt mir
allerlei Unerfreuliches an die Wand.

54

Das erste Lichtfest.
Wie theile ich Ottilie ein?
Dies war die Frage, die mich wie eine Fliege piesackte,
von denen es nach meiner Selbstbeobachtung mehrere Sorten
von Banditen giebt, nämlich solche, die sich auf Eßbares
setzen, weshalb die Butschen ihr Apfelmus stets mit Korinthen
bestreut, sie durch die Aehnlichkeit zu vertuschen, und
solche, die sich mehr auf menschliche Verfolgung legen, bis
man die Bestie nach endlosem Vorbeigelingen getroffen hat
oder irgend etwas Zerbrechliches, das in der Ziellinie stand.
Ottilie kennt Berlin nur aus im zweiten Lebensjahre
gewonnenen Jugendeindrücken und weiß besser in den spanischen
Provinzen Bescheid, als in der Reichshauptstadt nebst
Umgebung, was man ihr auch nicht verdenken kann, da sie
in Geographie mit einem Einser siegte und zwar besonders
durch einen fehlerfreien Aufsatz über Madrid, das sie für
ihr Leben gern einmal sehen möchte, um zu vergleichen, ob
es wirklich so ist, wie sie es beschrieben hat.
Ich sagte: »Ottilie, zwischen uns und Hispanien liegt
zu viel Landkarte. Und wenn auch Sevilla und Granada
sehr gepriesen werden, in diesem Sommer geht nichts über
Treptow. Damit Du jedoch nicht zu dem Glauben verleitet
wirst, Berlin bestände bloß aus Vergnügungspartieen nach
der Ausstellung, ergiebt sich für Dich die Nothwendigkeit,
erst die Residenz als solche zu ergründen und natürlich
Potsdam dazu und ein paar Kilometer Charlottenburg oder
55
bis zum Spandauer Berg, wo man Aussicht auf ungeheuer
viel Geld hat, auf den Juliusthurm nämlich, worin die
Millionen des Kriegsschatzes schlummern. Dieser Anblick in
Verbindung mit dem vorzüglichen Bier ist beruhigend für
den Staatsbürger und dessen Gattin, sobald sie über das
erforderliche Verständnis verfügt, denn das schönste Militair
nützt nichts ohne das nöthige Großgeld.«
»Gerade die Entzückendsten machen reiche Heirathen des
Geldes wegen. Aber sie werden schrecklich unglücklich ohne
Liebe.«
»Wen meinst Du?«
»Die Offiziere.«
»Ach so. — Ottilie, nimm Dir zur unbeugsamen Richtschnur:
was in Romanen steht, ist so gut,
als hätte die Krausen es Dir erzählt, die
von der Wahrheit nur Gebrauch macht, um
die Gefühle ihrer Nebenmenschen zu verletzen.
Ich empfehle Dir daher, des Morgens
mit Dorette in die Markthalle einholen
gehen, damit Du Berlin vom Haushälterischen
wie vom Statistischen beurtheilen
lernst. Es sind enorme Zahlen, die dort
umgesetzt werden, ohne was nicht umgesetzt
wird, sondern nebenbei von auswärts kommt
und sich der Kontrolle entzieht, weil es nichts
taugt oder gesundheitsschädlich ist. Hier
greift die Polizei in die Margarine ein
oder verschüttet die Milch und beschlagnahmt
lungensüchtiges Fleisch und erweist
sich hochgradig nützlich, denn siehst Du, heut zu Tage geschieht
Alles der Gesundheit wegen.«

»Wir leben in dem Jahrhundert der humanitatairen
Bestrebungen,« verrieth sie ihre Kenntnisse auf diesem Gebiete.
»Sehr richtig, und es wird noch tatärer mit der Zeit,
wovon die Ausstellung eine unvergeßliche Probe liefert.
Wohin Dein Auge sich richtet, trifft es auf die Empfehlung
von der Unfallstation. An den Brückengeländern ist sie als
Beruhigung festgenagelt: wenn Du Dir das Bein zerstolperst,
haben sie Syndektion, es wieder zu leimen. In den Schänken,
56
in den Kaffeehallen, in den Weinstuben, überall ermahnt
Dich die Unfallstation, wie unsicher das menschliche Dasein
ist, und gewissermaßen schwebt die Carbolflasche am seidenen
Fädchen über Dir, und es riecht auch danach, wo man essen
und trinken will aus sanitätlichen Rücksichten hingegossen,
daß man lieber gleich wieder geht. Wo die Hygiene aufdringlich
wird, erregt sie Uebelkeit.«
»Dies würde meine Nerven schrecklich angreifen.«
»Stärke sie, Ottilie, stärke sie, Du wirst es nöthig haben,
denn selbst meine hatten verschiedene Anprälle zu überwinden.
Denke Dir blos das Leichenbrennhaus...«
»Ich hasse Leichen.«
»Ottilie, Du hast mitunter Ausdrücke an Dir, unter
denen die deutsche Sprache leidet. Du darfst sagen, sie erschüttern
Dich oder Du bebst zurück oder Du träumst davon,
aber doch nicht hassen. Wie bald werden die Todten
vergessen; gönne ihnen doch die Liebe, die ihnen bis zum
Grabe folgt und auch nicht unsterblich ist, so ewig sie sich
gebärdet.«
»Wie ist es mit dem Leichenbrennhaus?« lüsterte Ottilie.
»Ist es schrecklich zu sehen?«
»O nein, wie so 'ne Kapelle im Grünen, und unterscheidet
sich von den übrigen Ausstellungsunternehmungen
dadurch, daß kein Ausschank damit verbunden ist. Auch inwendig
ist sie gediegen, mit kirchlichem Fußgetäfel und Fenstergemälden
und Sargkränzen.«
»Werden welche verbrannt?«
»Es sind nur Probeöfchen vorhanden, und an den
Wänden Abbildungen von Verwesenden und was dazu gehört,
um das Begraben zu verekeln und für das Einäschern
zu gewinnen. Auch sieht man in Silberstangen-Nachbildung,
was das Todtbleiben an verschiedenen Orten der Erde
kostet, so daß Jeder sich sagt, das Sterben ist zu theuer, es
muß billiger werden. Und dann steht da in einem Glashafen
die Asche eines neunzehnjährigen jungen Mädchens.«
»Wie furchtbar!«
»Und von einem dreiundsechzigjährigen alten Manne.«
»Pfui!«
»Ottilie! Was kann der alte Mann dafür, daß seine
Asche keine Ruhe findet, indem die Besucher sie in die Hand
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nehmen und schütteln? Vielleicht verdient er es, denn seine
Asche ist schwärzlich, wogegen die des jüngeren, unschuldigen
Mädchens beinahe Schneeweiße erreicht. Man sagt ja auch
zuweilen: Einer taugt nicht bis in die Knochen. — Und
Schwarz ist nun einmal verdächtig.«
»Haben Sie die Asche auch in der Hand gehabt?«
»Nun ja, ich hob den Glastopf, worin sie ist, und habe
den alten Mann auch 'mal geschüttelt. Aber nachher hat
es mich gereut.«
»Wieso das? Die leblose Asche ist doch aus dem Kreislauf
des Seins geschieden und ohne Nervenketten, die das
Geistige auf animalischem Wege vermitteln.«
»Es war nachher, als ich im Hauptgebäude die trauernde
Familie sah.«
»Wie interessant! Die Angehörigen des Verbrannten?«
»Wenigstens eine Familie in Schwarz und Schmerz,
hinter Glas, naturgetreu ausgestopft und der Herr Prediger
lebenswahr in Wachs photographirt, wie er sie erbaut und
auf die Firma hinweist, wo die Costüme für tiefste Trauer
bis zum lila'nen Uebergang am vortheilhaftesten bezogen
werden. Mir gefiel besonders der eine Umhang mit echt
Jet; auch bemerkte ich, daß die überlebensgroßen Aermel
nicht mehr hochmodern sind. Gieb Acht, es wird wieder
ganz eng und glatt gegangen.«
»An Stoff wird man sparen.«
»Wer weiß jedoch, welche Art Plissé sie aufbringen,
wozu dann ebensoviel dazu gehört, wenn nicht mehr.«
»Und die Aenderungen kosten.«
»Deshalb muß man sich nie zu viel machen lassen.
Dein marineblaues Kleid ist mindestens überflüssig, es läßt
Dich auch nicht ersten Ranges; ich an Deiner Stelle würde
es in Berlin nicht tragen.«
»Meinen Sie? Ach, ich hatte mich so schrecklich darauf
gefreut. Alle fanden, es stände mir entzückend.«
Das Wasser trat ihr in die Augen, und sie wurde mit
einem Male kopfhängerisch, daß ich erschrak und mich auf
einen sofortigen Nervenausbruch gefaßt machte. Sie that
aber nichts dergleichen, sondern blieb still und traurig.
Das bedrückte mich. Stilles Leid ist wehestes Leid, wie
etwas Todtes, das kein Beklagen und kein Getröste wieder
58
in's Leben zurückruft. Und wer hatte ihre Freude erschlagen,
ihre Herzenslust an dem blauen Kleide, wo sie so selten zu
etwas Außergewöhnlichem kommt, und es sich erdarbte und
in ihrer Gedankenwelt damit spielte wie ein Kind mit der
Puppe? Wer hatte diese Greusäligkeit begangen?
Es war genau Diejenige-welche, — die kurz vorher sich
über die giftige Wahrheitsliebe der Krausen aufgehalten
hatte und die nun selbst mit ihrer Rede schmerzlich verwundete
und das mit Erdichtung obendrein, blos weil sie durch
Verbreitung der Modenzeitung und der Stoffe ganz dasselbe
Kleid hatte und mit Ottilie nicht aus einem Topf auf der
Bildfläche erscheinen wollte.
Es war keine Nothlüge, sondern eine Eitelkeitsunwahrheit,
der nun eine Beruhigungsflunkerei folgen mußte. Wer
lügt, steigt in einen verkehrten Zug und muß vorwärts
und schließlich Strafe zahlen und hat zum Schaden den
Aerger.
»Ottilie,« begann ich daher langsam, nach Ausflüchten
angelnd, »was ich eben sagte, trifft wohl nicht eigentlich
buchstäblich zu. Es war auch mehr als Turnübung für
Deine Nerven. Jawohl, nur deshalb. Wenn Du es so
mächtig gern hast, zieh es an. Ich lege mir ein Aehnliches
zu, so gut gefällt es mir. Du siehst doch ein, daß Deine
Nerven von Zeit zu Zeit geknufft werden müssen, das ist
Massage für sie, heilkräftig, stärkend und aufmunternd. Nicht
wahr, Du fühlst förmlich, wie gut es thut, daß ich eben über
das Blaue scherzte?«
Es war jedoch nichts mit der Beruhigung. Sie mochte
wohl merken, daß ich selbst nicht glaubte, was ich sagte.
Kinder und Kranke haben feine Fühlhörner an ihrer Seele.
»Ottilie, Deine Augen verlieren ihre Blänke, wenn Du
so weinst. Das wäre doch zu schade.«
Auch dies half nicht, die Nerven wurden facultativ.
»Ottilie, bist Du leidend? Geh' lieber in's Bett.«
»Ich, ich will nach Hause; ich mag nicht mehr in
Berlin sein. Ich haß es.«
»Stuß! Wenn Du retour kommst und hast die Ausstellung
nicht gesehen, was wird man sagen?«
»Ach, da schmäht man nicht den ganzen Tag und mäkelt
und häckelt nicht — in einemfort — immerzu.«
59
»Wer thut denn das?«
»Ich will weg. Zu Hause fanden Alle mein Blaues
ideal.«
»Ist es ja auch.«
»Nein. — Sie mögen es nicht — und nun — mag ich —
es auch nicht mehr.«
»Ottilie, so mußt Du nicht mit den Thränen aasen; das
sind die ganzen Lappen nicht werth,« nahm ich strenge das
Wort, weil sie sich immer tiefer in ihren Kummer versenkte,
der, bei richtiger Beleuchtung besehen, eigentlich keiner war.
Ist sie denn derartig vollkommen, daß unsereins bewundernd
still sein soll wie 'ne dodige Plötze? O nein. Die Wahrheit
muß heraus... das heißt, man muß sie vorher doch
einigermaßen prüfen, ob sie auch vertragen wird. Manche
trinken eine Flasche Bitterwasser und Andere haben von
einem Weinglase vollauf Beschäftigung, weil eben die menschliche
Kreatur auf das Verschiedenartigste beschaffen ist. Was
jeffen sie sich im Reichstage gegenseitig für vernichtende
Grobheiten über und ihnen fehlt nicht die Bohne danach.
Ich werde Ottilie auf die Tribüne schicken, damit sie ihre
Zimperlichkeit einsieht und sich die Härtigkeit der Landboten
zum Muster nimmt. Daraus wird jedoch nichts, falls es
zum Bruch kommt und sie abreist, nachdem sie kaum angelangte.
Was hilft alles Kochen, wenn das Ei hart ist?
Es wird nicht wieder weich.
Es galt einen Entschluß fassen und obgleich mir durchaus
nicht ausstellerig zu Muthe war, sagte ich:
»Ottilie, wenn Du vorziehst, Trübsal zu blasen, bleiben
wir in der Stadt und gehen heute nicht nach Treptow, wo
die erste Illumination stattfindet.«
»Wir wollten doch erst morgen hin,« entgegnete sie
mißtrauisch mit langsamer Eindämmung der Thränenbäche.
»Zur wissenschaftlichen Durchforschung bei Tage, ganz
recht«, antwortete ich mit einer neuen Verschiebung der Thatsachen,
denn meine Absicht war, die Beleuchtung erst in der
Zeitung zu lesen, ob sie glanzvoll gelungen oder mit welchem
unverzeihlichen Fehler das Comité sich beladen und zu erfahren,
ob man die Mark Entree mit hinterheriger Befriedigung
verschwenden darf, um die nächste Wiederholung mit
unserer Gegenwart zu beleben. Hieraus mir einen Vorwurf
60
zu machen, wäre unrecht, denn eine Sache findet bei uns
doch nur erst dann begeisterte Aufnahme, wenn sie bald nicht
mehr wahr ist oder die Spatzen sie von den Dächern ausschreien.
Aus eigenem Antriebe einen Nickel riskiren ist nicht
Sitte, so sehr auch Unternehmungslust dadurch gelähmt wird.
Deshalb entschließt mein Karl sich nur nach längerem Zögern
zu sogenannten hautes Nouveautés.
»Zieh' Dein Blaues an, Ottilie; wir gehen. Das
Wetter hält sich; ich habe tüchtig gegen die Barometerscheibe
geklopft.«
»Hilft das?«
»Wo doch. Blos um zu sehen, wohin der Zeiger sich
rührt. Er schnippte einen halben Strohhalm breit nach
Schön.«
»Wie entzückend!«
Und munter war sie; aufgesprungen und ab, um sich
zu schmücken. Der Mensch ist doch eine ziemliche Wetterfahne.
Ich war zufrieden mit dieser Wendung zum Trocknen,
und nahm mir vor, gut zu machen, was ich Ottilien möglicherweise
Leides gethan haben konnte, indem ich ihren Erziehungsgang
nicht hinreichend berücksichtigte und unbewußt
schroff wurde, wie sie es nicht gewohnt ist. Sie weinte zu
sehr, das arme Ding. Es ist aber auch zu dumm, daß sie
das nämliche Kleid hat. Vielleicht laß ich meins schwarz
besetzen oder dunkelrothbraun, was auch nicht übel zusammenschattirt.
Wir fuhren mit der Stadtbahn hinaus und da Ottilie
keine Ahnung von der Anlage des Ganzen hat, zog ich sie
mit mir nach der Spreeseite in die große grüne Branntweinskirche,
wo alle Verzehrungsgegenstände in ästhetischer
Zusammenstellung aufgethürmt sind. Solche Mengen und
Abarten von Bonbons hatte Ottilie noch nie gesehen, und
auch ich konnte nicht umhin, zu bemerken: »Die Kinder wissen
jetzt garnicht, wie genußreicher die Welt gegen uns geworden
ist. Wir hatten Zuckerkante und Huststangen und Rothe und
Weiße oder auch von den Dunkelbraunen, jedoch nicht an
die Neuerungen im Bonbonwesen zu denken von allen
Formen und Farben wie im Tuschkasten.« — Der Essig, die
Liköre, Fruchtweine und Riesenwürste fesselten sie weniger.
61
Von hier begaben wir uns in's nasse Viereck und
nahmen einen Kaffee. Die Lampen brannten und Ottilie
hielt diese Ecke für die völlige Ausstellung und schwärmte
für die vom Musikcorps des Kaiser Alexander-Garde-Grenadier-Regiments
No. 1 erzeugten Töne. So stromweise
»himmlisch« und »entzückend«, wie sie hier verzapfte,
wurden mir schier zu viel. Ich ließ jedoch gewähren. Nur
nicht kränken, nur nicht weh thun. Sie hat wirklich Nerven.
Je mehr es dunkelte, um so bescheerungsaufgeregter
ward ich. Hatte Ottilie mich mit ihrer Ankunft überrascht,
wollte ich Revanche nehmen und sie wieder überraschen.
Ein Kanonenschuß krachte von der anderen Seite her und
neugierig, wie ich selbst war, sagte ich: »Komm!«
»Ach, noch nicht gehen,« bat sie.
Durch die dämmerigen Laubwege schritt ich mit ihr.
Durch die Lücken schimmerte hin und wieder farbige Gluth.
»Aha,« dachte ich, »gerade recht, die Illumination brennt
schon.« Und dann über die flammeneingefaßte Brücke und
grade, als die Musik auf's Neue begann, standen wir vor
dem See und rund um uns und vor uns und wohin das
Auge blickte Licht, Licht und Licht, Flammen und Flämmchen,
weiß und roth und grün und auf dem See schwimmende
Lichtboote und die Rasen mit farbig leuchtenden Blumen und
die weißen Gebäude in rother Feuergluth. Ottilie klammerte
sich an mich. Sie fürchtete sich, so fest hielt sie sich.
»Ist Dir was, Kind?« fragte ich.
»Wo bin ich?« flüsterte sie. »Wache ich oder ist es
Traum? O wie schön, wie schön.«
Wir wandelten in die Lichtalleen hinein, in die Laubengänge
und schritten mit Tausenden zugleich unter den Lichtbögen
um den See. Rubinrothe Flammengehänge säumten
ihn ein. Die hingen von grün brennenden Weihnachtspergamiten
herab und spiegelten sich im Wasser.
Und in all diesen Feuerzauber hinein sang eine Nachtigall.
Die Wandelnden blieben stehen und schaarten sich zu
Hunderten um den kleinen Sänger.
»Die haben wir auch zu Hause,« sagte Ottilie. »Nachtigall
ist doch das Allerschönste.«
»Das ist die Natur stets,« entgegnete ich. »Und darum
62
ist die Kunst so schwierig. Bedenke, was dazu gehört, mit
der Nachtigall zu konkurriren?«
»Ach bitte, bitte, nicht denken heut Abend. Nur genießen
will ich all das Schöne: das Lichterfest, die Musik, den
singenden Vogel, die vielen vielen frohen Menschen. Wie
schön, wie schön. Ach, Frau Buchholz, wie hab' ich Sie
lieb.«
Nun war mir der Abend auch froh und lichthelle.
Ganz froh.

63

Bei den Maschinen.
Es kommt mir mitunter der Gedanke, als wenn zum
Berichten über die Ausstellung die menschliche Veranlagung
doch vielleicht zu kurz sei. Das Enorme, was dort aufgestapelt
wurde, erdrosselt das Einprägungsvermögen und wer
ist mit so viel sachlicher Erkenntniß beglückt, daß er über das
ihm Unverständliche ein richtiges Urtheil abgiebt? Und ich
bin doch im Grunde genommen keine Fachfrau.
Wollte ich meinem Karl klagen, wie mir dies allmählich
aufgeht, sagt der, ohne daß ich fragen brauche: »Wer sich
mehr aufpuckelt, als er tragen kann, stöhnt.« Darum schütte ich
ihm meine Sorgen nicht aus.
Nun könnte ich es mir leicht machen und über den Vergnügungspark
schreiben und das Industrielle verabsäumen,
aber dagegen sträubt sich mein Berlinisches Empfinden.
Allerdings: Kein Fest ohne Vergnügen. Ist jedoch die
Ausstellung blos zur Erheiterung der Mitbürger in die Welt
gesetzt? Nein, sie will zeigen, was Berlin als einzelne Stadt
und zwar als die Hauptstadt des Reiches in Gewerbe und
Industrie zu leisten vermag. Sie legt gewissermaßen eine
öffentliche Prüfung ab, damit sie zur Einsicht kommt, wo sie
mit Glanz besteht und wo es noch nicht genau genug ist.
Wenn Einer fühlt, daß er was kann, wächst ihm der Muth,
noch mehr zu können und es giebt Traute. Und wer sich
überzeugt, daß zugelernt werden muß, findet auch den Lehrmeister.
Mancher kümmert sich in Folge dessen vielleicht
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weniger um Politik und Partei und gewinnt mehr Zeit für
Vervollkommnung in seinem Fach.
In diesem Nachdenken störte mich Onkel Fritz mit einer
Zeitung aus London, worin zu lesen war: der Patriotismus
des Deutschen bestände in der Vorliebe für die Länder anderer
Völker und sähen diese noch so sehr auf ihn herab.
»Was soll ich damit?« fragte ich.
»Dir's zu Gemüthe führen.«
»Fritz, sie booßen sich, daß Deutschland in Handel und
Industrie so bedeutend und selbstständig geworden ist, daß
sie's spüren. Wem aber der schimpfliche Tadel paßt, mag ihn
sich anziehen und sehen, wie ihm die Hausknechtsjacke sitzt.
Es giebt ja leider Fremdlandslakaien.«
»Ich dachte, Du würdest einen großen Transch machen.«
»Bitte, bleibe bedeckt. Was verschlägt das? Sie hören's
ja nicht. Aber weißt Du, von Treptow aus weht ein frischer
Wind in Deutschlands Segel: paß acht, wie flotten Kurs es
nehmen wird. Dann haben sie die gebührende Antwort.«
»Und doch hat sich nicht die gesammte Industrie Berlins
betheiligt, es fehlen viele große Nummern.«
»Das nächste Mal machen Alle mit; das ganze Reich
macht mit; die ganze Welt macht mit.«
»Wenn Du meinst?«
»Jawohl, meine ich. Und Redensarten will ich mir verbeten
haben.«
»Hab' ich was gesagt..?«
»Ei ja doch! Gerade wenn Du manchmal Nichts sagst,
bist Du am deutlichsten. Aber was weißt Du von den mit
der Ausstellung verbundenen Schwierigkeiten, da Du auf
Mäkelbrüder und Nörgelmeier hörst, die natürlich reden, wie
sie's nicht verstehen.«
»Sei milde, Wilhelmine. Nimm mich unter Deine
Flüchtel und gängle mich mit Deiner Weisheit. Wie denkst
Du über eine Bierreise im nassen Viereck? Ich habe gerade
Zeit und Lust.«
»Bedaure. Ich habe die Maschinen vor und für Getränke
keine Zeit.«
»Das ist dumm; für Maschinen bin ich nicht anschläg'sch.
Hingegen das Moabiter Marinebräu, das ist was für meinen
Vater seinen Sohn, ganz so wie Faust sagt: zum Verweilen schön!«
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Es war nichts mit ihm anzufangen. Wenn er schon die
Klassiker verhohnackelt — wozu der Faust Gottlob immer
noch gehört — hat er vor unsereins erst recht keine Ehrfurcht.
Aus den einfachsten Aeußerungen macht er Männerken, daß
man an der eigenen Klarheit zweifelt. Und das ist doch
kein Genuß. —
Ich verabschiedete ihn und stadtbahnte mit Ottilie hinaus,
die mir das Elektrische verdeutschen sollte.
Wir nahmen unsern Eingang gleich unmittelbar bei dem
riesigen Kesselhause, das so zu sagen das Treibende vom
Ganzen ist und, wie Ottilie sagte, auf Oxydirung beruht.
Die Kohle verbindet sich mit dem Sauerstoff, der in Waldgegenden
von bester Güte ist, so daß schon aus diesem Grunde
Treptow als glückliche, wenn auch etwas entlegene Wahl gut
geheißen werden darf. Hieraus entsteht wissenschaftlich Licht-
und Wärme-Erscheinung.
»Wir nannten es sonst, glaube ich, Feuer,« bemerkte ich.
»Das gilt nicht im Examen. Feuer ist ja auch nichts
Wirkliches, sondern sieht nur so aus. Man kann es nicht
wägen oder messen, weil es keine Schwere hat. Es ist nicht
greifbar.«
»Weil man sich daran verbrennt.«
»Weil es kein Körper ist.«
»Ottilie, die Wissenschaft in Ehren, aber wenn es eine
bloße Erscheinung wäre, wie könnte man darauf kochen?
Und es ist bewiesen, daß alle Erscheinungen Einbildung
sind, wie Gespenster oder Spiritismus oder sonstige Augentäuschungen.
Nein, ich bleibe dabei: Feuer ist Feuer, nur daß
Coaks mehr Plätt-Hitze geben und Kien zum Beispiel wenig
austhut und sich besser zum Anmachen eignet. Und das ist
ferner klar, ohne Feuer kriegst Du keinen Dampf, und ohne
Dampf geht keine Maschine.«
Wir traten in die Halle.
Wenn man Maschinen sieht, entflieht Einem unwillkürlich
der Vers: »Da hab' ich Respekt vor dem menschlichen
Geist,« namentlich mit großen Schwungrädern und in hampelnder
Bewegung. Stillstehendes dagegen macht keinen
Eindruck, weil man von allem Drehbaren erwartet, daß es
schnurrt, und unbefriedigt vorüberschreitet, wenn es sich nicht
66
rührt. Das ist, als wenn man um Auskunft ersucht und
wird keiner Antwort gewürdigt.
Manches steht da unscheinbar, aber wenn es arbeitet,
ist es von höchster Schläue, zumal mit Erläuterung vom Erbauer.
Da fabriciren zum Beispiel die Pappenfritzen eine
billige Pappe mit so viel Stroh und Sandstaub mang, daß
sie dem Buchbinder beim Biegen in der Hand zerbricht. Was
thut nun der Maschinenmensch? Der denkt so lange, bis
ihm ein Geräth einfällt, worin die brüchige Pappe sich krümmt
wie ein Regenwurm und zur Verwunderung der gesammten
Buchbinderei ganz bleibt, die hierauf schleunigst die Maschine
anschafft.
Aber auch der Pappmann sieht die Maschine. »Aha,«
sagt er sich, »noch mehr Sand mang und noch mehr Stroh«
und der Buchbinder ist wieder aufgeschmissen, denn wenn er
noch billigere Pappe haben kann, wird er nicht so thöricht
sein und bessere, theuere nehmen. — Nun muß der Maschinenmann
wieder erfinden. Und so umzüchig weiter, bis die
Waare sogar für einen Fünfzig-Pfennig-Bazar zu lekrig geräth.
Und dann ist das Geschäft aus.
Ottilie meinte, es müßte bei Jedem dabei geschrieben
stehen, was es vorstellte, allein das wäre zu viel verlangt.
Zum Beispiel Röhren. Der Röhrenmacher weiß unmöglich,
wozu diese oder jene Röhre verwendet wird, was hindurch
laufen soll, und ob sie sich verstopft oder birst und kann nicht
für jede Einzelne Lied und Beschreibung herausgeben, und
andererseits bedarf man z. B. bei Wring-Maschinen keiner
Abhandlung. Und doch sind vielleicht Neuerungen daran, die
den Herrschaften zur Geldausgabe und den Philippinen zur
Erleichterung der Arbeit verhelfen. Von den sogenannten
technischen Verbesserungen des Hausgeräthes hat die Hausfrau
das Wenigste, und ob die Küchendonnas Einem Dank
wissen, ist sehr die Frage. Sie sträuben sich gegen Neuerungen.
Blos mit dem Bräutigam sind sie willfähriger.
Meine Dorette auch. Seitdem ihr Tapezier durch sinnlosen
Streit seine Arbeit verloren und ihre Spargroschen verthan
hat, ist's mit ihm aus. Ihr Kummer war heftig, aber
vergänglich, und um ihrem Ehemaligen die Rückkehr in das
Küchenparadies für ewig abzuschneiden, hat sie sich mit einem
Schutzmann verlobt, der dem Tapezier mit dem Schwert auf
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die Finger klopft, wenn er herein will. Er ist ein großer,
ansehnlicher Mensch mit rothblondem Schnurrbart und grauen
Augen, und wie Dorette sagt, durchaus nicht stolz, obgleich
er schon drei Einbrecher gefaßt hat, und wenn es ihm glückt,
einen Mörder zu packen, sprungweise avancirt. Nach meinen
Speisekammer-Wahrnehmungen ißt er Alles. Der Tapezier
ward zuletzt schon so kiesätig, daß Dorette unterschiedliche
Gerichte nur gezwungen auf den Tisch brachte.
Fleckweise ein Schutzmann im Hause ist rathsam.
Er verbreitet für die Schlechten das Gefühl der Furcht, für
die Guten das Gefühl der Sicherheit, und Dorette ist wieder
brauchbar. Soviel Geschirr hat sie zuvor nie geliefert, als
in den Wochen des zerbrochenen Verlöbnisses.
Genug, ich bin mit dem Tausch zufrieden und rechne
die Kalbsbratenreste als stillschweigendes Gehalt. —
Die Braupfannen, die Bierfilter, die Wasserreinigung
regten uns ungemein an und nicht minder die Nähmaschinen,
die auf das Niedlichste sticken und das junge Mädchen von
früher vollkommen ersetzen, von dem man Fertigkeit in jeder
feineren Handarbeit verlangte. Auch eine Handschuh-Nähmaschine
sahen wir, die überwendlich naht. Wohin soll das
führen? Die Fähigkeiten der Frau werden verschoben, sie
begiebt sich auf das geistige Gebiet, wo sie die Männer verdrängt.
Der Mann macht Maschinen, die Frau wird immer
unabhängiger, bis der Mann schließlich nur noch den Dampfkessel
zum Gesammt-Hausstandsbetriebe heizt, und die Frau
die Welt regiert. Dies werde ich, im Gegensatz zu der Pappe
und der Biegemaschine, die aufsteigende Linie nennen. Sind
wir erst mit Damen-Universitäten und Mädchen-Polytechniken
ausgerüstet, ist es Kleinigkeit, einen Standpunkt zu erreichen,
von dem aus die Frau das Ganze beherrscht, und ich glaube
nicht, daß dann noch viele Männer bis Mitternacht und darüber
in den Kneipen sitzen dürfen. Die elektrische Gasuhr
wird einfach abgestellt und es giebt nichts mehr.
»Unausstehlich, die Drehbänke,« murrte Ottilie, als wir
vorwärts wandelten und Vieles Kurbelige nicht im Gange
war.
»Ottilie,« antwortete ich besonnen, »das Nothwendige
kann wohl den Eindruck des Unausstehlichen machen, ist es
aber nicht. Die Bedürfnisse der Menschen weichen eben stark
68
ab. Was wolltest Du in der Sahara mit Schlittschuhen und
in Grönland mit einem Eisspinde, wogegen eine Drehbank
Dir vielleicht dringend fehlte.«
Ich war ihr diesen kleinen Vortrag schuldig, weil sie
doch vorhin gewaltig mit Eindruck und Erscheinung um sich
geworfen hatte. Hängt sie Bilder heraus, ich hab auch 'ne
Galerie.
Allmählich gelangten wir an die Badezimmer mit Wasch-
und Reinlichkeitsvorkehrungen und zu den Kesseln und Oefen
zum Desinficiren.
Was wußte man vor einigen Jahren davon? — Nichts.
Da erfand die Wissenschaft die Bacillen und das Karbol
und haste nicht gesehen: wohin der Mensch sich begiebt,
überall Bacillen und Sanitätsgestank. Denn den
können die Menschen kaum vertragen, viel weniger die
Mikroskobien, indem sie sich nicht zu entfernen vermögen
und in dem Dunst elendiglich krepiren.

»Wie merkwürdig,« sagte ich zu Ottilien, »daß solche
kleine Thiere Veranlassung zu so großen Apparaten
geben. Welches Geld muß
jetzt ihretwegen versalicylt werden, das die Nationen vor
ihrer Errungenschaft sparten oder in Dömen anlegten oder
sonstigen Kunstdenkmälern aus dem Mittelalter als Reiseziele
für die Fremden.«
»Es ist die Addition des Kleinen, wie ja das ganze
Universum aus der Multiplication der Atome mit den Kräften
besteht und somit auf das Gebiet der höheren Mathematik
übergeht.«
»Das Mathematische nimmt allerdings einen geachteteren
Stand ein,« setzte ich hinzu, um Ottilien bei ihrem Gedankengange
zu erhalten. »Früher erzählte man sich meistens Lächerliches
von den Professoren, wie sie statt des Hutes mit einem
Topfdeckel unter dem Arm ins Colleg gingen und thatsächlich
69
den in Gedanken stehengebliebenen Regenschirm geschaffen
haben.«
Mir schien nämlich, als ob ein junger Mann absichtlich
an denselben Gegenständen Antheil nahm, die wir betrachteten
und besprachen, wodurch ihm Aufklärung ward, die er
bei den Saalwärtern schwerlich fand. Folgte er aus Wissensbedürfniß
... gut. Hatte er jedoch ein Auge auf Ottilie geworfen,
sollte er inne werden, daß eine höhere Kulturschranke
sie umgiebt, die jeden Annäherungsversuch abschlägt. In
Ausstellungen gilt zwar das Drängelrecht, aber es giebt auch
geistige Ellenbogen.
Bei den Telephonanlagen hielten wir uns nicht auf, da
wir selbst eins haben, mit dem wir recht zufrieden sind und
dessen Anschluß selten versagt. Dagegen mußte ich mit
Ottilien in verschiedene »himmlisch« und »entzückend« ausbrechen,
als wir den elektrischen Theaterschmuck in Thätigkeit
sahen. Da waren Diademe, Halsperlen, Kronen, Blumenkränze,
Gürtel in einem Spinde, die in allen Farben erglühten,
sobald sie durch einen Druck mit der Leitung verbunden
wurden. Besonders ein Strauß aus Gräsern und Feldblüthen
war geradezu elfenhaft. Wie Aschenbrödel stand er zwischen
Silber und Gold und Edelgestein, mit einem Male aber entzündeten
sich die Mohnrosen und Gänseblümchen und die
Käfer und Schmetterlinge roth und blau und grün und
sonnenstrahlig, schöner als ringsum alle kalte Pracht, eine
wahre Gabe des Märchenlandes, in Berlin angefertigt.
»An Deinem Polterabend kleide ich mich als Fee aus
und gaukle mit solchem Zauberstrauß,« rief ich hingerissen
von dem Anblick, ohne weiter etwas dabei zu denken.
Ottilie erröthete und der junge Mann schlängelte davon.
»Aha!« ward mir klar, »nun der verliebte Hecht von
Polterabend gehört hat, glaubt er Ottilien in festen Händen
und macht sich dünne.«
Ottilie seufzte.
»Das Rasseln der Maschinen fällt mir auf die Nerven,«
begann sie nach einer Weile, »ich möchte ein wenig Ruhe.«
»Gewiß, Kind. Meine Fußnerven sengern auch schon.
Ich denke, wir nehmen ein Gläschen Bier dort in der
Brauerei, die zur Rast einladet. Unser Fleiß verträgt nachgerade
eine Belohnung.«
70
Ottilie seufzte noch einmal und schaute sich nach dem
Adonis um, der jedoch nicht zu erblicken war. Nirgends
kann man besser Versteck spielen, als hinter den Ausstellungsaufbauten.
Ein Schritt um die Ecke und weg ist man.
Wenn ich Adonis sagen wollte, so war dies eine Nachwirkung
der Glühschmuckpoesie. Ich denke mir die Adonisse
moderner in Zeug, und mit sauberster Wäsche und nicht mit
Schirmmütze und mit ohne Manschetten, wie es bei dem Menschen
zutraf, der, wer weiß wie, in die Ausstellung gerieth,
da ja mit den Eintrittskarten enorm geschmuggelt worden
ist, selbst bei solchen oberen Zehntausenden, die es nicht
nöthig haben.
Kaum saßen wir an einem Tischchen und sahen dem
Springbrunnen vor dem Kesselhause zu und nippten an
unserem Biere, als der junge Mann an unseren Tisch trat,
fragte, ob der freie Stuhl besetzt sei, und auf Ottiliens »Nein«
sich unverfroren hinplatzte.
Ottilien war dies ersichtlich wonnevoll. Wenn Eine
noch so dumm ist, den Anbeter wittert sie auf der Stelle.
Und Ottilie ist gescheidt.
»Schönes Wetter!« warf der junge Mann hin.
Ehe Ottilie ein »entzückend« abfeuern konnte, sagte ich:
»Wegen der Witterung sind wir nicht hier, sondern wegen
Gruppe dreizehn: Maschinenbau, Schiffbau und Transportwesen,
sowie namentlich Elektrotechnische Gruppe vierzehn.«
Adonis machte ein mehr als begriffstutziges Gesicht.
»Wissen Sie, was Elektricität ist?« fragte ich ihn.
»Nein.«
»Ach, Ottilie, Du wolltest es mir ja erklären. Nicht
wahr, das Kesselhaus ist das Treibende?«
»Die Verbrennung,« verbesserte sie, »durch diese entsteht
die Dampfkraft mit unglaublich rascher Rotation mehrere
Hundert Mal in der Sekunde.«
»Daß eine Maschine das so kann,« schaltete ich ein, um
Ottilien über eine Nachdenkpause wegzuhelfen. — »Und dadurch
entsteht der Strom,« fuhr sie fort, »den sieht man
nicht, weil er unsichtbar ist. Leitet man ihn durch einen
Draht, verwandelt der sich an dem anderen Ende in elektrisches
Licht.«
»Einfacher, als man annehmen sollte,« lobte ich sie.
71
»Wirklich sehr einfach.« — Dann wandte ich mich herablassend
an den jungen Mann, der ganz verwundert dasaß:
»Haben Sie das verstanden?«
»Nein,« lächelte er. »Nein... ich bin nämlich Elektrotechniker.«
Er löschte den Rest seines Durstes sehr rasch, stand auf,
verbeugte sich und schlug sich seitwärts ins Lokal.
»Es war ein Schwindler,« belehrte ich Ottilie.
»Aber so hübsch!«
»Er gestand selbst, daß er nicht wüßte, was Elektricität
sei, also. Vielleicht ist er Ritzenschieber bei der elektrischen
Bahn und rechnet sich auf diese Weise verwandt mit Siemens
und Halske.«
»O nein; er hatte so intelligente Hände und einen Diamantring
am kleinen Finger.«
»Wird wohl Simili gewesen sein. Ottilie, was gehen
Dich die Hände der Mannsbilder an? Traue keinem. Du
hast jetzt ein Exempel, wie falsch sie sind. Aber sei ruhig:
dieser ist entlarvt; der wagt sich nicht wieder heran.«
Sie seufzte.
»Komm, Ottilie. Die Maschinen und die Elektricität sind
erledigt, nun wollen wir Musike hören. Deine Kenntnisse
haben Dich vor einem Reinfall bewahrt; danke Deinem
Schöpfer, daß Du so gründlich studirt hast.«
Sie seufzte noch einmal und nur langsam folgte sie mir.
Aber ich werde ihr schon Menschenkenntniß beibringen.

72

Ueber Architektur und einiges Andere.
Nun ist Tante Lina auch da.
Aber ihre Handtasche nicht. Die reist ohne Fahrschein
weiter und hat sich bei der EisenbahnfundstelIe noch nicht
angemeldet. Einer ist immer unterwegs nach der Koppenstraße,
entweder mein Karl oder Jemand aus dem Geschäft
oder Dorette oder ich mit Ottilie und Tante Lina in eigener
Person.
Tante Lina kann den Verlust nicht überwinden, ihr
Gedankengang führt sie immer und immer wieder auf die
Tasche. Dies ist ihr Morgen-, Abend- und Tischgebet.
»Waren denn Werthpapiere drin?« fragte ich.
»Nein.«
»Oder Goldsachen?«
»Meine Uhr habe ich zu Hause gelassen und meine
Ohrringe auch. Die werden den Leuten in Berlin ja auf
offener Straße ausgerissen.«
»Mir neu!«
»Bäcker Lorenz hat es erzählt. Den haben sie in Berlin
rein ausgeplündert; in den Blättern stand es auch.«
»Liebe Tante, es ist wohl mit Kindern vorgekommen,
aber mit erwachsenen Bäckermeistern noch nicht.«
»Die betäuben sie. Wenn mir einer was zu riechen giebt,
ich rieche nicht.«
»Sehr vernünftig!«
»Ich hatte mein Eau de Cologne in meiner Tasche.«
73
»Wir kaufen frisches.«
»Nein, nein, ich bekomme meins zu Neujahr von Apotheker
Bahnsen, der setzt es selbst an. Es ist viel besser als
das echte, viel kräftiger. Er hat sich jetzt wieder verheirathet,
die erste Frau starb, mit Erlaubniß zu sagen, im Wochenbett.
Nun saß der Mann da mit den drei Kindern. Sie sagten,
er würde wohl die Schwester nehmen, aber die war ja so
gut wie versprochen mit dem Steuereinnehmer Möller, das
ging doch nicht und da nahm er dann die Aelteste von
Kaufmann Milberg am Markt. Ob sie in das Gewese hineinpaßt,
darüber sind die Ansichten verschieden, ich will aber
nichts gesagt haben, nicht das Leiseste, sie kann sich ja noch
gewaltig ändern. Und das wollen wir hoffen. Und wer
weiß, ob es ein Glück für Möller ist. Und Bäcker Lorenz...«

»Liebe Tante, ich habe ein Fläschchen, unangebrochen,
darf ich es Ihnen anbieten?«
»Ach nein, das kann ich ja gar nicht verlangen, und
das ist ja auch nicht nöthig, wenn ich meine Tasche wieder
habe.«
»Vielleicht hat sie Jemand mitgenommen, der sie gebrauchen
kann.«
»Oh, oh! das kann doch nicht angehn? Meine Tasche?
Er wird doch nicht, mit Erlaubniß zu sagen, meine Zahnbürste
gebrauchen?«
»Wir kaufen eine neue.«
»Nein, nein. Meine ist von Viedt in der Kuhstraße,
74
ich bin nun mal an Viedt seine gewöhnt, schon beim alten
Viedt. Der junge Viedt arbeitet ebenso solide wie der alte
Viedt. Der alte Viedt war gediegen, aber der junge Viedt
ist es auch. Das muß man ihm nachsagen. Ueberhaupt die
Viedt's: ich sage immer, solche Bürsten wie Viedt's ihre findet
man nirgends in der Welt; sie halten Jahre. Was sage
ich, Jahre? Jahrende.«
»Wenn die Tasche aber weg ist?«
»Sie findet sich wohl wieder an. Wir müssen blos das
Nachfragen nicht vergessen. Ist Jemand hin?« —
Meinem Karl machte weder die Taschenjagd Vergnügen,
noch hatte er Sinn für Tante Linas chronisches Gedächtniß.
Sie wußte von allen Verwandten und Bekannten, wen sie
geheirathet, wann sie geheirathet, wann und was für Kinder
geboren, wann und wen die geheirathet und wer gestorben
und wann und wo, und ob etwas hinterlassen wurde oder
Schulden, und von den Cousinen kannte sie wieder die Cousinen
und wen die geheirathet und wann und mit wie viel.
»Karl,« sagte ich, als er brummte, »jedenfalls ist die
Behälterigkeit der alten Dame anzuerkennen.«
»Wie so? Sie thut ja nichts, als sich mit Familienmuff
vermüffeln.«
»Lohengrin und sein Schwan kommen nicht in ihre
Gegend, also was bleibt ihr? Und außerdem hat sie Moneten.
Und in ihren Briefen schrieb sie, sie wollte Berlin
gerne sehen, ehe sie ihr Testament machte. Das ist ein Wink,
Karl. Wenn man sie richtig nimmt, vermacht sie ihr Vermögen
den Enkeln, die doch studiren müssen.«
»Ich schleiche nich erb,« lehnte er kurz ab. »Die Tante
mag sich bei uns wohl fühlen, das wünsche ich, aber ihr
Schwägerschaftsgeklöne auszuhalten, habe ich nicht kontraktlich.
Und ödet sie mich noch einmal mit Lieferanten aus
der Kuh- und Kälberstraße, werde ich auch öde.«
»Wenn Viedt aber doch die besten Bürsten macht?«
»Kommst Du mir auch schon mit dem? Ich verbitte
mir Viedt ein für alle Mal.«
»Wer fängt von Viedt an? Du fängst von Viedt an.
Und was geht mich Viedt an? Warum fährst Du nicht
mit Tante Lina nach Treptow, ihr Welteindrücke beizubringen?«
75
»Nein, mein Kind. In einem Coupee mit Tante Lina
und Viedt und Kompagnie und nicht herauskönnen... ich
würde rasend.«
»Du rasest nie, mein Karl. Du bullerst selten genug
auf. Ein Mann muß geeignet dazwischen fahren, die Umgebung
auf den Trab zu bringen. Dorette wird obstinat,
mein Karl, wegen Tante Linas Eigenheiten.«
»Ich meinte, sie wäre anspruchslos.«
»Aeußerlich. Sie sträubt sich allerdings mit vielem
Gerede gegen Umständemachen, aber wenn nicht jegliches
auf den Tippel nach ihrem Kopf geht, nimmt sie's übel.«
»Laß sie knurren.«
»Sie bleibt immer gleichmäßig zurückhaltend und duldsam
und zwirnt Dir blos eine bezügliche Geschichte aus der
Gevatterschaft vor, ganz lang und ganz langsam mit Spitzen
darin, ein Schleppkleid zu garniren. Du hast Deine Pillen
weg und weißt nicht wie, und die alte Dame verzichtet
lächelnd auf Dank.«
»Das erträgst Du kaltblütig?«
»Ich leide für die Enkel, besonders für Fritz, der schon
jetzt Anzeichen von Rechtsbewußtsein äußert, indem er sich
nichts nehmen läßt. Und wer kann heutzutage Assessor
studiren, ohne eine Erbtante in der Hinterhand?«
»Warum kein Geschäft ergreifen? Du siehst doch auf
der Ausstellung, daß außer den Studirten auch noch Leute
leben. Und wie hoch steht der Mann da, der aus eigener
Kraft der Stadt und dem Staate zur Ehre gereicht!«
»Der Jurist steht höher. In Moabit trifft sich zuletzt
Alles. Die Seelenseligkeit kriegst Du nur durch den Geistlichen
und Dein Recht nur durch den Juristen. Der Geistliche
kriegt keinen Juristen in den Himmel, aber der Jurist
bringt den Geistlichen in's Loch, je wie die Verhältnisse
liegen. Nein, Fritz studirt Rechtsgelehrtheit, dann ist er allen
Ständen über. Der Junge ist ja so süß.«
»Er macht den Eltern mehr Verdruß als Franz.«
»Weil sie den Knaben nicht verstehen. Wer sich Zwillinge
leistet, darf keinen von Beiden vorziehen. Gleiche
Wäsche und gleiche Liebe. Also was haut Er Fritz?«
»Weil der Bengel sagte, ein Hund hätte ihm die Hosen
76
zerrissen, worauf der Vater nach Bißwunden sucht und findet,
daß Fritzchen gesohlt hat. Warum log er?«
»Um von Jemand Strafe abzuwenden.«
»Von wem denn?«
»Nun von sich selbst. Ihm war das Malheurchen beim
Treppengeländerrutschen passirt, was sie ja eigentlich nicht
sollen. Aber anstatt sich über das Talent des Kindes zum
Advocaten zu freuen, drauf losgedroschen, wie auf kalt Eisen.
Und ich sage Dir, ehe Tante Lina Berlin verläßt, hat sie
Fritzchen in ihr Herz und ihr Vermächtniß geschlossen.«
»Deine großmütterliche Verblendung geht zu weit. Warte
doch ab, was die Zeit bringt.«
»Die Zeit läßt sich zu viel Zeit. Die Karre geht nur,
wenn sie geschoben wird. Nächstens machen wir eine große
Kinderpartie nach der Ausstellung, Tante Lina als Mittelpunkt,
damit sie Gelegenheit hat, Fritzchen lieb zu gewinnen.
Uebrigens frage doch wieder nach der Tasche. Wie wäre
es, wenn der Knabe sie der Tante überreichte?«
»Mit einem Prolog? Wilhelmine, ich kenne Dich kaum
noch. Was hast Du?«
»Karl, viele Freuden des Daseins machen erst dann
Freude, wenn sie glücklich überstanden sind. Die Ausstellung
dauert noch bis zum Oktober.« — »Adje,« sagt er.
Ein Glück, daß er in der Fabrik schläft. Tante Lina
steht schon um Vier auf und Dorette muß heraus und ich
muß heraus. Ottilie liegt wegen ihrer Nerven durch bis
sieben. Natürlich zweimal Kaffee trichtern. Tante Lina ißt
bei sich zu Hause um zwölf Mittag, wir essen um dreien.
Sie geht früh spazieren, traut sich aber nicht allein auf die
Straße. Ich muß mit nach dem Friedrichshain. Mein Mann
trinkt den Kaffee mit Ottilie. Er findet ihre Augen hübsch.
Und dabei soll man Ausstellungsberichte schreiben.
Aber wozu ist Kriehberg?
Ihn allein mit Ottilien durch die Gefilde Treptows
streifen zu lassen, das geht nicht, bewacht jedoch Tante Lina
sie als Schutzgeist, kann ich ruhig sein. Sie hat so runde
betriebsame Augen, und hört auch gut für ihre Jahre, die
an den Fältchen im Gesichte kenntlich sind, namentlich auf
der Stirn. Auch marschiren kann sie rüstig. Das regelmäßige
Leben in der Abgeschiedenheit macht alt und dauerhaft. —
77
Herr Kriehberg hat mir Beschreibungen von den Baulichkeiten
der Ausstellung gesandt, sogar mit Entwürfen,
sauber ausgeführt auf Glanzleinewand, metergroß, wofür ich
ihm die Auslagen erstatte, obgleich sie so nicht zu verwenden
sind, es sei denn als Hochzeitsgeschenk für einen Baubeflissenen.
Anfangs tadelte Kriehberg sehr, jetzt ist er zu der Einsicht
gelangt, daß die Bedingungen der freien Entfaltung
Hemmschuh anlegten und selbst er unter solchen Umständen
die schwierige Aufgabe nicht glücklicher gelöst haben würde.
Wo war auch wohl je auf einer Ausstellung ein Gebäude,
durch das mitten hindurch eine garnicht mal nothwendige
elektrische Eisenbahn fährt, wie durch den Riesenbau für
Unterricht und Erziehungswesen, Gesundheitspflege und Wohlfahrtseinrichtungen
und es so zerschneidet, daß man vom
Vorderen zum Rückwärtigen über eine Treppe hinauf und
hinab steigen muß? Hier wird gezeigt, wie elektrische
Bahnen angelegt werden können: immer durch die Häuser,
wo welche im Wege stehen und nicht erst Tunnels unter der
Straße buddeln oder Hochbahnen an den Etagen vorüber,
daß jeder sich scheniren muß, halb angezogen ein Vorderzimmer
zu betreten, wenn der Draht versagt und die Fahrgäste
plötzlich vor den Fenstern halten und das Privatleben
bekritteln.
Leicht faßlich war Kriehbergs Arbeit nicht, zumal er
mit verschiedenen Standpunkten kommt und massiv im Ausdruck
wird. Was ihm unschön erscheint, das fällt Tausenden
nicht auf und warum Kunstblinde sehend machen, da sie sich
in ihrem Zustande wohlig fühlen? Wird nicht an allen
Ecken und Kanten hinreichend zur Unzufriedenheit aufgestachelt?
Dies ist nicht mehr gut genug und das taugt nicht
mehr, dieses ist veraltet, jenes unzeitgemäß, darum weg
damit, als der Menschheit unwürdig. Nun kommen die
Gewaltsbeglücker mit ihren Plänen, die passen wie ein Paar
sechsfach patentirter Schuhe aus ausgesuchtestem Leder, blos
mit dem einen Fehler, daß sie nicht nach Maaß gearbeitet
sind. Wer darin vorwärts will, den kneifen sie und statt
der versprochenen goldenen Berge hat er eine Hühneraugenzucht. —
Die Spreu vom Weizen zu sondern braucht' ich Ruhe
und Sammlung.
78
Tante Lina und Ottilie mußten für einige Stunden unschädlich
gemacht werden.
Sie gingen auf meinen Vorschlag ein, die Residenz in
Augenschein zu nehmen, die Denkmäler, die Palais, die neuen
Stadttheile und was sonst für Fremde in den Führern aufgezeichnet
ist, vom Abgeordnetenhaus an bis zum Zellengefängniß.
Ich verfrachtete sie in einen distinguirten Taxameter
und erklärte ihnen den Sprechanismus. Es gefiel Tante
Lina ungemein, daß man keinen Nickel mehr zahlen braucht,
als der Apparat beziffert. »Als ich in die Nähschule ging,«
sagte sie, »bei Madame Werner, die konnte so fein spinnen
wie Seide, da hatten wir einen Haspel, woran man sehen
konnte, wann fünfzig Touren herum waren beim Garnwinden.
Wenn man nicht aufpaßte, gab es doppelte Strähnen und
dann schalt sie. Dies ist wohl auf die nämliche Art von
dem nämlichen Drechsler?«
Der Kutscher versprach mir, die Damen auf das Sehenswerthe
aufmerksam zu machen und fuhr mit ihnen ab, zunächst
nach der Koppenstraße wegen der Tasche.
Ich athmete auf. Endlich Ungestörtheit, den Bericht
über Ausstellungsarchitektur zu erledigen, wenn ich auch einsah,
daß ich wenig von Kriehberg benutzen konnte, höchstens
wo er sich in Renaissance oder frühe und späte Gothik versenkt
und von Risaliten spricht und Fialenwerk, Profilirung,
Friesen, Motiven, Originalität, Rabitzwänden, Stabilität,
Blenden, Dachreitern, Krabben u. s. w. Was er in gewöhnlichem
Deutsch schreibt, darüber läßt sich streiten und ich will
mich hüten, hinterher für seine Ansichten verantwortlich gemacht
zu werden. Etwas muß ich von seiner Arbeit verwenden,
denn es geht ihm nicht besonders, da er nach Vollendung
der Ausstellung mit einem Viertelsposten vorlieb
nehmen muß. So baronisirt er wenigstens nicht gänzlich.
Ich war Willens, den Bericht mit sachlichem Ernst zu
beginnen, aber du lieber Gott, sonne Architektur! Man hat
wohl Tinte in der Feder, schöne schwarze Tinte und stippt
nochmal ein und nochmal, aber Bauliches fließt nicht heraus.
Man sinnt und stippt wieder ein. Allein schon die Ueberschrift.
Eine gute Ueberschrift ist der halbe Aufsatz. Soll
man sagen: »Ueber Gebäude« oder »Architektonische Wanderungen«
oder »Sommerwohnungen des Gewerbes« oder
79
»Vom Palast zum Wigwam«, um die Wilden mit hineinzunehmen
und gleich das Mächtige des Hauptrestaurants anzudeuten?
Nicht schlecht schien mir: »Die Wunder des
Gipses.«
Nach langer Ueberlegung entschied ich mich für »Das
Häusliche auf der Ausstellung«, weil mit Haus alles bezeichnet
werden kann, sowohl die Moschee wie der Katalog-Kiosk
und wollte grade losorgeln, als Tante Lina und Ottilie zurückkehrten.
»Schon?« fragte ich.
»Ueber eine Stunde ist genug,« antwortete Tante Lina.
»Blos Geld verfahren, dazu hat man es nicht.«
»Und wie gefällt Ihnen das neue Berlin?«
»Berlin?« fragte sie nach. »Man sieht ja nichts von
Berlin. Nein, ich kann nicht sagen, daß ich was von Berlin
gesehen hätte.«
»Hat der Kutscher sie denn um die Stadt herum gefahren?«
»Das glaube ich nicht.«
»Und Du, Ottilie, Du freutest Dich doch so ungemein
auf die Fahrt. War sie denn nicht entzückend?«
»O ja,« antwortete sie, als wäre das Ja eine Gummistrippe.
»Hat der Kutscher nicht beim alten Fritzen gehalten und
bei Wrangeln und den übrigen Plastizitäten?«
»Die Uhr ging ja auch weiter, wenn er hielt,« sagte
Tante Lina spitz. »Es ist Alles Betrug. Für's Halten kann
man doch nicht bezahlen?«
»Welche Uhr?«
»Das runde Dings am Kutscherbock. Wir haben genau
Acht gegeben, nicht wahr, Ottilie?«
»In einem fort.«
»Bis es mir zu theuer wurde, da mußte er umwenden.«
»Also blos auf die Uhr haben Sie gesehen?« fragte ich
erregt. »Blos auf den Fahrpreisanzeiger und nicht rechts
und nicht links? Da haben Sie ja völlig nutzlos im Wagen
gesessen!« Für mich fügte ich hinzu: »Was sagt Berlin zu
solchen Kunden?«
»Immer wurden es zehn Pfennige mehr,« warf Tante
Lina mir vor. »Wie sich das ansummt.«
80
»Man wendet kein Auge von dem Zeiger,« suchte Ottilie
sich zu entschuldigen, die meine Entrüstung merkte, »ob man
will oder nicht. Wie magnetisirt.«

»Gewiß,« sagte ich, »dazu sind die Zähldroschken extra
erfunden. Das nächste Mal nehmt Ihr keinen Weißlackirten,
sondern einen einfach Schwarzen.«
»Und dann fahren Sie mit,« sagte Tante Lina, »und
zeigen uns Alles, damit ich zu Hause erzählen kann, wie
Berlin eigentlich aussieht. Die Zwei Mark vierzig heute
sind rein weggeschmissen. Gut, daß Oberlehrer Kranz das
nicht erfährt, der behauptet immer, Frauen können nicht
rechnen. Seine Frau versteht es allerdings nicht, sie giebt viel
zu Unnöthiges aus; ihr Vater machte bankerott; das Geld
lag in der Ofenröhre, und wer was brauchte, nahm welches,
das konnte nicht bestehen. Und mehr als knappe Aussteuer
brachte sie nicht mit. Kranz giebt ihr nie über drei Mark,
aber die Leute sagen, sie läßt anschreiben. Er hätte sich
besser mit Viedt's Tochter gestanden, Viedt's stehen sich
breit...«
»Bitte, entschuldigen Sie mich; ich muß in die Küche.«
— Halb verzweifelt flüchtete ich ins Kontor.
»Was ist? Was giebt's?« fragte mein Karl bestürzt,
als ich, dem Weinen nahe, auf das Kanapee sank.
»Viedt,« stöhnte ich.
»Armes Weib.«
»Karl, eine Postkarte! Ich schreibe der Redaction: auf
81
Architektur müßte sie Umstände halber verzichten. Aber
spotte nicht. Ich bin so mürbe, so mürbe.«
»Minchen, weißt Du 'was? Wir Beide ganz allein
machen hinaus nach Treptow. Ich habe im Weinhäus'l
einen vorzüglichen Tropfen ausbaldowert. Wir ganz allein,
Minchen.«
»Ja, mein Karl. Sicherer wäre am Ende nach dem
Grunewald. Aber wie Du willst.«
Es giebt doch keinen heilenderen Balsam als ein liebendes
Wort. Das empfand ich so recht einmal wieder.

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Ein freier Tag.
Wenn es gewittert, fürchtet Tante Lina sich. Dann
kriecht sie ins Bett.

Ottilie sagt, der Strauß macht es ebenso. Ich weiß
nicht, ob der sich auch das Kopfkissen über die Ohren zieht,
um den Donner nicht zu hören und bei jedem Blitz aufjucht
wie Tante Lina, würde es ihm jedoch nicht übel nehmen,
wenn er es thäte, weil er als Wüstenvogel für die neueren
Erfindungen kein Verständnis hat, wie man von Mitgliedern
des neunzehnten Jahrhunderts verlangen kann.
83
Tante Lina lebt und liest in der Jetztzeit und müßte daher
wissen, daß Gewitter auch im Kleinen mittels Elektrisirmaschinen
hergestellt werden können, wie Ottilie ihr beruhigungs-
und aufklärungshalber aus Krüger's Lehrbuch der Physik
vorgelesen hat, worin ein Papphäuschen abgebildet ist, das
durch den positiven Funken auseinanderklappt.
Bei dem geringsten Gewitterverdacht bleibt sie daheim
und bei dem ersten fernen Grollen des Horizonts flüchtet sie
in die Federn.
Mein Karl findet das altfränkisch; Ottilie meint, es wäre
Idiosynkrasie gegen elektrische Spannungsverhältnisse, obgleich
im Meyer unter diesem Worte mancherlei steht, was ich von
Tante Lina unmöglich annehmen kann und sich auch mehr
in Widerwillen gegen Speisen äußert, der mir bis dato bei
ihr nicht aufgefallen ist. Dorette beschwert sich über das
mehrfache Bettenmachen, zumal wenn mehrere Gewitter am
Tage sind, und schilt Monologe. Ich für meine Person behaupte,
es ist das Alleinstehende, das sie ins Bett treibt.
Wenn es so recht graulich wird, beinahe Nacht am
Tage, und ein Blitz fängt an, den anderen zu überbieten und
das Rollen wird zum Knattern, dann gehe ich zu meinem
Karl, oder er kommt zu mir, und ich fühle mich geborgen,
denn ohne etwas Bänglichkeit ist man doch nicht, wenn Blitz
und Schlag eins sind und man sich sagen muß: es steht gerade
über uns, mit den dunklen Wolken, den Schwingen des
Todes. Gottlob, wenn sie verschweben und der Himmel
lichtet sich wieder.
Warum Tante Lina sich unvermählte, danach frage ich
sie nicht. Vielleicht, daß Solche warben, die weniger sie, als
ihr Vermögen begehrten, vielleicht, daß sie sich zu lange
jugendlich dünkte, und als sie sich besann, mit Schrecken bemerkte,
daß sie bereits zu den Kaltgestellten zählte. Und dann
ist das Assortiment der Heiraths-Candidaten in kleinen Städten
meist nur gering kompletirt, und ist keiner darunter, für den
das Herz schlägt: warum den Prediger zu einer Traurede
verleiten, die zum Höllensegen wird anstatt zur Segnung
irdischen Glücks?
Und darum geht Tante Lina ins Bett, wenn es donnert.
Man darf die Schwächen seiner Nebenmenschen eigentlich
nicht ausnutzen, aber wozu sind sie da, wenn sie nicht
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verwendet werden sollen? Als es wieder heiß und schwül
war und Tante Lina ihre Zuflucht zur Baba nahm, weil
sie das Gerummel eines Bierwagens in Kinderüberfahrgeschwindigkeit
für die Stimme der erzürnten Vorsehung gehalten
hatte, sagte ich zu meinem Manne: »Karl, sie liegt
fest, ich habe frei. Was meinst Du, wenn wir zwei Beide
alleine gingen? Ottilie sucht die Tante Lina mit dem Physikbuch
zu bekehren und hat auch noch Briefe zu schreiben. In
den nächsten Tagen kommen Ungermann's und dann Kliebisch's
... Die Gelegenheit ist heute günstig.«
»Ich muß so wie so hinaus und nachsehen, ob der letzte
Regen meiner Ausstellung Schaden zugefügt hat. Der
Reichsadler aus den schwarzen Socken auf weißem Grunde
reicht dicht bis an das Glasdach.«
»Und die Blauholz-Brühe läuft in Strähnen herunter?«
»Nicht doch, die Strümpfe sind goldecht gefärbt.«
»Wie Dein Herz, mein Karl. Nein, Du stellst nichts
Unredliches aus, selbst nicht in der dekorativen Verzierung.
Dir müßte die Stadt eine Statue setzen.«
»Unter einer halben Million thäte die es schwerlich.
Und noch leb' ich ja, und heute wollen wir vergnügt sein.«
»Nicht so laut, Karl! Du scheuchst Tante Lina auf.
Seit einer Viertelstunde bullert kein Wagen, der sie niederhielte.
Aber weißt Du was...?«
Ich hinaus nach der Küche und die Blechplatte geholt
worauf ich familiäre Konditorwaare backe, und die zum Gewittermachen
gebraucht wurde, wenn die Kinder Puppen-Theater
spielten, wie Onkel Fritz ihnen gezeigt hatte.
»Karl, faß' es an den Ecken oben an und schüttle es;
erst langsam, dann mit zunehmender Gewalt und dann ganz
balbarisch.«
Er übte einige Male bei verschlossener Thür, und als
er es konnte, brachte er auf dem Gange einen so natürlichen
Donner heraus, daß ein staatlich angestellter Metereologe
nicht im Stande gewesen wäre, ihn von einem echten zu
unterscheiden.
Sogar Dorette eilte herbei und fragte, ob es eingeschlagen
hätte.
Ich reichte ihr das Blech und sagte, der Herr hätte ein
neues Rostschutzmittel probirt, weil sie das Geschirr nach dem
85
Aufwaschen nie ordentlich austrocknete, worauf sie mit länglicher
Gesichtsbildung abzog.
Wir haben aber gelacht, mein Karl und ich. Nein, wie
haben wir gelacht! Immer wieder, und uns Tante Lina
ausgemalt, wie sie sich ins Bett eingräbt und die Ohren
verpanzert. Und lachenden Sinnes verließen wir das Haus
wie die großen Kinder.
Wir hatten ja einen freien Tag.
Uns lächelte das Glück. An meines Karls Aufbau war
der Regen vorbeigeglitten, um einen Konkurrenten einzunässen;
der Adler prangte siegreich in seiner ganzen künstlerischen
Schönheit. Wir betrachteten die Sündfluth nebenan,
denn kein Mensch ist so hartherzig, daß ihn das Mißgeschick
seines Nächsten nicht zur Begutachtung einlüde und
als wir den Schaden verhältnißmäßig gering fanden, waren
wir zufrieden. Es hätte uns ja das Nämliche blühen
können.
In dem Hauptgebäude naschten wir hier und da im
Vorübergehen an den gewerblichen Leistungen und strebten
dem Freien zu. Im Grünen sitzen, das schöne Konzert der
badischen Leibgrenadiere aus Karlsruhe anhören, das war
unser Plan. Sie spielen ausgezeichnet, auch ältere Stücke
aus altmodischen Zeiten, die mir besser gefallen, als welche
die Jüngeren machen. Die fangen an, die Musik windet
und krümmt sich, und wenn man meint, nun kommt da 'was,
ist die Geschichte aus.
Der Blick auf das weiße Eß- und Trinkschloß mit dem
Wasserthurm ist bei Nachmittagsbeleuchtung einzig. Von der
Sonne angeglüht, hebt es sich italienhaft von dem blauen
Himmel ab, und spiegelt sich in dem See, den Gondeln und
Barken beleben. Auch die in den Park hereingeleitete Spree
muß verdienen helfen, und das thut sie, indem Hunderte sich
für einige Nickel nach dem Karpfenteich hin und zurück
wricken lassen. Da ich ebenfalls Gelüste äußerte — Wasserfahrt
mit Walkürenritt-Orchesterbegleitung ist eben zu ideal —
willigte mein Karl ein, aber gerade, als er die Schwimmscheine
für uns lösen wollte, redete ihn ein Herr an.
»Endlich erwische ich Sie,« sagte der.... »Kommen
Sie man gleich mit. Sie haben mir versprochen, unseren
Pavillon zu besuchen; jetzt hilft kein Sträuben.«
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Mein Karl stellte ihn vor: »Herr Schulz, städtischer Beamter,
Freund vom Stammtisch.«
Dieser Zusatz wirkte vergällend, denn alle Erfahrungen
die ich bis dato mit diesem Möbel gemacht habe, sind unerfreulich.
Ich halte den Stammtisch für eine Art Magnet,
der nichts Gutes an sich zieht, wodurch die Besseren verdorben
werden und sollte thun als wenn ich mich geschmeichelt
fühlte. Diesem zu entgehen sagte ich: »Wir wollten gerade
ein wenig gondeln.«
»Das ist bei Abend viel schöner,« entgegnete Herr Schulz,
»und wir machen um Achten zu. Gehen wir gefälligst.«
Sich mit städtischen Beamten anlegen, halte ich für riskant;
ich fügte mich daher, als hätte das Gesetz gesprochen.
Auch kam mir unwillkürlich der Gedanke: sollte dieser Schulz
wohl gar die Strafe für den Unfug sein, den wir mit Tante
Lina getrieben?
Es giebt eine Nemesis, nur daß der Eine früher hineinrennt,
der Andere später. Aber gerannt wird.
Herr Schulz hakte meinen Mann unter und zog ihn wie
einen Arrestanten vorwärts. Ich folgte, bis vor einer Einbuddelung
mit Mauerarbeit gehalten wurde.
»Nur heran,« sagte Herr Schulz. »Nur heran, Madamchen.
Hier können Sie sich mit dem Haupt-Kanalisationsrohr
der Stadt Berlin anfreunden und Ihre geehrten Vorurtheile
gegen die Rieselfelder ablegen. Oder gehören Sie
schon zu denjenigen, welche eine höhere Stufe erklommen
haben und nichts gegen den Kohl einwenden, den wir bauen?«
»O nein,« erwiderte ich mit einiger Anstrengung zu lächeln.
»Schönecken. Womit die Stadt am meisten zu kämpfen
hat, das ist der Unverstand. Sehen Sie dieses Rohr aus
besten Klinkersteinen — bitte treten Sie ein — stellt die
unterirdische Leitung dar, durch das die Abwässer entfernt
werden. Hier an der Seite die Hausanschlüsse. In der
Mitte der Einsteigeschacht.«
Wir also hinein in das Rohr. Es war trocken und
propper, worauf es beim Gebrauch allerdings keinen Anspruch
macht, aber trotzdem war ich froh, als wir es nach
Herrn Schulz Meinung hinreichend kennen gelernt hatten.
Wir waren doch gekommen, um uns zu vergnügen. Und
Kanalisation ist kein Vergnügen.
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Hierauf mußten wir uns die Filteranlage gefallen lassen,
woran der Fachmann sieht, wie das Trinkwasser für Berlin
gereinigt wird. Für die Stadt und ihre Bewohner ist dies
von größter Wichtigkeit, Epidemien hängen davon ab und
Armenpflege. Aber wenn man Lust hat, fein zu speisen,
schwindet das Interesse an den unterirdischen Wohlfahrtseinrichtungen.
Mein Karl und Herr Schulz lagen bei der Besichtigung
bald in Meinungsverschiedenheiten und fochten, wie mir
schien, alte Stammtischscharmützel über die Stadtverwaltung
aus.
Zuletzt legte ich mich ins Mittel und fragte, ob die
Herren keinen Durst verspürten?
»Erst das Geschäft,« entgegnete Herr Schulz, »und dann
die Weiße. Sehn Sie, Buchholz vertritt die Abfuhr an unserem
Tisch...«
»Karl,« nahm ich strenge das Wort, um Herrn Schulz
darauf zu stoßen, daß er Rücksicht auf meine weibliche Anwesenheit
nähme, »Karl, was geht Dich die Politik an? Du
geräthst noch so tief hinein, daß wir von dem schönen Abend
nichts mehr haben. Verzeihen Sie, Herr Schulz, unsere
Absicht war, uns zu amüsiren.«
»Sollen Sie auch. Kommen Sie man mit. Buchholz
macht uns jedesmal Opposition im Bezirksverein, das muß
ihm ausgetrieben werden.«
Ich war empört. Aber ein städtischer Beamter...!
Der Pavillon der Stadt Berlin gefiel mir. Außen ansehnlich
und inwendig luftig und sinnvoll gemalt, gestattet
er dem Steuerzahler einen Einblick in die Mühewaltung der
Oberleitung für das Gedeihen und die Entwickelung der
Residenz.
»Sind dies Telephondrähte?« fragte ich bei einem Plan,
in den Stäbe gestochen waren, von denen feine Fäden nach
einzelnen Punkten gingen, kurze und längere.
»Sehen Sie's man gründlicher an,« forderte Herr Schulz
auf. »Das sind nämlich die Schulwege, wieweit die Kinder
zu laufen haben, bis sie an die für sie bestimmte Bildungskrippe
gelangen.«
»Da haben manche eine gehörige Ecke.«
»Irgendwo wohnt man in der großen Stadt immer
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weit ab,« sagte Herr Schulz. »Aber Sie sehn, wie durch
solche Pläne Licht in die Sache dringt und darauf hin, wie
es nur geht, Aenderung geschaffen wird. Jedoch wird trotzdem
auf die Verwaltung geschumpfen.«
»Fällt mir gar nicht ein,« erwiderte mein Karl. »Ich
behaupte ja blos: vom national-ökonomischen Standpunkt ist
Abfuhr einbringlicher...«
»Karl, bist Du parlamentarisches Fractionsmitglied, daß
Du denselben Ekel immer wieder aufrührst? Also Schluß. —
Und was ist dieses?«
»Handarbeiten der Blinden, aus der städtischen Anstalt.«
Ich betrachtete die Sachen. Wie sauber das Geflochtene
und Gehäkelte und die Pantinen und was sie Alles herstellen!
In ewiger Nacht mit dem Tastsinn gearbeitet! Und viele,
viele, die ihr Augenlicht haben, sind faul und ungeschickt.
Führt sie her, daß sie sich schämen.
Aus den verschiedenen Fortbildungsschulen sind Fachleistungen
ausgestellt. An die Stellen der Handwerksmeister
sind Schulen getreten. Wie die Zeiten sich ändern. Ich
hatte keine Ahnung davon, wie die Stadt in diesem Sinne
sorgt und strebt. Gut, daß man es hier gewahr wird,
wenn auch, wie es ja nicht anders durchführbar, blos in
Proben.
»Herr Schulz,« sagte ich, »wenn ich eben solchen Hut
trüge, wie mein Mann, würde ich ihn hochachtungsvoll abnehmen.«
— Mein Karl lüftete pflichtschuldigst seinen spiegelblanken
Cylinder, neu aufgebügelt, ohne die kleinste Krampfader
darin, den er zur Erhöhung der Festfreude aufgesetzt
hatte.
»Lassen Sie den Tintenproppen man sitzen, Buchholz,«
entgegnete Herr Schulz. »Besser reden Sie am Stammtisch
weniger Unsinn.«
»Wenn Jemand Unsinn redet, liegt es am Hörer,« fuhr
ich auf.
»Stimmt! Es giebt Horchlappen, die auf Vernunftgründe
nicht reagiren,« sagte Herr Schulz.
»Wie die geehrten Ihrigen,« wischte mein Karl ihm aus.
Ich wollte auch noch einen Satz hinzufügen, aber die
Beiden sahen sich an und lachten. Es war nur eine kleine
Neckerei gewesen, ein sogenanntes Wortgefecht ohne tödtliche
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Beleidigung, wie sie, hieraus zu schließen, unter sich gewohnt
sind.
Herr Schulz erklärte uns das Rieselfeldmodell, die einzelnen
Ackerflächen, wo Getreide gebaut wird und wo Gemüse
und wie das Pumpstationswasser durchsickert, daß es
klar und rein wird und selbst Goldfischen zum Aufenthalt
dient, ohne daß sie an Typhus zu Grunde gehen, wie zwei
lebende Beispiele kund thaten. Fischen ist bekanntlich in Gedichten
und kleineren Erzählungen immer wohl, allein wer
sagt, ob sie in Wirklichkeit nicht doch schon Leibschneiden
oder Kollern haben, da sie in eins weg blos Glupaugen
machen? Ich kenne nichts Melancholischeres als Goldfische.
»Muntere Thierchen, nicht wahr?« sagte Herr Schulz,
als er sie wieder wegthat.
»Schon mehr Schlummerköpfe mit Flossen!« wollte ich
antworten, aber ich nahm eine andere Wendung. So darf
man städtischen Beamten doch wohl nicht kommen? »Was ist
dieses inmitten der Rüben und Radieschen?« fragte ich, »dies
Rothe und Weiße?«
»Wenn ich Ihnen das sage, das glauben Sie ja doch
nicht.«
»Versuchen Sie's!«
»Das sind nämlich Rosen, Damascener Rosen und daraus
wird hier in Berlin in der >Rothen Apotheke< Rosenöl
destillirt.«
»Was Sie sagen!«
»Sehen Sie, wie ich schon wußte, kein Deibel will's
glauben. Und doch ist es so. In Sachsen fingen sie mit
den Rosenpflanzungen an und wir versuchen es jetzt auch mit
Erfolg. Denn das deutsche Rosenöl wird in Paris um die
Hälfte theurer bezahlt als das beste türkische, weil es mehr
hergiebt, feiner ist und garantirt unverfälscht. Was sagen
Sie nun?«
Ich war stumm. Dann rief ich verwundert aus: »Karl,
was wir so nach Osdorf rieseln, wird Rosenöl! Das übersteigt
die kühnste Phantasie.«
»Einfache Ausnutzung der Naturkräfte durch Stadtverordnete,
weiter nichts,« sagte Herr Schulz mit bescheidenem
Stolz, der hier auch am Platze war, wenn man bedenkt, daß
die Behörde aus Abscheu köstlichen Rosenduft gewinnt, während
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die jüngste Dichterrichtung das Leben aller Kränze entkleidet
und die Menschheit mit Sielschlamm begießt.
Die Riesen-Riesel-Kartoffeln, Kohlrabi, Salat, Hafer,
Roggen- und Weizenstauden fesselten uns ebenso sehr wie
die goldverzierten Fläschchen mit der Rosenessenz und, eh'
wir es uns versahen, war Schluß des Pavillons. Wir
dankten Herrn Schulz, der darauf bestand, uns zu einer
Weißen einzuladen, die wir ihm als städtischem Beamten nicht
abschlagen durften.
Mein Karl hatte eine kleine Verschwendung bei Dressel
und Adlon nach der Gondelung vorgehabt, die fiel jetzt in
Weißbier mit Sülzcotelette und Bratkartoffeln, was durstlöschend
und sättigend war, wenn auch ohne die immense
Vornehmheit, die wir uns dort unter den Spitzen Berlins
angethan hätten.
Wir bauten daher bald ab. Herr Schulz erläuterte uns
noch die Straßenpflasterung und kam dabei wieder unter die
Erde auf die Rohrlegung, und die Kabbelei von vorhin
stand vor erneutem Ausbruch. Der Vernünftige aber zieht
rechtzeitig vor dem Streit Leine. Ich sagte: »Wir gehen!«
Auf dem Heimwege fragte ich: »Was Tante Lina wohl macht?
Das Wetter hat sich wundervoll gehalten.«
»Hoffentlich hat sie nichts gemerkt,« sagte mein Karl.
Als wir zu Hause anlangten, war weder Tante Lina
vorhanden noch Ottilie. »Dorette,« rief ich, »Dorette, wo sind
die Damen?«
»Mit einen jungen Herrn ausjefahren. Was die Tante
is, meinte, mit den einen dollen Schlag wäre das Gewitter
wohl alle jewesen.«
»Wer war der junge Herr?«
»Kennen duh ick'n nich, aber die Freilein Ottilie, die
schien als wenn't en intimer Freind von sie sein dähte.«
»Es ist gut, Dorette, Sie können gehn.«
Ob es der junge Mann von neulich war? Oder ein
anderer? Tante Lina und Ottilie haben sich auf ihren gemeinschaftlichen
Gängen sehr aneinander geschlossen. Man
hätte sie nicht ohne Aufsicht lassen sollen.
»Karl,« rief ich. »Da haben wir uns was Schönes zusammengedonnert.«
»Deine Idee, Minchen.«
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»Du thust sonst doch nie, was man Dir sagt. Warum
denn gerade heute den Unsinn?«
»Gute Nacht, Minchen. Weißt Du, das Schlafen in
der Fabrik hat doch etwas für sich.«
Er ging. Ich wartete auf den rückständigen Hausbesuch.
Als sie endlich kamen, that ich, als sei ich nicht im
Geringsten neugierig. Ottilie erzählt mir von selbst bei Gelegenheit
haarklein, was war. Und verschweigt sie den jungen
Mann, zwick ich ihn aus Tante Lina. Was zwei Weiber
wissen, ist so gut, als hätte die Dritte es schriftlich.

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Kindervergnügen.
Als Großmutter ist man den Enkeln schuldig, ihre jungen
Seelen mit Geistessämereien fürs Leben zu bestellen und,
da ich ihnen von den Löwen und Elephanten und den Eisbären
erzählt hatte, die, wenn sie auch weniger ins Gewerbliche,
so doch ins Verdienliche schlagen und deshalb ausstellungsberechtigt
sind, ließen die lieben süßen Wesen keine
Ruhe, bis der Vater schalt: »Hat sie Euch den Kopf voll
geschwatzt, scheert Euch zu ihr, ich gebe bei den schlechten
Zeiten kein Geld für Allotria her.«
Dies vernahm ich unbemerkt im Nebenzimmer sitzend,
auf meine Tochter wartend, die zu ihrer Schneiderin geeilt
war, um bei der verabredeten Kinderpartie ihren Stand
tadellos zu vertreten. Und beispiellos billig: einfach ein älteres
Schwarzes aufgedoktert, mit einem maigrünseidenen
goldgestickten Schultereinsatz durchaus nicht auffallend knallig,
sondern hochdezent, nebst schwarzgarnirtem Hut, aus dessen
Federn und aufgerichteten Schleifen schmale, ebenfalls maigrüne,
mit Goldlitze eingefaßte Sammetbändchen hervorlugen,
so daß durch die Mitwirkung ihres rosigen Teints meine
Tochter in dieser Zusammenstellung sich als sogenannte
Farbensymphonie sehen lassen kann.
Und dies Vergnügen wollte der eigene Gatte stören,
weil ihm die Löwen zu theuer waren. Freilich kannte er das
Kostüm noch nicht, da sie ihm wohlweislich nie mit der
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Kleiderfrage kommt, bevor sie drin sitzt und er sein Wohlgefallen
äußert. Er mag es, wenn seine Frau liebreizend
aussieht, und, wenn sie ihm vorrechnet, wie sparsam sie sich
verschönert hat, giebt er ihr einen Kuß extra.
Ich wollte mein Maisgelbes anziehen, Betti hatte sich
für helles verwaschenes Blumenmuster entschieden, Ottilie,
wie immer, in ihrem Blauen, und Tante Lina Grünbräunlich-Changeant.
Die Kinder waren sämmtlich in Weiß gedacht,
die Knaben mit Marinekragen, weil, wenn man zufällig
jemand aus maßgebenden Sphären anrennt, dieser sagt:
»Sieh da, eine Familie, die die steigende Bedeutung des
Seewesens erfaßt hat. Wer mag das sein? — Und man
kann nicht wissen, ob solcher Zufall dem Fortkommen der
Enkel nicht von Vortheil ist? In den Schicksalen berühmter
Männer liest man stets, wie ähnliche Nebenthatsachen die
Wandlung zur Größe verursachten.«
Und dann hatte ich Frau Butsch mit den beiden Stief-Kinderchen
eingeladen. Sie möchte ihnen gern mehr gewähren,
als Herr Butsch gestattet wegen ihrer Groschensiebe
von Händen und da dachte ich: nimm sie auf Dein Konto,
Wilhelmine, sie übertragen es auf die Stiefmutter, und in
das Wurachen um den Erwerb scheint ein Tag der Liebe
hinein, an dem die Herzen einander zublühen, wie Erika
sagte, als ich ihr meine Ansicht mittheilte und sie fragte, ob
sie und klein Wilhelmine sich anschlössen?
Sie hatte Lust, aber Onkel Fritz war verweigernder
Meinung.
»Mein Töchterchen ist noch zu harmlos, die Verdienste
des Arbeits-Ausschusses zu würdigen.«
»Wird auch nicht verlangt, für sie sind die übrigen
Schaustellungen.«
»Zu zart.«
»Die wilden Thiere.«
»Zu ängstlich.«
»Aber die Aeffchen im Affenparadies?«
»Die Affen überläßt sie ihrem Vater.«
»Also Du willst nicht?«
»Nein!«
»Warum nicht?«
»Beantworte mir: Was bleibt dem Erwachsenen, wenn
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er als Kind schon alle Reizmittel durchkostet, die zum Todtschlagen
der Zeit geboten werden? — Uebersättigung. Man
badet einen Säugling in der Wanne und hält ihn nicht unter
den Rheinfall.«
»Seit wann bist Du so weise.«
»Seit ich Vater bin.«
Er sprach das mit einem Ausdruck tiefinnerer Glücklichkeit,
der alles weitere Anpurren hinfällig machte. Seine
Liebe ist es, die über dem Kinde schützend die starken Arme
ausstreckt. Und wenn Liebe übertreibt, wer möchte sie darum
schelten?
Erika heißt stillschweigend gut, was er bestimmt oder
vielmehr, er vollführt, was ihr Denken und Sinnen ist, und
das Töchterchen gedeiht dabei; ein wahres Herzeken. —
Mein Grundsatz ist, wenn Kinder mitgenommen werden,
sie erst tüchtig satt zu machen und am weitesten langt man
mit Napfkuchen. Der ist nahrhaft, stopft und hält vor.
Es war ein liebliches Bild, als das halbe Dutzend
Jugend um den Tisch saß und den Kuchenteller meuchelte:
Fritz und Franz, Betti's Karla und Willi und Butschen's
Peter und Edmund, alle in Weiß. Wir Aelteren tranken
Kaffee, ebenfalls mit Napfkuchen, von dem Tante Lina sich
sogar das Rezept ausbat. Daß sie sich in gehobener Laune
befand, betrachtete ich als eine Mahnung aus öberen Regionen
und als Gutheißung meiner Absicht mit der verlorenen
Tasche, die sich endlich reumüthig angefunden hatte. Die
Zahnbürste und das Gläschen Kölnisches Apothekerwasser
hatten zum Besitzausweis genügt.
Tante Lina ahnte nicht, daß ihr sehnlich vermißtes
Handgepäck im Nebenzimmer auf das Wiedersehen harrte
und erst als abgegessen und ausgetrunken war, nahm ich
Fritzchen nebenan, gab ihm die Tasche und sprach: »Wenn ich
Dich rufe, kommst Du und überreichst sie Tante Lina mit
einem höflichen Diener und sagst: >Liebe Tante<.«
»Ich hab' ihr garnicht lieb.«
»Doch, mein Fritzchen. Tante Lina wird großmüthig an
Dir handeln.«
»Wir wollen bei die Löwen.«
»Erst giebst Du Tante Lina das Täschchen und sagst:
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>Liebe Tante, dies hab' ich gefunden, nimm es freundlich hin.<
Dann umarmt sie Dich und küßt Dich.«
»Will ich nicht.«
»Doch, Fritzchen. Nun sei artig; gleich rufe ich Dich.«
Tante Lina erzählte der Butschen gerade eine Geschichte
von Viedt's. »Viedt's haben die schönen Ländereien und
könnten viel mehr daraus machen, aber sie sind mit Erlaubniß
zu sagen für reichlichern Dung und nicht für das Auspowern
der Aecker und sind so thätig im Geschäft, indem sie
jede Kleinigkeit mitnehmen und dadurch das Ihrige erreichten.
Sie sagen nicht, wie viel sie haben, aber man weiß es doch
so ziemlich.«
»Rechnen Sie gern in Anderleuten Portemonnaie herum?«
fragte die Butschen.
Tante Lina wurde spitznäsig und dann glimmt es in ihr.
Es war höchste Zeit, den Vesuv auszutreten und deshalb sagte
ich rasch: »Liebe Tante, bevor wir aufbrechen, wünscht
Fritzchen Ihnen einen kleinen Beweis seiner Verehrung darzubringen.«
Es war dies zwar nicht ganz zutreffend, aber in
der Eile entwegen die Sätze leicht. »Komm, Fritzchen.«
Er kam nicht. Die Kröte tückscht, dachte ich und öffnete
die Thür. »So komm doch, Fritzchen!«
Da kam er. Aber wie!
Ihm war wohl die Zeit lang geworden und neugierig,
wie Kinder sind, hatte er in Tante Lina's Tasche gekramt.
Ihre Korkzieherlocken hatte er sich über die Ohren gehängt
und ihr neues Gebiß trug er in der flachen Hand wie ein
Vogelnest, die geöffnete Tasche über dem Arm. Und so
schob er seelenvergnügt auf Tante Lina zu.
»Meine Tasche!« rief sie und aufgesprungen und die
Schönheitsbeihülfen an sich gerissen und weggestochen. Sie
flog vor Aufregung und pustete. Mir war der Vorfall mehr
als peinlich. »Liebe Tante!« begann ich.
»Schon gut! Schon gut!« stieß sie hervor. »Das war
ein starkes Stück. Sie haben wohl nichts dagegen, wenn ich
noch heute abreise?«
»Aber nein...«
»Aber ja, und dabei bleibt's.« Und mir einen furchtbaren
Blick zuwerfend, fügte sie hinzu: »Wir sind für ewig
geschieden — Mein bischen Hab und Gut vermach' ich dem
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Waisenhause, da sind artige Knaben drin und, mit Erlaubniß
zu sagen, keine ungezogene Rangen.«
Emmi wollte Petroleum ins Feuer gießen, weil sie doch
die Range nicht auf Fritzen sitzen lassen konnte, aber ich rief:
»Wenn Jemand Schuld hat, bin ich es,« und entfernte mich
mit Tante Lina. Es half jedoch kein Bitten und Beten, sie
war zu aufgebracht und ließ keine Entschuldigung gelten.
Auf ihren Wunsch blieb Ottilie bei ihr, packen zu helfen,
und wir karawanten nach Treptow.
Unterwegs machten mir Emmi und Betti Beide Vorwürfe:
Was der Sanitätsrath sagen würde, wo ich doch
hätte wissen müssen, daß die Tante den Knaben unbedingt
etwas ausgesetzt hätte und sie deshalb ganz anders zu behandeln
gewesen wäre. Die Butschen meinte, selbst im
Schauspielhause fielen Stücke durch, ich hätte mir es wohl
anders gedacht, wie es hinterher kam.
»Sie verstehen mich, Frau Butsch,« entgegnete ich.
»Meine Absichten waren lauter und rein.«
»Wieviel hat die Olle denn?« fragte sie.
Ich war zu zerklüftet, um sie zurechtzustoßen.
»Mama,« sagte Emmi, »denke Dir, ich habe meine Börse
vergessen. Du bist wohl so gut und legst aus?«
»Ich bezahle Alles!« erwiderte ich ergebungsvoll. —
Durch diese Versicherung wurden sie heiterer und dachten
nicht mehr so nagend und anhaftend an Tante Linas Testament.
Und war es so bombensicher, daß sie die Enkel hineingenommen
hätte, auch wenn nichts passirt wäre? Denn
erstens ist die Verwandtschaft nur weitmaschig und zweitens:
wenn irgend ein Viedt Wittwer wird... sie ist im Stande,
in den heiligen Ehestand hineinzuschliddern.
Betti und Emmi wollten erst nach dem Damenheim, wo
die neuesten Moden alle acht Tage wechseln, und dann mit
den Kindern nach den wilden Thieren; die Butschen hatte
ihren Beiden versprochen, den Walfischkopf in der Fischerei
zu zeigen, worüber Uneinigkeit auszubrechen drohte.
Unter lebhaftem Für und Wider langten wir an. Ich
löste die Eintrittszettel. In Summa fünf Mark.
Oben von der Ueberbrückung aus gewahrten die Kinder
sogleich den Riesen-Elephanten, der als bewohnbares Symbol
des Gregory'schen Exportbieres dasteht, das in Hunderttausenden
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von Flaschen in die heißen Länder versandt wird,
wie die Inschrift besagt.
»Merkwürdig,« sagte die Butsch, »daß der Durst allerwärts
derselbige ist. Oder kriegen sie ihn erst, wenn das
Bier hinkommt?«
Es freute mich, hieran wahrzunehmen, daß sie anfängt,
sich auf überseeische Kulturfragen zu werfen, was sie früher
nie fertig gebracht hätte. Wegen der Kinder war jedoch
eine gründliche Erörterung unstatthaft. Denn was ist,
genau genommen, Durst? Wo fängt er an und wo wird er
sträflich?
»Gehen wir jetzt ins Damenheim?« fragte Betti in
einem Tone, als wenn wir uns nach ihr richten müßten. Ich
verstand sie natürlich nicht und sagte: »Was meint Ihr zu
einer Nordpolfahrt? Seht doch diese Gletscher und Eishöhlen,
täuschend aus Gips geklackst, belehrend für jedermann, der
keine Aussicht hat, je in seinem Leben den wirklichen Nordpol
zu erreichen.«
»Ich habe mir erzählen lassen,« bemerkte die Butschen,
»der Nordpol wäre blos, daß einer sich berühmen kann, dagewesen
zu sein, und Butsch sagte, wenn man hinkommt,
ist er es gar nicht! Ob sie dort auch wohl solche Sitzbänke
haben, die von selbst in'n Gang gehen?«
Ich hatte mittlerweile für Fahrscheine eine Mark vierzig
abgeladen, wir selbst luden uns auf die fahrbaren Bänke
und sausten in den Gips hinein mit der sich steigernden
Besorgniß: »Wo ist die Umstürzecke?« Wir hatten mehr
Glück als Vergnügen, indem wir unzerbrochen landeten und
waren herzlich froh, diese Belustigung hinter uns zu haben.
Betti beantragte nunmehr die elektrische Rundbahn. Wir
rasch zur Haltestelle, für eine Mark Nickel zusammengesucht,
den Automaten gefuttert, durch das Drehkreuz gezwängt und
am Halteplatz waren wir. Die Bahn kam; zwei Wagen voll.
Wir sahen ihr mit gemischten Gefühlen nach, als sie schnöde
davon fuhr.
»Wir benutzen den nächsten Wagen.«
Der war noch völler.
Dann kamen wieder zwei mit Platz, aber schlecht gemessen
für uns alle.
Der folgende Solowagen war auch zu klein.
98
»Wir lassen uns unser Geld wieder geben,« sagte Emmi
ärgerlich.
»Von wem denn? Von dem Automaten? Der ist, wie
die Steuer, nicht auf Herausrücken eingerichtet.«
»Wir müssen suchen, einzelnt mitzukommen und treffen
uns bei den wilden Thieren,« schlug die Butsch vor.
Und so geschah es, wenn auch nicht gleichmäßig hintereinander,
sondern je nach der Ueberfüllung in mehrfachen
Abständen. Schließlich war ich allein die letzte, die eine Stehgelegenheit
auf der elektrischen Ortsveränderung heranlauerte.
Die Fahrt war beharrlich genug, um an Tante Lina zu
denken. So in Bitterniß scheiden.... das wurmte mich
und gar zu gerne hätte ich sie wieder gut gehabt. Nicht
wegen ihrer Groschen — nein. Aber wer weiß, ob wir je
wieder zusammenkommen und wir haben den Groll nicht
begraben, bis es zu spät ist. Ich hätte doch wohl bei ihr
bleiben müssen? Aber ich hatte den Kindern doch auch den
Nachmittag versprochen.

Die kleinen Lämmer — sie waren in ihren weißen Anzügen
ganz wie Lämmer — freuten sich, als ich endlich anlangte.
— »Wo bleibst Du,
Mama?« schalt Emmi. »Wir
stehen hier wie die Narren.«
— »Kind,« entgegnete ich,
»warum verdrießlich über so
kleines Ungemach? Es giebt
Schwereres, als ein bischen
warten in schöner, freier
Natur. Aber kommt.«
Der Hagenbeck'sche Thiercirkus
war justement zu einer
neuen Vorstellung geöffnet.
Für drei Mark fünfzig bekamen
wir Plätze, von denen
der große runde Käfig gut
zu sehen war. Die Kinder
saßen vor uns und planschten in Erwartungswonne. Und
als es los ging, als drei Seehunde gebracht wurden, die
Pfeife rauchten, eine Wiege schaukelten und Pistolen abschossen,
brach heller Jubel bei ihnen aus.
99
»Rauchen die Seehunde immer?« fragte Franz.
»Nur wenn sie müssen,« sagte Emmi. »Sie sind abgerichtet.«
»Ist Papa auch abgerichtet?«
»Dummes Zeug. Papa raucht zum Vergnügen.«
Die beiden Jungen warfen sich Blicke zu, aus denen ich
entnahm: Nächstens spielen sie Papa oder Seehund, je nachdem
ihnen der Tabak bekommt.
Vier Elephanten machten darauf ihre Kunststücke bewunderungswürdig.
Ich bin überzeugt, es giebt Menschen,
die nie lernen, auf Weinflaschen spazieren zu gehen, wie diese
unvernünftigen Creaturen, oder es liegt am Erziehungswesen,
daß sie hoffnungslos bleiben. Der Elephant kann solche
Kunst in seiner Heimath allerdings nicht verwerthen, aber
man sieht doch, was ihm beizubringen ist. Und wie viel
muß der junge Mann sich einrammen, ehe er einjährig
dienen darf. Und doch sollen zuweilen Professoren sich anmaßen,
mehr wissen zu wollen als ein Einjährig-Freiwilliger.
Nun kam die Glanznummer. Hunde, schöne deutsche
Doggen, sprangen herein. Drei Löwen folgten, zwei Tiger,
zwei Jaguare, zwei Bären, ein Eisbär. Die setzten sich in
der Runde, jeder auf sein Brett und der Bändiger ging
mitten unter sie und ließ sie arbeiten. Ein ausgewachsener
Königstiger fuhr Zweirad, ein anderer lief auf einer Kugel,
ein Bär tanzte aufrecht gehend Seil, kaum wiedererzählbar
unwahrscheinlich und doch ohne Augenverblendung. Ein
Löwe fuhr auf einem Wagen, mit Krone und Purpurmantel
angethan, von zwei Tigern gezogen und zuletzt bildeten alle
Thiere, auf Säulen vertheilt, eine malerische Gruppe, worin
der Eisbär oben lag, der vorher nie ruhig auf seinem Platz
blieb, sondern die anderen wohlerzogenen Mitwirkenden störte
und anschnauzte und von ihrer Pflicht abzulenken suchte.
Ich dachte mir mein Theil. Starker Wille und Unbeugsamkeit
mit Güte und richtiger Erkenntniß zwingen selbst
wilde Raubthiere zu friedlichem Zusammenleben. — Aber
ohne einen Stänker geht es auch hier nicht ab.
Wir waren alle hochbefriedigt, nur die Kinder wünschten
noch mehr Löwen und Tiger, gaben sich jedoch, als es hieß,
nun gehen wir zu den Aeffchen.
100
Neben dem Thier-Cirkus ist das Hagenbeck'sche Affenparadies.
Zweihundert Affen in einem Käfig, wo sie Holzpferde
haben, russische Schaukeln und Klettergerüste, die
Glieder geschmeidig zu halten. Und nur eine Mark vierzig
für uns alle. Man athmete ordentlich über die Billigkeit
auf, denn zuletzt kommt man sich auf der Ausstellung vor
wie in Umlauf gesetzte Scheidemünze.
Die Kinder waren glücklich, und es läßt sich nicht
leugnen, der Affe ist possierlich. An dieser alten Wahrheit
rüttelt selbst der Ernst der Zeit vergebens. Aber er ist auch
boshaft. Ein kleines Aeffchen war, wie man so sagt, drunter
durch, wohin es kam, spielten die anderen Affen ihm übel
mit, daß es gellend schrie und sich flüchtete. An die Stäbe
des Gitters floh es, als wenn es weit, weit hinweg möchte
und bewegte die Lippen und quäkte und schalt und zog
Falten vor der Stirn und die blanken Augen flogen hin
und her.
Da riefen die Kinder: »Das ist Tante Lina! Das ist
Tante Lina!« Und lachten und riefen: »Tante Lina!«
Ich verbot ihnen die Unart. Es half nichts. »Wer
das noch einmal sagt, kriegt 'ne Abrundung,« drohte Emmi
mit einer entsprechenden Handbewegung. Das steuerte etwas.
Aber sie lachten innerlich »Tante Lina.«
Ich dankte meinem Schöpfer, daß die Tante nicht zugegen
war. Kinder wissen ja nicht, wie grausam sie in ihrer
Einfalt sind. Ich nahm Betti abseits, gab ihr ein noch zum
Versausen bestimmtes Zehnmarkstück und sagte: »Bleibt Ihr
hier und amüsirt Euch, ich muß nach Hause.«
»Wegen Tante Lina?«
»Ja. Sie ist gekränkt, wenn auch das Donnern mehr
Scherz war....«
»Welches Donnern?«
»Nichts! Nichts! Ich habe Eile! Geht mit den
Kindern in die Milchhalle, wenn sie hungrig werden, und
habt gut acht auf sie!« — Ich eilte heim.
Ich nahm den hinkömmlichsten Omnibus so besetzt er
auch war. »Bitte,« sagte der Schaffner, »möchten die Herren
sich nicht auf das Blumenbrett bemühen,« worauf die Stehgäste
eine Etage höher stiegen. Ich blickte den Fahrdirektor
fragend an. — »Wenn ich >Deck< sage,« antwortete der, »geht
101
Keiner rauf, aber auf's >Blumenbrett< gehen sie, indem sie sich
dann hübscher vorkommen. Und nächstens werden die Decksitze
auch für die Damen freigegeben. Blos daß die Treppen
noch die öffentliche Sittlichkeit scheniren. Da muß was 'rum.«
Da durchzuckte mich die Lösung der Gleichberechtigung.
»Einfach Uniform,« hallte es in mir. Wenn die Frau erst
Reservelieutnant wird, hat sie das Ziel erreicht. Und wie
Mancher würde das zweierlei Tuch bezaubernd stehen. Blos
auf Damen im Majorsalter wäre Rücksicht zu nehmen und
ich für meine Person, ich glaube, ich bleibe doch lieber unten.
Tante Lina war nicht abgereist. Gottlob! Ottilie hatte
ihr zugeredet. Das werde ich ihr gedenken.
»Mir war, mit Erlaubniß zu sagen, die Galle hochgekommen,«
erklärte Tante Lina ihren Zorn, »und ehe ich reise,
möchte ich, daß etwas Gewisses in die Reihe kommt.« Sie
sah mich scharf an und fragte: »Finden Sie nicht auch,
daß Herr Kriehberg ein sehr netter Mann ist?« —
»Kriehberg? Nein.«
»O doch, er erinnert mich etwas an Johannes Viedt.
Und Ottilie ist ihm geneigt.«
»Ottilie,« rief ich, »hinter meinem Rücken, wo ich Dich
so gewarnt habe?«
»Da ist nun nicht viel mehr bei zu machen«, sagte
Tante Lina scharf. »Hätten Sie mehr Zeit bei uns übrig
gehabt, hätte Herr Kriehberg uns nicht herumzuführen gebraucht.
Wenn junge Leute sich lieben, so soll man ihr
Glück nicht hintertreiben. Einmal verjagt, kommt es nimmer
wieder. Niemals. Nie.«
Sie zog viele kleine Stirnfalten und auch ihre Augen
glänzten bald mich an, bald Ottilie.
Ein Glück, daß die Kinder nicht da waren.

102

Verwickelungen.
Wo man nicht direct selbst dabei ist, werden Verkehrtheiten
vollführt, auf die man nach mehrtägiger Ueberlegung
nicht gekommen wäre. So auch dieses Mal.
Bei meinem Schwiegersohn, dem Sanitätsrath, hat es
nämlich einen Krach gegeben. Und worüber? — Ueber
mich!
Betti hat mir es wiedererzählt. Die hat es von ihrer
Schwester, der Frau Sanitätsräthin, und hätte auch wohl damit
hinter dem Berge gehalten, wenn wir nicht in einen
Kampf wegen vier Mark fünfzig gerathen wären, die sie als
Auslagen für die Kinder-Expedition nach Treptow heraushaben
wollte.
»Betti,« sagte ich, »nachdem ich Unsummen für Eintritte
in's Ganze und Sonderspecialitäten und ein freiwilliges
Zusatz-Zehnmarkstück gespendet, verthut Ihr noch volle vier
Mark und fünfzig auf mein Konto? Das finde ich heftig.
Und ein für alle Mal — ich zahle nicht. Für Gewaltsachen
habe ich kein Gemüth. Womit habt Ihr denn das viele
Geld verprezelt?«
»Die Kinder mußten doch das Eismeerpanorama sehen!«
»Was war denn da los?«
»Denke Dir, Mama, eine riesige Eiskute.«
»Reelles Eis?«
»Warum nicht gar Vanille-Eis? Gott bewahre, aus
Farbe, wie so Panoramen überhaupt. Vorne Gewässer mit
103
Seehunden und Möven und im Hintergrunde mit mindestens
elf Stück lebendigen Eisbären.«
»Betti, die Kinder hatten im Thiercirkus Bären genug
gesehen und Kunstgletscher vorher. Das war unnöthig, weil
verschwenderisch.«
»Und zwei Eskimos und eine Eskimofrau.«
»Was hatte die an?«
»Pelzjacke und Pelzhosen, gerade so wie die Männer.«
»So weit sind sie schon da oben in der Aufklärung?«
»Und denke Dir, die Eisbären nahmen der Frau Fische
aus dem Munde, ganz zahm. Und kriegten was mit dem
Stock auf den Rüssel und rissen aus wie die Hämmel.«
»Betti, sag' selbst, ist das noch Naturgeschichte? Wenn
der Lehrer den Kindern erzählt, der Eisbär ist das gefährlichste
und grimmigste Raubthier des Nordens, — Ottilie
hat den Brehm mitgebracht, da steht es drin — das den
Menschen auf dem Lande und in Schiffen angreift und nach
blutiger Gegenwehr auffrißt, lachen sie ihn ohne Frage aus,
weil sie den Gegenbeweis erlebt haben. Die Folge ist Nachbleiben,
Strafarbeit, schlechtes Zeugnis und elterliche Senge.
Und dazu gebe ich kein Geld her.«
Betti murmelte etwas.
»Wie meinst Du?«
»Du hattest uns doch eingeladen.«
»Du sagtest eingeladen?« — Ich verstand Blaak oder
so ähnliches. »Mit den zehn Mark konntet Ihr übrigens
gut rund kommen. Freilich Extravaganzen hatte ich nicht
vorgesehen!«
»Sollten wir mit den Kindern verhungern und verdursten?«
»Ich rieth Euch ja die Milchhalle an.«
»Aber ehe wir dahin fanden bei der Hitze! Die Butsch
entdeckte eine Weißbier-Niederlassung und wir waren alle
so erschöpft, daß wir ihr folgten und ihren Falkenblick
lobten.«
»Nun ja, Weißbiergläser kennt sie nachgerade auch von
Weitem; aber es kostet doch enorme Anstrengung, zehn Mark
in Weißen zu verprassen, selbst mit hinzugerechneten Stullen!«
»Wer that denn das?« brauste Betti auf. »Und dann
wurde Karussell gefahren.«
104
»Das kann man Kindern nicht verweigern. Die sechs
Groschen sind bewilligt.«
»Die langen nicht. Wir fuhren doch alle.«
»Die Butschen auch?«
»Sie kriesch nur immer so furchtbar, weil die Sitze sich
wieder um sich selbst drehen wie ein Triesel. Mama, Du
mußt nächstens mal mitmachen.«
»Damit mein Gehirn verschoben wird? Nein. Jedoch
ist es mancher vielleicht heilsam, indem, was an der falschen
Stelle saß, an den richtigen Platz hinkreist. Möglich, daß
die Butsch sich aus unbewußtem Instinct in diese Drehkur
begab.«
»Sie war so karmoisinvergnügt mit den kleinen Butschens.«
»Schön, dann nehme ich das Karussell auf mich. Es
bleibt aber immer noch ein ansehnlicher Rest.«
»Der schmolz in der Milchhalle ein.«
»Was?« rief ich entsetzt. »Milch? Ihr habt Milch
getrunken?«
»Wie Du uns anbefohlen hattest.«
»Kalte Milch auf das Weißbier und Karussell fahren?
War nicht noch Gurkensalat bei der Hand, um die Speisefolge
zu vervollständigen?«
Betti schwieg verlegen. »Der war nicht mehr nöthig,«
sagte sie dann etwas bedrippt.
»Sind die Kinder noch am Leben?«
»Meine ja. Emmis auch. Von den Butschens haben
wir keine Nachricht,« antwortete Betti lächelnd.
»Die haben abgehärtete Mägen, wenigstens wenn die
Butschen noch so kocht, wie sie es früher nicht gelernt
hatte.«
»Gerade die fingen zuerst an. Sie hatten vorher auch
am meisten Napfkuchen vertilgt.«
»Mein Napfkuchen hat noch nie einen Menschen compromittirt,
weil er von Hause aus mit Citronat ist, das ich
weglasse, weil es schwer liegt und zweitens billiger kommt.
Den können Sterbende essen, ohne daß er ihnen schadet. Na,
also, Ihr mußtet nach Hause. Wo blieb der Saldo von
dem Gelde?«
»Wärst Du bei uns gewesen, würdest Du es wissen.«
105
»Wieso?«
»Mama, es muß ja für alles draußen bezahlt werden.«
»Ja, ja! Kinder machen Sorge und Kosten, besonders
bei ungesunder Verpflegung; das merke Dir für die Zukunft.
Aber Fritz und Franz hatten doch keine weitere Anfechtung?«
»Ich möchte fast annehmen, daß Du Fritz übermäßig
Napfkuchen zugesteckt hattest...«
»Betti, was hast Du gegen Fritzchen? Was hat denn
das Kind gegessen? Knapp so viel als in einen hohlen
Zahn geht.«
»Wenn Du Elephantenzahn meinst...«
»Betti, ich verbitte mir solche Scherze, selbst wenn wir
allein sind. Ich will wissen, ob der Knabe ernstlich in Gefahr
schwebte?«
»Der Vater hat ihm Medicin verordnet und nicht schlecht
gescholten.«
»Sein gutes Recht.«
»Er hat gesagt...«
»Was hat er gesagt? Heraus damit. Warum stockst
Du? Also was?«
»O, nichts.«
»Ich kann mir's schon denken — über mich hat er
raisonnirt — hat er? Sag', hat er? Nicht wahr — er hat?«
»Nun ja. Aber sehr. Und dabei weiß er noch nicht
einmal, wie Du die Kinder um Tante Lina's Erbschaft gebracht
hast. Wenn er das erfährt, gerathet Ihr mindestens
ein halbes Jahr auseinander.«
»Siehst Du, Betti, das hat man davon. Man opfert
sich auf, man sucht alles zum besten zu wenden und, wenn
man das Resultat besieht, hat man in Modder gegriffen. Ich
geh' gleich und sehe, was der Junge macht.«
»Das würde ich nicht thun.«
»Nicht den süßen Engel auf seinem Schmerzenslager besuchen?«
»Der ist längst wieder kreuzfidel. Aber der Rath möchte
noch grollen.«
»Den lad' ich auf Krebse ein. Ausgesucht, lauter Hengste
und er kriegt die größten. Da wird er fromm. Und Du
willst noch vier Mark fünfzig heraus haben?«
106
»Ja, Mama. Soll ich Dir jeden Posten einzeln vorreiten?«
»Nein, nein, laß nur. Aber merke Dir eins: Weißbier
und kalte Milch vertragen wetterfeste Landbewohner kaum,
viel weniger gebildete Stadtkinder.«
Ich gab ihr die Groschen, die sie schmunzelnd in ihr
Portemonnaie knippste, wobei ich sofort ahnte, daß sie mich
um eine heimliche Provision überlistet hatte. Aber was hilft
die richtigste Rechnung, wenn sie nicht bezahlt wird? Ich
lag drin, jedoch es blieb in der Familie. —
Mit diesem Kummer hatte ich mich abgefunden, nicht
aber mit dem Verdruß, den Ottilie mir durch ihre Neigung
zu Kriehberg bereitet. Nie wäre es dahin gelangt, wenn
ich sie straff unter meiner Aufsicht gehalten hätte, anstatt sie
während meiner Abwesenheit Tante Lina anzuvertrauen, von
der ich alles erwartet hätte, nur nicht die Begünstigung eines
Liebesverhältnisses, das, wenn auch nicht direct ins Armenhaus,
so doch nicht weit davon führt.
Denn die Sache liegt so.
Kriehberg hatte noch eine kleine, mit dem Bauwesen verknüpfte
Stellung, Ausbesserungen zu leiten, wenn die Bedachung
undicht geworden und was es sonst gab, denn wenn
auch alles ein Ende nimmt, die Reparaturen an einem Neubau
hören nie auf. Und die ganze Ausstellung ist ein Riesengesammtneubau.
Man sagte mir, weil das richtigste bei einem vor der
Verlobung Stehenden ist, seine Verhältnisse zu erkunden, er
wäre nicht ohne Fähigkeiten, aber die Häuser, die er entwürfe,
ständen schon irgendwo. Mit der bloßen Verlegung
von Fenstern und Thüren, daß nachher die Treppe nicht hineinpaßte
oder ganz dunkle Räume erzielt würden, sei selbstständiges
Fortkommen unmöglich. Man würde ihn seines
Fleißes wegen in zweiter und dritter Linie beschäftigen, wenn
er nicht die Manier hätte, sobald er sich warm fühlte, alles
besser wissen zu wollen. Das könnte er ja auch, aber er
müßte seine Weisheit bei sich behalten.
Was thut jedoch mein Kriehberg? Er nicht auf den
Bureau-Maulkorb geachtet und eigene Meinung gehabt und
den Vorgesetzten und beleidigende Scharaden gekommen.
Was hat er über das Thorhaus zu quesen und zu sagen,
es wäre nicht viel dahinter? Und wie sie ihn fragen, wie
107
er sich erdreisten könne, einen gothisch-romanisch-altdeutsch-renaissancenen
Bau so zu despectiren, hat er geantwortet, es
wäre auch nicht viel dahinter, nämlich blos ein Stück Treptower
Chaussee.
Da ließ sich freilich wenig drauf antworten, weil die
Eingangsfluren zur Ausstellung einen überraschend nuttigen
Eindruck machen, gegen den das rechts und links verstreute
Bedeutende stark zu kämpfen hat, um die erste Enttäuschung
allmählich zu verwischen.
Und auch was er über die Drahtgeflechtthür beim Hauptportal
geäußert hat, ist nicht ohne Berechtigung. Er sagt:
für einen Hühnerhof eignete sie sich einigermaßen, für eine
Ausstellung, die der Welt zeigen sollte, was Berlin vermöchte,
sei sie belemmert. Diese Kritik haben sie ihm besonders
verargt.
Und dabei stehen in der großen Halle im Schatten, als
vertrügen sie weder Sonne noch Regen, die schönsten Thore,
die man sich denken kann, der Stolz der Berliner Kunstschmiede,
deren Arbeiten es nicht nur siegreich mit jeder
Concurrenz des Auslandes aufnehmen, sondern auch mit dem
berühmtesten Mittelalter. »Wie man sich so im Lichte stehen
kann!« hat Kriehberg gesagt. Und da gaben sie ihm Feierabend.

Und was sagte er da?
»Es ist das Unglück der Comités, daß sie die Wahrheit
nicht hören wollen.«
108
Draußen war er.
Auf solche Aussichten hin ihm Ottilie zu geben, wäre
eine Unverantwortlichkeit, gegen die Alpdrücken liebliches
Gekose ist. — Und wenn sie sich auch noch so lieben. Von
Butter allein kann man nicht leben, es gehört das tägliche
Brot dazu...
Ich band mir Ottilie vor, sie müßte Kriehberg abgeloben.
Sie hätte ihn nicht ermuthigt, erwiderte sie, hoch vom
Thurme herab, als geschehe ihr wer weiß welche Bezichtigung.
»Hast Du nie in seiner Gegenwart mit den Augen geklappert?«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Ottilie, es giebt verschiedene Sprachen, und eine davon
ist die Augensprache, die ist in allen Dialekten die nämliche.
Ein Blick sagt mehr als ein dickbändiger Briefsteller. Ich
frage Dich, ob Du auf die Art etwa zu viel geredet hast?«
»O Nein. Ich beschäftige mich mit dem gewaltigen
Pulsschlag des Residenzlebens, der täglich Neues und Großes
bringt und der geistigen Förderung durch die entzückenden
Darbietungen des Gewerbes und der Industrie.«
»Doch wohl nicht ausschließlich. Reichliche Zeit verbringst
Du, Dich zu bewundern.«
»Wer sagt das?«
»Betrachte Dir den Teppich vor dem Spiegel, wie er
leidet und stets und immer mit frischen Fußspuren. Das ist
auch eine Sprache: Teppichsprache nämlich.«
Sie that schnippisch.
»Du bist jung, Ottilie, Du weißt noch nicht, ein wie
theurer Lehrer die Erfahrung ist. Nimm meinen Rath an
und verkriehberge Dich nicht.«
»Aber Tante Lina meinte, er müsse gut sein, gerade so
gut wie Johannes Viedt, an den er sie erinnere, der nach
Amerika gegangen ist, weil er Eine nicht unglücklich machen
wollte, die er liebte, und ohne den Fluch der Eltern nicht die
Seine nennen durfte.«
»Ob sie das selber gewesen ist?«
»Ich glaube fast.«
»Die Alten haben keinen Bürstenbinder als Schwiegersohn
109
gemocht; natürlich, so liegt der Roman. Ottilie,« fuhr
ich warnend fort, »und Kriehberg ist nicht mal Bürstenbinder
... er ist augenblicklich garnichts.«
»Er hofft.«
»Ich auch. Ich hoffe, daß er einsehen wird, wie es
keine größere Selbstsucht giebt, als wegen kurz verküßter
Flittervierzehntage ein leichtgläubiges Mädchen mit sich in
endloses Elend zu ziehen. Das Leben ist lang, Ottilie, und
die Feuerung theuer. Mit Liebe allein kannst Du nicht einheizen.
Der Winter kommt, Kind, der Winter des Lebens.
Liebst Du Kriehberg wirklich? Möchtest Du um seinetwillen
blos in Kattun gehen und nie nach der Mode, immer denselben
alten Mantel?«
»Das würde er doch nicht verlangen?«
»Er nicht; aber die Noth und die ist unerbittlich. Man
kann sie miteinander tragen, wenn sie hereinbricht, ohne
eigene Schuld und fest und innig verbunden den Kampf mit
dem Schicksal aufnehmen. Aber Uebereilung ist eigene Schuld.«
So redete ich und sie hörte zu, aber mich dünkte, sie
war klüger als ich. Wenn jemand eine Unterhaltung nicht
behagt, besieht er die Zimmereinrichtung und Ottilie ließ ihre
Blicke wandern, als wären alle Stuhllehnen und Tischkanten
ihr noch nie vorgestellt.
Mir bleibt nur noch ein Ausweg. Mein Karl muß
Kriehberg aufs Dach steigen und ich — ich nehme Tante
Lina in die Beichte.
Dies muß geschehen, ehe Ungermann's eintreffen, denen
ich mich zu widmen habe. Ungermann ist, wie es in der
Geschäftssprache heißt, ein großartiger Kunde. Der muß
warm gehalten werden.

110

Meine Einquartierung.
Ungermann's wohnen in der guten Stube, Tante Lina
rastet immer noch im Fremdenzimmer, Ottilie theilt mein
Schlafgemach mit mir, mein Karl ist in die Fabrik verdrängt
... wo bleibe ich mit Kliebisch's?
Es ginge, wenn ich ebenfalls in die Fabrik ziehe,
Ottilie in die Mädchenkammer verfügt wird und Dorette
auf dem Boden schläft. Das will sie aber nicht, und
da sie vermehrte Arbeit hat, kann ich ihr schlaflose Nächte
nicht zumuthen. Sie sagt, es wäre auf dem Boden nicht
richtig, mit schleichenden Schritten im Dunkeln, daß
sie kein Auge zukriegte und lieber ginge, als sich krank
graulte. Auf Schudderigkeiten hätte sie sich nicht vermiethet.
»Dorette,« sagte ich, »Spuk ist überwunden. In unserer
aufgeklärten Zeit kommt er nicht mehr vor, er ist wie
111
weggeblasen durch den Fortschritt, durch Telegraph und
elektrisches Licht.«
»Uf'n Boden is et duster,« entgegnete sie.
Nun kann ich Kliebisch's doch nicht schreiben, die schwarzen
Pocken wären bei uns ausgebrochen, oder was sonst Mieths-Contracte
aufhebt, und sie nebenan bei Betti einquartieren,
das scheitert sowohl an ihr, wie an ihrem Manne. Sie hilft
mit Lagerstätten aus und was drauf und drunter gehört,
aber über ihre Schwelle steigt kein Fremdling.
»Ich bin nicht so blödsinnig, ein Hotel aufzumachen,« sagte
sie theilnehmend.
Damit hatte sie das Rechte getroffen. Wir sind Hotel!
Aber doch nur aus Geschäfts- und Freundschafts-Rücksichten
mit Hinblick auf das Allgemeine. Jeder Einzelne ist für die
Ausstellung verantwortlich, und für den Besuch kann nicht
genug gethan werden, theils daß er heran-, theils daß das
Unternehmen herauskommt. Berlin kann doch nicht alle
Eisbären und Rutschbahnen alleine bezahlen.
Ungermann's sind, soweit ich beurtheilen kann, zufrieden.
Am ersten Morgen sagte sie: »Mein lieber Mann ist noch
ein Kopfkissen mehr gewohnt,« und er sagte, »meine liebe
Frau frühstückt Cacao, wenn es Ihnen keine Mühe macht,«
und so einen kleinen Wunsch nach dem anderen, bis sie es
hatten, wie sie wollten. Mich rührte diese Zärtlichkeit, denn
sie sind Beide keine Jünglinge mehr, namentlich vermuthe
ich sie ihm im Taufschein bedeutend über, dagegen ist er
würdevoller, als Männer in seinen Jahren zu sein pflegen.
Er betrachtet die Welt vom ernsten Standpunkt, hat sich aber
vorgenommen, Berlin zu durchforschen, selbst wenn er Elemente
nicht vermeiden könnte, deren Berührung zu falschen
Schlüssen Anlaß gäbe. Die sociale Frage zu studiren, sei
die Aufgabe eines jeden, der das Wohl des Staates im
Herzen trüge.
Wir kennen einen Polizeilieutenant a. D., sagte ich,
»der wird Ihnen angeben, wo Sie Bauernfänger an der
Quelle beobachten können, und das Asyl für Obdachlose und
Plötzensee und die Armenpflege und was sonst gefällig ist.«
»Ich danke Ihnen sehr. Das ist, was ich will. Ja, ja,
das ist es. Unser Bürgermeister ist noch jung. Sehr jung.
112
Wir Stadträthe müssen gut unterrichtet sein, damit wir die
Bürgerschaft vor Mißgriffen schützen.«
»Sehr edel gedacht, Herr Stadtrath,« erwiderte ich.
»Wenn mein lieber Mann nicht wäre, es ginge drunter
und drüber,« nahm Frau Ungermann das Wort. »Aber wir
bilden uns nichts darauf ein und überlassen Anderen den
Vortritt, wenn das Einkommen auch nicht so groß ist. Man
weiß ja doch, was man ist.«
»Ganz meine Meinung, Frau Stadträthin.«
»Die Frau Bürgermeisterin käme ja sehr gern nach
Berlin, aber es wird den Leuten zu kostspielig. Sie müssen im
Winter repräsentiren und da bleibt für den Sommer höchstens
ein billiger Landaufenthalt. Ja, ja, jeder Stand hat seine
Last.« —
Herr Ungermann besuchte die Ausstellung fleißig, aber
immer nur das Gewerbliche; das Vergnügliche verurtheilte
er stark. Sie, die Frau, hatte weder Sinn für das Eine noch
das Andere. Es ist ihr zu weitläufig draußen und zu
mühsam.
Endlich und endlich kam sie jedoch mit ihren Anliegenheiten
heraus, wozu sie mich ausersehen hatte.
Ich ließ sie sich ruhig aussalmen, und als sie mich fragend
anblickte, sagte ich: »Meine verehrte Frau Stadträthin,
das geht nicht. Eine Schneiderin ins Haus nehmen, ist
schon längst nicht mehr an der Tagesordnung.«
»Aber man kann selber mithelfen, und es kommt wesentlich
billiger.«
»Es fehlt mir an Platz.«
»Das große Eßzimmer ist doch da.«
»Im Berliner Zimmer wird table d'hôte gehalten, wie
Sie selbst wissen.«
»Es ist ja bald wieder aufgeräumt.«
»Dazu hat das Mädchen keine Zeit. Nein, wollen Sie
sich ausstaffiren, sehen Sie sich in der Ausstellung die über alle
Begriffe schöne Gruppe >Bekleidungs-Industrie< an, wo Sie
die herrlichsten Sachen finden, vom einfachsten Hauskleide bis
zur Galarobe im Preise von achtzehntausend Mark.«
»Ich möchte nicht in Toiletten erscheinen, die Parade
gestanden haben und aller Welt bekannt sind. Außerdem
habe ich meinen eigenen Geschmack.«
113
Den hat sie allerdings, aber er ist auch danach. Was
sie anzieht, sieht alles so versonntäglicht aus, so besuchsmäßig,
und sitzt dabei doch nicht ordentlich zu Maß. Aus ihrem
Gespräch entnahm ich indes so viel, daß sie wohl fühlt, nicht
auf der Höhe zu stehen, und die Frau Bürgermeisterin keineswegs
aussticht, wie sie möchte. Die geht vielleicht ganz simpel,
aber schick, und was sie anhat, läßt sie reizend, und das verdrießt
die Ungermann, die die erste Toiletten-Violine spielen
will. Wie manches Kostüm ist im Schaufenster eine stille
Pracht, aber so bald eine sich hineinbegiebt, verlieren Beide,
das Kleid sowohl als der innewohnende Rumpf. Sich wirklich
»kleiden« ist eine Begabung. Nachdem ich genügend
überlegt hatte, sagte ich: »Kaufen Sie fertig, da wissen Sie,
was Sie haben.«
»Nimmermehr. Nein, meine Figur opfere ich nicht der
Schablone.«
Ich sah mir ihren Umriß an. Wie ein solches Gestell
sich noch lange mit Figur betituliren mag, finde ich kühn.
Und ist es hübsch, sich neu zu behängen, um Aergerniß zu
verbreiten? Und war es rücksichtsvoll, mir eine fremde Person
zuzumuthen, wo ich nicht aus noch ein weiß? So viel
ward mir klar: die Ungermann bleibt vier Winter.
»Meine Liebe,« begann ich daher trocken, »das Fertige
sitzt am besten. Wollen Sie jedoch nicht das Hochmodernste,
werden Sie in einem großen Geschäft nach ihren eigenen
Angaben immer rascher bedient, als im Hause. Besehen Sie
mit Ottilie die Leistungen auf der Ausstellung, das regt die
Phantasie an, und Sie können sich nach den vorhandenen
Motiven etwas bauen lassen, daß die Frau Bürgermeisterin
platt hinfällt.«
»Sie mißverstehen mich,« sagte sie süßlächelnd. »Die
Dame ist viel zu erhaben, als daß ich nur daran dächte, ihr
zu imponiren. Ach nein. Aber mein lieber Mann wünscht,
daß, wenn ich doch einmal in Berlin bin, ich meine Toilette
wahrnehme. Und warum auch nicht? Wir können es ja.
Für wen sollen wir sparen? Wenn wir mal todt sind, mein
lieber Mann und ich, fällt unser Bischen einem Neffen zu,
der es gar nicht einmal gebraucht. Der übernimmt die
Fabrik meines Bruders.«
114
»Was kommt es denn auf die paar Möpse mehr an?
Ich empfehle Ihnen Gerson.«
Es verdroß sie sichtbar, daß ich mich nicht erweichen
ließ, aber als Hotelverwaltung muß man sich einen Marmorbusen
zulegen. Saueren Herzens schwamm sie mit Ottilie
und Tante Lina ab, zu Dritt sich in die Confection zu stürzen.
Aus Tante Lina ward ich in den letzten Tagen nicht
mehr klug. Sie war rein versessen auf die Ausstellung, und
war schon draußen, wo die Morgenstunde vor zehn eine
Mark im Munde hat, wahrscheinlich um das Frühaufstehen
mit erhöhtem Eintritt zu bestrafen. Was wollte sie dort und
warum war sie so ausgewechselt, daß sie mehr schwieg als
erzählte und träumend da saß? Und dann wieder war sie
ganz aufgeregt. Und einen Stoß Zeitungen hatte sie bei sich
zu liegen, die sie in allschlafender Nacht durchbuchstabirte. Sie
hatte sich heimlich Kerzen gekauft, damit wir es nicht merken
sollten, aber Dorette kam gleich dahinter und fragte, ob wir
nicht einen Eimer Wasser vor Tante Linas Thür stellen
wollten, sie läse am Ende das Bett noch in Brand.
Und zum Abreisen nicht die schwächste Anstalt.
Ich verhörte Ottilie. Die sagte, sie wären mit Herrn
Kriehberg in Kairo gewesen und als Tante Lina das Kairo-Kleine-Journal,
worin die Musiknummern stehen, durchgesehen
hätte, wäre sie mit einem Male blaß geworden und wie ohnmächtig.
Und seit dem Abend hätte sie es. Am liebsten
säße sie auf einer Bank im Wandelgang und rührte sich nicht
vom Fleck, immer nur die Vorübergehenden anstarrend, ganz
wie Leonore, die um's Morgenroth fährt, wie Kriehberg sich
geäußert hätte.
»Sehr unpassend,« schalt ich. »Wer das Alter nicht
schont, ist auch anderer Unmoralitäten fähig. Wie stehst Du
mit ihm?«
Sie schwieg.
»Genickt hast Du, aber hoffentlich nicht Ja gesagt.
Ottilie, Kriehberg paddelt noch; hängst Du Dich an ihn,
geht er unter in dem Strome des Lebens. Warte wenigstens,
bis er auf dem Trocknen ist. Binde nicht Dich, binde nicht
ihn. Und wenn er geht, was bist Du für ihn gewesen? Eine
Sommerliebe, die um's Morgenroth flattern kann.«
»Nein, nein. So schändlich kann er nicht sein.«
115
»Schändlich nicht, aber leichtsinnig. Er hält ja nirgends
aus, also auch nicht bei Dir. Und Tante Lina hat ihn auch
erkannt; er hat sie nämlich gräßlich angelogen.«
»Nein, nein!«
»Das hat sie mir selbst gesagt.«
»Wie ungerecht. Ich war ja dabei.«
»Na also.«
»Das kam so. Er erzählte uns, wie kolossal der Betrieb
im Hauptrestaurant sei. Da sind fünfundvierzig Köche und
fünfzig Spülfrauen und gegen zwanzig Messer- und Silberputzer
und über vierundvierzigtausend Tischtücher und Mundtücher
und, denken Sie sich, achttausend tiefe, neunzigtausend
flache Teller und achtzehntausend Beitellerchen und zwölftausend
Messer und Gabeln. Und das wollte Tante Lina
nicht glauben. Durchaus nicht.«
»Sie hätte sich ja blos überzeugen brauchen.«
»Sie sagte, so viel Geschirr gäbe es überhaupt nicht
und das nahm er selbstverständlich übel.«
»Wann war das?«
»An demselben Abend.«
»Jetzt verstehe ich. Sie hat auf ihn gehalten und glaubt,
sich in ihm getäuscht zu haben und bereut, daß sie seine Annäherung
an Dich begünstigte. Sehr einfach.«
»Aber Kriehberg hat nicht gelogen.«
»Wenn Du eine kleine Stadt ausschüttelst, fallen nicht so
viel Teller heraus, als im Hauptrestaurant täglich gebraucht
werden, das ist klar. Und deshalb hält Tante Lina solche
Porzellan-Anhäufungen für kalten Aufschnitt. Es giebt eben
Wahrheiten, die manchmal keine sind. Kriehberg fehlt es an
Welterfahrung und das ist bei einem Manne schlimm. Am
Schlimmsten aber für die Frau, denn Dämlichkeit des Gatten
ist kein Scheidungsgrund.«
Doch: »Rathet mir gut, aber rathet mir nicht ab« sagt
die Braut im Sprichwort. Ich verkündete darum gewissermaßen
prophetisch: »Ja, es ist wahr, die Liebe ist blind, aber
sie merkt es erst, wenn sie hinterher den Schaden besieht.« —
Mein Karl sucht eine auswärtige Stellung für Kriehberg,
ihn aus Berlin weg zu unterstützen. Das wäre für
ihn gut und noch guter für mich. Ottilie stelle ich die Wahl
zwischen ihm und einem billigen, aber geschmackvollen Lodenanzug
116
des Vereins Berliner Damenmode. Ich denke, sie
nimmt den Anzug. —
Und deshalb machte ich mich auf, den Dreien nach, die in
Costümbetrachtungen schwelgten. Wenn die Ungermann sagt:
»Solches würde ich mir machen lassen und jenes und das
noch dazu und das und das und das, erwacht in Ottilie
gleiches Begehren und sie läßt mit sich handeln. Ich kenne
das. Was die eine hat, will die andere auch haben. Geht
man in ein Geschäft und der junge Mann versichert, dies
wird viel genommen... schwapp hat man's.«
Es ist mit Bräutigämmen ganz dasselbe. Hat eine
einen, ruht die andere nicht, bis sie ebenfalls einen Verlobten
unterärmelt, und wenn sie sich blos einbilden muß, ihn zu
mögen. —
Ich traf sie in der Moden-Abtheilung. Ottilie und die
Ungermann, die an allem, was sie sah, zu tadeln fand.
Gefiel ihr der Stoff, verwarf sie den Schnitt, was gelb war,
sollte roth sein und was mit Besatz war, wollte sie gesteppt
haben. In mir siedeten bereits Bemerkungen, die ich nur
unterdrückte, weil sie bei uns hotelisirt. Wäre sie die
Butschen gewesen oder gar die Pohlenz... ich hätte einen
Ton geredet, wie das Nebelhorn an der Spree, bei dem
ältere Leute einknicken, wenn es unangemeldet lostutet.
»Wo ist denn Tante Lina?« fragte ich, da ich sie nicht
gewahrte.
»Die wird wohl draußen auf ihrer Bank in der Wandelhalle
sitzen.«
»Dann helfe ich ihr spazieren sehen,« entgegnete ich,
drehte mich kurz um und dampfte ab. Ich kann viel vertragen,
nur keine Besserwisserei aus Dünkel.
Tante Lina saß richtig auf der Bank. Ich beobachtete
sie aus einiger Entfernung eine ganze Weile.
Sie saß und sah. So merkwürdig selbstvergessen saß
sie da, wie todt und jeden Vorübergehenden schaute sie forschend
an, mit den Augen, die allein lebend waren, scharf
und fragend und hell.
Ich setzte mich zu ihr. Sie merkte es nicht.
»Tante Lina,« sagte ich.
Sie schrak ein wenig zusammen. »Ach Sie sind es,«
117
sagte sie und sah wieder wie abwesend in die vorüberwogende
Menge.
Auf einmal überkam sie heftiges Zittern, ihr Athem
ging rasch und hörbar. »Was ist Ihnen?« rief ich besorgt
und war schon auf dem Sprung, die Sanitätswache zu alarmiren.
Ein Herr ging daher, ihm zur Seite in einem Zähluhrfahrstuhl
eine Dame. Sie sprach zu ihm, er neigte sich und
antwortete freundlich auf ihre Fragen. Es war abendkühl.
Er legte ihr seinen feinen, seidengefütterten Paletot über die
Füße.
Sie lächelte ihm Dank zu. Eine recht nette Frau und
ein stattlicher Mann, schon etwas weißlich an den Schläfen,
aber das kleidete ihn gut.
Als das Paar in unserer Nähe war, rief Tante Lina:
»Johannes. — Johannes!«
Der Herr wandte sich um. Hatte ihm der Ruf gegolten,
der so weh klang und erstickt, als hätte ein verlassenes Kind
nach der Mutter geweint?
Er blickte mich an, er blickte Tante Lina an. Dann
schüttelte er leicht sein Haupt und schritt weiter.
Tante Lina war zusammengesunken; die Kunstlocken
hingen vornüber und beschatteten ihre Augen. Es durchzuckte
sie ruckweise, wie große Qual den Menschen durchbebt.
»Tante Lina, um Gotteswillen, was ist Ihnen?«
»Er war es,« flüsterte sie. »Er.«
»Wer denn, Tante Lina?«
»Johannes. Johannes Viedt. Es war wohl seine Frau,
die neben ihm? — Es war seine Frau.«
»Sie müssen sich geirrt haben, wo soll denn der herkommen?«
»Er ist es. Ich las seinen Namen unter den Besuchern
des Tempels, die sich einschreiben, ganz deutlich: Johannes
Viedt aus St. Louis. Ich hab' in allen Zeitungen die
Fremdenlisten nachgesehen, sein Hotel herauszubringen, ich fand
ihn nicht. Da habe ich auf dieser Bank gewartet, jeden
Tag. Ich wußte, er würde kommen.«
»Und das that er auch.«
»Er sah mich und ich sah ihm in die Augen, wie damals,
als er ging. Er hat mich nicht wieder erkannt. Nicht wieder.«
118
Sie weinte. Stille Thränen, schwere Thränen.
»Tante Lina, wollen wir nach Hause?«
»Ja. Und morgen reise ich. Ich habe Alles in Ordnung:
mein Sterbekleid liegt im Schubkasten unten im großen
Spinde. Und Tischler Grawert weiß Bescheid, blos ein
einfacher Sarg, ganz einfach. Alles in Ordnung.«
»Nicht doch, Tante Lina. Ich lasse Sie nicht eher, als
bis Sie wieder froh und heiter sind. Weg mit so trüben
Gedanken. Sehen Sie, wie schön und golden die Sonne auf
die Kuppeln und Thürme scheint.«
»So?« fragte sie theilnahmslos. »Ich hatte eine Sonne,
hier drinnen, die ist untergegangen. — Ob er wohl glücklich
ist mit seiner Frau? — Ob wohl Kinder da sind? — Viedt's
haben mir nie gesagt, daß er sich verheirathet hat. Sie
wollten mir's wohl verheimlichen. Ja, Viedt's sind gut und
Johannes ist der Beste.«
Sie erhob sich müde und wankend.
»Liebe Buchholz,« sagte sie sanft. »Haben Sie Dank,
daß ich bei Ihnen sein konnte, daß ich ihn noch einmal sah.
Ihm geht es gut; ich bin zufrieden.«
Wir verließen die Ausstellung und nahmen eine Droschke.
Das Gewühl auf der Eisenbahn war nichts für Tante Lina.
Sie sprach unterwegs kein Wort. Ich glaube, sie begrub
die Vergangenheit.

119

Täuschungen.
Was dem Menschen im Buche des Schicksals angekreidet
steht, das wird ihm besorgt. Für mich stand eine Nähmamsell
drinn und ich habe sie. Hinter meinem Rücken
hat die Ungermann sie gedungen und in Thätigkeit gesetzt,
als ich pflichtgemäß außer Hause war. Und wer hat ihr
dabei geholfen? Die Krausen.
Hätte ich die Beiden doch nur nicht miteinander bekannt
gemacht. Aber es mußte so kommen.
Die Ungermann beschwabbelte mich, mit ihr noch einmal
die Costüme zu begutachten und ich ging darauf ein,
weil ich später selbst darüber sachgemäß berichten muß, obgleich
ich nicht kapabel bin, mich in die confectionelle Schreibweise
hineinzuzwängen, wodurch die Modeberichte immer ihre
Pompösität kriegen. Ich weiß nämlich nicht, wo ich die
Fremdworte alle aufgabeln soll, die kunstvoll in die Sätze
vernäht werden, damit sie etwas hergeben.
Und schließlich: was ist Mode? — Es ist dasjenige,
weswegen man ausgelacht wird, wenn man es nicht mitmacht,
und das man auslacht, wenn es nicht mehr mitgemacht wird.
So denke ich darüber.
Man sieht es ja. Kaum nehmen die Damen bei dem
Trachten-Panoptikum von Moritz Bacher Aufstellung: heiter
werden sie und schmunzeln und kichern und machen sich lustig
über ein Jahrhundert Mode und halten es für unmöglich,
daß verständige Menschen sich jemals so zu Schauten machten,
120
außer auf Maskenbällen. Das Ungreiflichste ist ihnen die
Krinoline, aber damals, als sie aufkam, hielt es
jeder für heiligste Pflicht, das Birnenhafte den
Franzosen nachzuäffen und in allem Ernste schön
zu finden.

Wie wohl nach hundert Jahren über unsere Mode gespottet wird? Aber es
geht nun einmal nicht anders. Anhaben muß der Mensch etwas. Barfuß
bis unter die Arme, wie die alten Griechen, ist nur Statuen erlaubt.
»Da sieht man, auf was für Fahnen die Damen verfielen,
um ihre Nebenbuhlerinnen zu ärgern,« sagte ich
zur Ungermann, die diesen Stich nothwendig versetzt haben
mußte, weil sie doch nichts weiter sinnt, als sich mit ihrer
Kleedage beneiden zu lassen. Ob sie Glück haben wird?
Kaum. Grün mit erdbeercremefarbigem Besatz
erregt meiner Ansicht nach höchstens Bedauern. Und das
nennt sie eigenen Geschmack. Sie aber gethan, als hätte sie nicht
verstanden. »Gottlob, daß wir nicht in so ordinärer Vergangenheit leben,«
sagte sie, »wir schreiten eben vorwärts; auch
die weißen Röcke kommen ab. Haben Sie
den Unterrock von gelb und blau chinirter
Seide gesehen? Solchen schaffe ich mir an, er ist wie ein Gedicht.«
121
»Aus der goldenen Hundertzehn,« ergänzte ich ihre
Schwärmerei und dachte, ob sie wohl vorhat, den Leuten das
Nähmaschinengedicht auf dem Thurmseil vorzudeclamiren,
worüber ich in lächelnde Stimmung gerieth, in der ich den
Antrag auf Verweilung im Freien stellte, mit einem Täßchen
Eis-Schocolade bei Hildebrand. — Wurde angenommen.
Wie wir nun unterwegs das große Becken betrachten,
worin der Lichtspringbrunnen emporlodern soll, stößt Ottilie
mich an und flüstert: »Da ist er.«
»Wer?«
Ich hingesehen und richtig, da steht der Adonis von neulich
in Lebensgröße und giebt einem Arbeiter Anweisungen
aus einem Taschenbuch. Er wird uns gewahr, zielt scharf
herüber und eilt auf uns zu.
»Herrjeh, Tante Ungermann,« ruft er, »Du in Berlin?
Also täuschte ich mich nicht, als ich Onkel kürzlich im
Olympia-Theater zu sehen glaubte.«
Tante und Neffe begrüßten sich und sie stellte ihn vor.
»Rudolph Brauns, mein Schwestersohn.«
Ich verneigte mich gemessen. Ottilie erröthet.
»Wo kommst Du denn her?« fragte die Ungermann.
»Ich bin als Elektrotechniker engagirt,« antwortete er.
»Papa meinte, ich sollte es annehmen: bei den kolossalen Anlagen
hier könnt' ich mich nur vervollkommnen.«
»Elektrotechniker?« redete ich ihn mißtrauisch an. »Als
wir vor einiger Zeit, wie der Zufall es so fügte, an ein
und demselben Tisch in Unterhaltung geriethen, sagten Sie
doch selbst, Sie wüßten nicht einmal, was Elektricität sei.«
»Das weiß auch noch Niemand!« entgegnete er unbefangen.
»Kein Gelehrter kann bis heute sagen, was sie ist.
Wir kennen ihre Erscheinungsformen. Alles andere ist
Theorie.« — Ich dachte ihn zu überführen, aber wenn die
Sache liegt, wie er sagt, dann war unmöglich richtig, was
Ottilie über das Wesen der Elektricität vortrug. Mir dämmerte
so etwas wie Blamirung auf.
Ottilie war ganz roth geworden, stark lippenpomadenroth.
Tante und Neffe erkundigten sich gegenseitig nach ihren
Erlebnissen seit dem letzten Zusammensein; Ottilie und ich
gingen voran zur Schocolade, die jedoch mit Hindernissen
122
verbarrikadirt war, und zwar in Gestalt von Herrn und Frau
Krause und Butsch und Gattin, die auf uns zu stießen.
Die Krausen hochelegant. Mein erster Gedanke war,
»wie kommt sie dabei?« und ehe ich einen zweiten fassen
konnte, sie mir vortriumphirt, daß sie alles vermiethet hätte
mit Verpflegung und fabelhaft verdiente. Ich zog natürlich
gleich die Hälfte ab.
»Feine Leute,« schwaddronirte sie, »und so zufrieden mit
allem, Geld spielt gar keine Rolle. Nun sie merken ja auch
gleich, daß sie es mit Bildung zu thun haben. — Sie sind
doch auch so schlau, zu vermiethen? Oder haben Sie noch
Zimmer leer?«
»Alles besetzt,« gab ich zur Antwort. »Mein Mann schläft
sogar in der Fabrik.« — Und das war der Wahrheit gemäß.
— »Wir persönlich schränken uns auch ein,« fuhr sie fort.
»Das sieht man Herrn Krause an,« warf ich ihr vor.
»Ich, an Ihrer Stelle, würde den Fremden nicht alle die
kräftigste Bouillon allein geben oder lieber ein halbes Pfündecken
Fleisch mehr nehmen, damit der Mann auch was hat.«
Auf diese Enthüllung aus heiterem Himmel war sie
nicht vorbereitet, vergebens fischte ihr Geist nach Wiedervergeltung.
Aber ich hatte polizeilich beglaubigte Bestätigung
ihrer Mierigkeit, indem Doretten's jetziger Bräutigam eine
Cousine bei Krauses zu dienen hatte. Schaudervoll geht es
her. Von einem halben Pfund Beilage, dreitägige Brühe
gekocht und den Zampel mit Rosinensauce aufgetischt, daß
der Mann seine eigene Haut als Ueberzieher brauchen könnte,
wenn sie zu knöpfen ginge und deshalb gab der Schutzmann
das Familienverhältniß auf. Wo die Herrschaft selber Ammi
spielt und die Knochen abgnabbelt, hält kein Geliebter aus,
da wird die Küche bald zum Kloster mit der Krausen als
Aebtissin, worauf das Mädchen sofort kündigt. Warum hat
sie sonst alle halbe Jahre eine neue?
Dies hat mir Dorette hinterbracht, die es von ihrem
Verlobten weiß, und Schutzleute lügen nie. Als ich fragte,
ob die Krause'sche Philippine auch eine wirkliche Cousine von
ihm gewesen sei, wurde sie patzig und sagte, er hätte seinen
Diensteid darauf gegeben, daß es keine Stiefliebste war: ob
ich Lust hätte, mich in Unannehmlichkeiten zu stürzen? Worauf
ich nicht weiter auf den Fall einging.
123
Die Butschen hatte meinen Sieg über die Krausen nicht
bemerkt. Sie schwamm am Arm ihres Mannes in Festtagslust.
Er sah auch gentil aus mit der ihm angeborenen und
mit Weißbier weiter gepflegten Stattlichkeit und schwarzblank
neu in Kleidung, wozu Herr Bergfeldt sich nie aufschwingen
konnte, weil immer nur mit Ach und Krach ersetzt wurde,
worauf längst Ventilationsklappen gehört hätten, womit sie
ihn nicht gut gehen lassen konnte.
»Butsch wollte erst gar nicht,« erzählte sie, »um damit
daß nichts im Geschäft passirt, wenn er weg ist und irgend
so'n Besoffsky Radau macht, denn gerade in der Abwesenheit
erlebt man gewöhnlich den mehrsten Verdruß...«
»Aber meine Olle mir keine Ruhe gelassen,« nahm Herr
Butsch das Wort, »bis ich mich bewogen fühlte, zu sagen,
wenn es so brüllend schön ist, wie Deine Beschreibung unbegreiflich,
denn man hin. Und ich muß gestehen, blos um
das Ausgefallenste zu betrachtigen gehören minimumst Zweie.«
»Nicht wahr?« freute sich die Butsch. »Und so raffinant.
Das Industriegebäude und die Hauptrestauration ganz natürlich
wie sonne Pendants.«
Ungermann's merkten bereits auf und damit die Butschen
als meine Bekanntin nicht auf grenzenlosester Kunstunwissenheit
ertappt würde, sagte ich: »Beides in italienischer Phantasie
stilisirt. Gehen wir.«
Die Krausen aber spitzlistig gefragt: »Was verstehen
Sie unter Pendants, meine Beste?«
Die Butschen wies erst auf den weißen Wasserthurm
und dann auf die blanke Kuppel und sagte grundehrlich:
»Na, auf der einen Seite ein Thermometer und auf der
anderen ein Barometer, wie es unsere gute Stube auch in
der Mode hat.«
»Kein übler Gedanke,« rief der junge Herr Brauns,
»damit ließe sich in der Metall- und Galanteriewaarenbranche
vielleicht ein Geschäft machen. Wollen Sie mir die Idee
überlassen? Wir theilen den Gewinn. Ich übernehme die
Musterschutzkosten und die Abmachungen mit den Fabrikanten.
Ein paar tausend Märkelchen können dabei herausschauen,
Notabene wenn wir Glück haben.«
»Meine Frau willigt ein,« sagte Herr Butsch. »Olle, Olle,
124
bist Du helle!« rief er und küßte sie inmitten der Menschheit
und sie stand ganz verlegen und glücklich. So glücklich.
»Und wenn's nur ein paar hundert Mark werden,«
fuhr Herr Busch fort, »es wäre auch schon schön. Kathinka,
es kommt in die Sparkaste und bleibt Deine. Ich habe ja
immer gesagt, wer meine Frau für dumm kauft, der schmeißt
sein Geld weg.«

Die Krausen zipperte mit den Eßwinkeln. Die Butschen,
die sie verdunkeln wollte, strahlte in Glorie. Das verdroß
sie schmählich.
In diesem Zustande war Eis-Schocolade für sie wie von
der Vorsehung angerührt. Herr Butsch ließ sich nicht nehmen,
die ganze Runde auf die Erfindung seiner Frau hin zu erledigen.
Herr Brauns gab eine zweite dagegen.
»Ich finde es abscheulich, daß der junge Mann die
Butschen so zum Besten hat,« raunte die Krausen mir zu.
»So ihre Bornirtheit zu verspotten.«
»Erlauben Sie, es war sein voller Ernst.«
»Das glauben Sie selber nicht. Außerdem halte ich an
die Oeffentlichkeit treten für unweiblich.«
»Man muß es nur können.«
»Aber wie wenige vermögen das? Und dann ist es
auch nur Zufall, wenn mal etwas gelingt. Wirklich Denkende,
wie mein Mann, halten es mit der Würde ihres Standes
125
unvereinbar, ihre Geistesschätze auf dem Markt zu profaniren.
Gelehrsamkeit ist eben keine Kuh, die Einen mit Milch und
Butter versorgt.«
»Er kriegt wohl blos amerikanisches Schmalz,« entgegnete
ich. Das mußte ich ihr einreiben, erstens wegen ihres Dünkels
und zweitens, weil sie mich meinte. Und um ihren Hochmuth
ein für alle mal zu dämpfen und neben der Butschen, die
doch meine langhergebrachte Freundin ist, nicht wie die
Krausen als Nachtschatten betrachtet zu werden, sondern ebenfalls
als lebende Magnesiafackel, sagte ich: »Jetzt wird gerade
gedruckt; wir sehen uns das Innere des Lokalanzeigers an,
wo die Ausstellungsnachrichten entstehen. Da kommen die
höchsten Herrschaften und Minister und Excellenzen und alles,
was von Bedeutung ist, wie heute unsere liebe Butschen,
die einen gewaltigen Schritt in das Erfinderische gethan hat.«
»Müssen wir,« pflichtete Herr Butsch bei. »Willst Du
auch einen Cognac auf das kalte Zeug, Kathinka?«
»Nee, nee,« dankte sie. »Mir ist so heiß, ich weiß
nicht wie.«
Die Setzmaschinen in der Druckerei und wie sie das
Geschriebene in runde Metallplatten verwandeln, das ist
direkt räthselhaft und die Pressen sind so gerieben ausgedacht,
daß wir sie nur so lange verstanden, als Herr Brauns
sie uns erklärte. Das Papier an sich ist doch ganz vernunftlos,
aber in der Presse wird es lebendig und geht seine Wege,
wie auf dem Exercierplatz kommandirt und kommt unten als
Zeitung heraus. Immer klapp, klapp, klapp ist eine Nummer
nicht nur lesbar, sondern auch gefaltet. Dies fesselt stets auf's
neue, so oft man es auch anstaunt.
Und nun führte ich meinen Plan aus, gerade jetzt durch
die Krausen gereizt.
»Meine Herrschaften,« sagte ich so verständlich in dem
Maschinen-Geräusch wie möglich: »Sie verweilen wohl einen
Augenblick, ich bin gleich wieder zurück.«
Sie nickten Einverständniß.
»Ich habe nämlich auf der Redaction zu thun.«
»So?«
Weiter nichts als gleichgiltiges So. Die Krausen that,
als wollte sie in die Walzen hineinkriechen. Das war Neid.
Sie wollte nicht hören. Sie ahnte etwas.
126
»Ich muß mir nämlich die Correcturen von meinem
Bericht holen.«
»Dann eilen Sie sich man,« sagte die Butschen.
Konnte sie nicht loswundern und einen Strahl über
mich als Presse reden? Ih Gott bewahre. Der Effect war
vorbei gegangen und die Krausen beleidigend gleichgültig
gethan. Aber ihre Blicke hohnlachten.
Ich verabsentirte mich. Der Redacteur war bereits sich
erholen oder Beobachtungen machen gegangen, was man
nie genau unterscheiden kann, aber ein Umschlag mit den
Abzügen, an mich gerichtet, lag zum Absenden da, den ich an
mich nahm. Ich behielt ihn in der Hand. Sehen mußten
die Anderen ihn. Noch war die Bataille nicht verloren.
Auf die Frage, wo Abendbrot genießen, empfahl Herr
Brauns die Brauerei von Berliner hinter der Maschinenhalle
und wie manches so hintrifft, kamen wir an denselben
Tisch, an dem Ottilie und ich Herrn Brauns erste Bekanntschaft
machten. Es wurde angebaut und da gute Prepelung
aufheitert, wurden wir bald recht fidel.
Herr Butsch war der Vergnügteste und hielt die Kellnerkräfte
in Bewegung. »Kathinka, trink,« forderte er sie auf.
»Trockene Freude ist halber Schmerz. Trink, Kathinka. Ich
geb' noch einen aus. Kellnär!«
»Aber Butsch, bedenke, was Du schon losgeworden bist.«
»Wenn't nich Geld genug gekostet hat, gehn wir noch
mal wieder her,« lachte er. »Was kann das schlechte Leben
helfen, n't Vermögen ist doch bald alle. Kellner, zwei
Cognac, aber ohne Fußbad.«
Ich hatte den Schreibebrief auf den Tisch gelegt, dicht
vor Herrn Krause, aber er sah nicht hin. Er aß und trank
und es schmeckte ihm. Es war ja auch eine stärkende Unterbrechung
der Suppenfleischklopse, an denen er langsam vermickert.
Aber es soll thatsächlich Naturen geben, die sich an
Vergiftung gewöhnen.
Sie, die Krausen, brannte auf den Brief. Sie faßte ihn
ganz unabsichtlich an, tändelte damit und warf ihn wieder
hin. Aber sie konnte und konnte nicht davon bleiben.
»Was ist darin?« fragte sie endlich.
»Correcturen von meinem nächsten Bericht. Es hat so
leicht Keiner eine Ahnung, wie mühsam die sind.«
127
»Das kann ich mir garnicht denken. Wenn Sie es fertig
bringen, ist es doch unmöglich so schwer?«
»Versuchen Sie. Da ist ein Bleistift. Zeichnen Sie einmal
einige Fehler an.«
»Ich werde doch nicht das Ganze durchstreichen,« sagte
sie und meckerte. Das sollte ein Witz sein.
Rasch hatte sie den Umschlag aufgerissen. Da waren
die Correcturstreifen. Sie las. Ihre Züge verklärten sich, als
sie weiter schnüffelte. »Ah,« dachte ich, »sie wird bezwungen
von Deiner Schreibung, Wilhelmine. Sie ist doch am Ende
nicht so schlecht und aller höheren Empfindung bar, wie man
leider manchmal angenommen hat.« — Gerade dieser Bericht
war mit besonderer Hingabe abgefaßt, sozusagen mit
Begeisterung und doch wieder mit dem sachlichen Pflichtgefühl
des hohen Berufes der Presse.
»Darf ich vorlesen?« fragte die Krausen.
»Vorlesen!« lechzten die Anderen förmlich. »Vorlesen!«
»Wenn es Ihnen Vergnügen macht,« gestattete ich bescheiden
und sah auf das Tischmuster. Vorgelesen werden
sollen ist ähnlich wie in einer Schaukel, nicht schön und doch
wieder sehr schön.
Die Krausen räusperte sich und las laut: »Der Glanzpunkt
der gesammten Ausstellung, wie noch niemals da war
und die Augen der Nationen auf sich lenken wird, befindet
sich links im Hauptgebäude. Es ist dies ein aus diamantschwarzen
Strümpfen auf weißem Grunde künstlerisch hergestellter
Reichsadler, unter Garantie absolut farb- und
waschecht mit verstärkten Spitzen und verstärkten Fersen, ein
großer Theil der Qualitäten außerdem mit verstärkten Sohlen
eine Musterleistung des Hauses Buchholz und Sohn.«
Die Krausen hielt inne. »Darf ich weiter lesen?« fragte
sie. »Ist es Ihnen auch recht?«
»Gewiß!« erlaubte ich ihr, da alle mit gespannter Aufmerksamkeit
lauschten. Sie lächelte mir teuflisch zu und las
mit erhobener Stimme.
»Die Güte der Waare fechten wir keineswegs an, aber
Glanzpunkt ist zu viel gesagt, in Anbetracht hervorragenderer
Objecte, und über das Künstlerische des Adlers ließe sich diskutiren,
mehr als wir Raum in unserem Blatte für Erwiderungen
zur Verfügung haben. Wir ersuchen Sie, einen
128
anderen Eingang zu schreiben. Ganz ergebenst die Redaction.
— Das steht hier mit Tinte am Rande. Ihr Glanzpunkt
aus Strümpfen ist dick blau ausgestrichen. Sehen Sie,
meine Damen.«
Wie ich da saß, war mir wie weit weg im Nebel. Was
ich sagte, war wie hohles Echo. Ich hatte es so gut mit
meinem Karl gemeint, und seine Ausstellung ist auch der
Glanzpunkt. Und der Adler ist von einem früheren jungen
Akademiker entworfen, also künstlerisch. Kann man sich denn
nicht mehr auf die Akademie verlassen?
»Die größten Schriftsteller haben ihre ersten Entwürfe
oft genug umgearbeitet,« sagte Herr Brauns, »und in unserem
Fach ist der erste Plan meist nur ein Anhalt. Wir alle
müssen corrigiren.«
»Pah!« sagte die Krausen, »ich möchte um nichts in der
Welt ein Genius sein. In meine Sachen redet mir kein
Zweiter hinein, das ist mein Ehrgeiz.«
»Der Anfang war auch nicht gut,« sagte ich, mich aufraffend.
»Mir fehlte es an Zeit und Ruhe. Der, den ich
jetzt schreibe, wird besser. Und das wissen Sie alle: über
künstlerisch und unkünstlerisch gehen augenblicklich die Ansichten
quer auseinander. Der Adler ist mehr nach der alten
Schule, und der Redacteur gehört wahrscheinlich zu den
Modernen. Wer von den Beiden den Vorsitz hat, kugelt den
anderen hinaus. Somit werden meine Ansichten durchaus
nicht berührt.«
Herr Brauns gab dem Gespräch eine andere Wendung,
mehr nach launigen kleinen Geschichten hin, bis Herr Butsch
durch das viele Freudenbier zu aufgeräumt wurde.
Als wir aufbrachen, versicherte die Krausen, sie hätte
lange keinen gemüthlicheren Abend verlebt, als den heutigen;
wann wir uns wieder treffen wollten?
»Nächstens«, entgegnete ich, »aber lassen Sie's mich vorher
wissen.«
An dem schadenfrohen Lächeln ihrer Larve sah ich, daß
sie erkannte, wie ich es meinte, nämlich nicht in die la main.
Nun war sie zufrieden, nun sie wußte, daß ich durch ihre
Spinnenumgarnung hineingelegt worden war, und machte
sich an die Ungermann, mit der sie ein Herz und eine Seele
wurde. Da hat sie ihr, mir zum Schabernack, auch noch die
129
Nähmamsell nachgewiesen. Meine Zuversicht ist: der liebe
Gott sieht durch die Finger, aber nicht ewig.
Zu Hause angelangt, fragte ich Ottilie, warum sie so
gänsehaft dagesessen und nicht ihre wissenschaftliche Unterhaltungsgabe
in die Bresche geworfen hätte, der Krausen den
Giftschnabel zu stopfen?
»Ach,« seufzte sie, »Herr Brauns ist zum Verzweifeln
schön.«
»Der geht Dich nichts an, Du hast Dich ja schon für
Kriehberg entschieden. Troll Dich, Du bist müde. Dir fallen
ja schon die Sehluken zu. Ich habe noch stundenlang zu
arbeiten.«
Sie verduftete seufzend und ich setzte mich vor das
Papier, aber es wollte mir nicht gelingen, den vorherigen
Schwung zu erreichen. Ins Wasser gefallen ist der stolzeste
Adler, ebenso klatrig, wie ein nasser Spatz. Ich marterte
mein Gehirn umsonst. Und dazu die letzten Erlebnisse. Es
kribbelte nur so in mir.
Mein Mann kam. »Wilhelmine, willst Du Dich ganz
aufreiben? Es ist nachtschlafene Zeit. Sei vernünftig, Kind, und
leg' Dich.«
»Bette mich in Daunen vom Zephyr, was die Krausen
mir angethan hat, hält mich wach wie Distel und Dorn,
selbst im Grabe. Die Person ist noch mein Tod.«
»Mir ist sie auch eine gräuliche Prise, aber laß sie laufen.
Denke vornehmer als sie, Wilhelmine.« — »Das thu' ich
lange.« — »Beweis es mit der That und ärgere Dich nicht.« —
»Ueber so Eine nicht im Geringsten.« — »Das ist recht. Ein
edles Gemüth vergiebt.«
»Gut, ich will vergeben, aber Du, Karl, Du vergiß es
nicht. Man kann nie wissen, wie es kommt.«

130

Eingeregnet.
»Verliere Deine Geduld nicht, es hebt sie Niemand auf,«
sagte mein Karl.
Ich versuchte freundlich zu sein. Allein mehr als
wie beim Photographen kam nicht heraus und auch nicht
länger. Irgendwo las ich einmal etwas von Lachgas. Das
wäre die einzige Stärkung für mich gewesen, aber Dorette
kam mit leerem Fläschchen wieder und sagte, in der Drogenhandlung
hätten sie es nicht, ob ich nicht Nelkenöl nehmen
wollte, das wäre auch gut gegen Zahnschmerzen.
Zahnschmerzen! Wenn man ihre Nothwendigkeit auch
nicht einsieht, sind sie doch zu bewältigen; wo aber wohnen
Aerzte, die Einem den Kummer ausziehen und Aerger und
Verdruß?
Ich hatte mich recht auf Kliebisch's Eintreffen gefreut
und, da Tante Lina sich in ihre Heimath versammelt hatte, —
sie war beim Abschied wehmüthig wie an einem Begräbnißtage
— stand das Fremdenzimmer wieder frei, den Amtsrichter
Buchholz zu beherbergen, der, als zu meines Karls
Linie gehörig, doch auch Anrecht auf verwandtschaftliche Unterkunft
hat, zumal das ihm bei Butschen's ausgemachte Logis
drei Herren zum Massenquartier dient. Kliebisch's brachten
jedoch ihr Töchterchen Anna mit, die Aelteste, und meinten,
eine Sophaecke für das Kind fände sich wohl an. Im
Uebrigen würde sie mir zur Hand gehen, da sie für häusliche
Arbeit außergewöhnlich veranlagt sei.
131
Was war zu thun? Herr Kliebisch bekam das Fremdenzimmer,
sie die Kliebischen mit Tochter übernahm das
Vorderzimmer neben Ungermann's, die sich mit der guten
Stube behelfen. Im Berliner Zimmer wird geschneidert.
Ich bin machtlos. Mein Karl sitzt voller Aufträge, daß die
Fabrik nicht ausreicht, und unser Schwiegersohn und Compagnon
Schmidt auf Reisen gehen mußte, um mit Lieferanten
abzuschließen; er kann sich dem Besuch nicht widmen. Und
das wäre auch nichts für seine Gesundheit, zu so unmöglichen
Tageszeiten kommen die Herren nach Hause. Auf meine Bemerkung,
daß der Schlaf vor Mitternacht der heilsamste sei,
entgegnete Herr Ungermann, er wäre aufgeblieben, um die
Brodträger am frühen Morgen statistisch zu kontrolliren, da
von der Umgestaltung des Bäckereigewerbes die sociale Verbesserung
aller Stände erwartet würde. Herr Kliebisch lachte
kurz auf, als wenn er zweifelte. Ich hielt es mit Kliebisch.
Dorette hat mir nämlich erzählt, daß wenn Ungermann's
unter sich sind, die Frau ihren Mann blos mit
Brummsuppe regalirt und ihn sogar mit Liederjahn traktirt.
»Dorette,« beschönigte ich, »sie wird wohl Biedermann
gesagt haben, wo er sie doch stets mit >meine liebe Frau<
belegt und sie ihm nie anders als mit >mein lieber Mann<
entgegentritt.«
»Det is man so duhn,« bestand Dorette. »Wat er der
Ungermann is, er is 'n richtijer oller Schlieker, und wat sie
vorstellt, sie is 'n oller Satan.«
»Dorette, unterstehen Sie sich nicht, in solchem Tone
über meinen Hausbesuch zu schandiren. Geschieht das noch
einmal, wissen Sie, wo die Luft am frischesten ist.«
»Ick jeh lieber jleich, indem ick't bis zum Ersten schwerlich
aushalte. Is denn det ne Zucht, dettse bei den jetzigen
Sauwetter de janze Straße in die jute Stube tritt, viel
wenijer, dettse Morjens eigenhändig den Klatthammel abrubbelt
un de Plüschmöbeln in Erdreich verjraben sind? Un
denn mir vorjeworfen von jründlich Reinemachen? Nee, et is
hier schon nich mehr scheen.«
»Dorette, wenn es regnet, wird leicht etwas Schmutz
ins Haus getragen, das ist naturgesetzlich.«
»Sonne Jesetzer ästimir ick nich. Wat boddert se mit
de Schleppe in'n dicksten Lehm? Und sind de Flicken und
132
de Fusseln in't Berliner Zimmer ooch Jesetz? Nee, da is
de Schneiderei dran Schuld und ick hab' de Arbeet von.
Ent- oder weder, die Ungermann zieht oder ick.«
»Dorette, ich lege Ihnen zu. Ueberdies haben Sie ja
jetzt Hilfe an Fräulein Kliebisch.«
Dorette lachte. »Komm die Frau 'mal mit,« sagte sie
vertraulich und führte mich in Herrn Kliebisch's Zimmer.
»Det hat se von alleene besorgt. Seh een Mensch blos
det Bett an. Und da soll der eijene Vater drin jeschlummert
werden. Det is ja Umjehung von's vierte Jebot, >auf daß
es Deine Eltern wohljehe und se lange leben uf Erden.<«
Es war in der That nicht ersten Ranges, was das
Kind vollführt hatte. Das Bett glich einem Gebirge mit
Thälern und Schluchten, die Morgenschuhe standen auf der
Kommode, den Vorleger hatte sie unter das Spinde gefegt.
»Un ausjejossen hat se jar nischt,« höhnte Dorette. »Un
det nennt det Wurm en fertijet Schlafzimmer.«
»Sie ist noch jung,« nahm ich der Abwesenden Partei,
»und das sind wir Alle gewesen.«
»Aber man nich in solchen Jrade. Will des Fräulein
Thuverkehrt mir dajejen in der Küche helfen, bin ick nich
abjeneigt, ihr Anleitung zur Vervollkommnung in's Kartoffelschälen
zu jewähren. Seit wir die Kliebischen's in Kost haben,
sind mir die Hände schon en Endecken kürzer jeworden.«
Sie hatte nicht Unrecht, Kliebisch's alle Drei leisten Bedeutendes
in Erdfrüchten. Ob es davon kommt oder woher
sonst, weiß ich nicht, aber die Kliebischen ist bequem geworden,
wie sie früher nicht war. Und alleweil verzagt.
»Wie wird es werden? Die Zeiten sind so schlecht und
die Kinder wachsen heran,« klagt sie, aber rühren ist nicht
und thätig eingreifen und Töchterchen zurechtstoßen auf Geschicklichkeit
und Brauchbarkeit, wie ich meine Beiden nie
versäumt habe. Wo die Tage gleichmäßig auf- und untergehen,
wird der Mensch zuletzt auch flachweg und fett und sitzt,
wo er sitzt. Mich wundert, daß sie sich aufraffte, ihren Schwerpunkt
nach Berlin zu verschieben.
Den großen geräucherten Schinken, den sie mitbrachte,
und den Korb Eier und das Geflügel nahm ich als ländliche
Zartsinnigkeit von ihr dankend entgegen. Ein Sack Kartoffeln,
der als Handgepäck zu umständlich war, ist als Angebinde
133
seinerseits noch unterwegs. Dorette behandelt Kliebisch's
daher mit mittlerem Wohlwollen. Was sie über Ungermann's
sagt, mag zutreffen, obgleich sie weiß, daß ich das
Thürenhorchen nicht haben will. Indes kann ich der Nätherin,
wenn sie mit Dorette zusammen ist, nicht den Mund verbieten.
Die hat gesagt, die Ungermann müßte viel Geld
haben, so viel Watte wäre an ihr; wegen ihrer Figur hätte
sie knapp einen Mann gekriegt oder er hätte sie schleunigst
wieder retour gegeben. Und so eitel! Alles sollte sitzen, als
wäre sie im Loth wie eine Probiermamsell Nummer Gelbstern.
Nun war mir erklärlich, warum das Anpassen immer
abgeriegelt geschieht und ohne meinen Rath.
Ob der Mann solche vertrauliche Ausputzer wirklich verdient?
Halb Liebe und halb Geld giebt eine gute Ehestandsbowle,
wenn ein bischen Schönheit als Zucker nicht fehlt.
Aber blos Geld und keine Liebe und nicht eine Spur Süßigkeit,
da ist das Fest mit der Hochzeit aus.
Spielt sie Komödie, hat er es von ihr gelernt. Sie giert,
in der Gesellschaft zu prunken, er strebt, in der Stadtleitung
hervorzuragen. Hätten sie ein Kind gehabt, würden sich
ihre Küsse auf dem Engelsmündchen begegnet haben und das
kleine Bündel Liebe wäre zum Talisman gegen die bösen
Geister des Hauses geworden. Es war aber keins da.
Mein Karl theilt meine Ansichten nicht. »Laß' sie sich
haken,« sagte er, »das kommt in den besten Familien vor.«
»Doch nicht bei uns?«
»Dazu gehören zwei. Ich passe.«
»Also ich? Mich mit meiner geradezu unerlaubten Sanftmuth
ästimirst Du als Zanktippe? Karl, Du verwilderst, seit
Du in der Fabrik schläfst. Aber warte, die alte Ordnung
kehrt wieder.«
Er lachte: »Ich sehne mich nach ihr. Alles nimmt ein
Ende, blos Ungermann's können das ihre nicht finden.«
»Hat er denn schon bestellt?«
»Noch nicht. Die Waare gefällt ihm, bis auf die Preise.
Er versucht abzuhandeln.«
»Das darf er nicht. Die gute Stube muß neu gemacht
werden, sagt Dorette, und dazu die Näherei, und mess' mal
Deinen Weinkeller nach. Nein, drücken darf er nicht. Das
134
wäre unanständig. Er muß mindestens doppelt so viel nehmen
als sonst. Und Du schlägst auf. Verstehst Du?«
Mit dem Weinkeller sah es trübe aus. Je mehr Wasser
vom Himmel stürzte, um so weniger wurde der Wein; der
Regen zwang zur Häuslichkeit und geselligem Beisammensein
und mein Karl ist nobel.
Ungermann hatte gleich die beste Sorte heraus, seine
Zunge merkte das Unabgelagerte sofort, als ich unsern Tischwein
in die Lafitte-Flaschen umgegossen hatte. Kliebisch versteht
sich nicht in gleichem Maaße auf Jahrgänge, ihm schmeckt
der Billige wie der Theure, so lange eingeschenkt wird.
Ich gönne es ihm. Wenn er einen Kleinen sitzen hat und
man bringt ihn nicht darauf, vergißt er die agrarischen
Kalamitäten und es ist ihm einerlei, ob die Margarine blau
oder grün gefärbt werden soll oder garnicht. Dann ist der
Ausstellungs-Musterstall sein Trost, den er mit Vorliebe beschreibt
als das Erfreulichste für den Landwirth.
»Da liegt Poesie darin,« sagte er. »Ein Pferd bleibt
doch immer ein Pferd. Oder haben Sie schon einmal ein
Vollblut-Fahrrad gesehen? Kann denn ein Cavalier sich auf
solches mit einer Leberwurst beschlagenes Spinnrad klemmen,
ohne sich und seinem Stand etwas zu vergeben?«
»Die Industrie denkt anders,« entgegnete Herr Ungermann.
»Der durch das Fahrrad hervorgerufene Umsatz ist
ein gewaltiger und wird sich immer mehr steigern, trotz der
Spöttelei der Feudalen.«
»Ich gehöre nicht zu den Feudalen,« wehrte Kliebisch ab.
»O doch, Hinnerich,« sagte die Kliebisch. »Hattest Du
nicht auch einen Karbunkel im vorigen Jahre, gerade als
der Landrath einen hatte, nur daß von seinem mehr geredet
wurde, weil er gefährlicher war als Deiner?«
»Und das Radfahren soll sehr gesund sein,« bemerkte
die Ungermann.
»Das Reiten ist noch gesunder.«
»Das Rad ist das Roß des armen Mannes,« begann
Herr Ungermann wieder. »Auch der Minderbemittelte vermag
sich eins zusammenzusparen und braucht kein Geld für
Heu und Hafer auszugeben.«
»Und das befürworten Sie?« brauste Kliebisch auf.
»Wovon soll denn die Landwirthschaft leben, wenn die verwünschten
135
Maschinen die Pferde verdrängen? Gerade am
Hafer wird verdient. Hört das auch noch auf — gute Nacht
Ackerbau. Weizen kommt mehr als zuviel aus Argentinien und
Indien. Ist die Eisenbahn erst fertig, ersäuft uns Sibirien
mit Getreide. Und das Heu? Es laufen allerdings Ochsen
genug herum, aber die fressen es nicht.«

Was sich nun ausbreitete, war Verlegenheit. — Der
Regen klatschte gegen das Fenster. — Die Herren rauchten.
»Ich möchte Rad fahren,« sagte Ottilie.
»Ich halte es für ungeeignet,« nahm ich das Wort.
»Ist es eine Dame oder ein Herr, was an einem vorüberstrampelt?
Man unterscheidet es kaum. Und manche
Radlerin sieht nach der Tour täuschend aus, wie in acht
Tagen nicht rasirt. Dagegen zu Pferde gräfinnenhaft und
elegant.«
»Prost! Frau Buchholz,« rief Kliebisch und leerte ein
volles Glas auf mein Wohl. »Welch ein Staat, die prachtvolle
ungarische Radautzstute im Musterstall; das ist ein
Damenpferd; schlank, feiner Kopf, elastische Fesseln, vorzüglich
gepflegtes schwarzes Haar. Darauf möchte ich Sie sehen,
mein Fräulein, und nicht auf der Chausseestaubmühle mit verbogener
Figur in Pluderhosen...«
»Wollen wir den Gegenstand nicht lieber fallen lassen?«
unterbrach ihn die Ungermann mit verletztem Anstandsgefühl.
136
»Immerzu fallen lassen. Ein Schauspiel für Götter,«
lachte Kliebisch, dem im Eifer der Wein zu Kopf stieg. »Ich
riskir' ein Auge daran.«
»Aber Mann!« rief seine Frau ihn zur Ordnung.
»Ach was; wie eine sich vorreitet, wird sie taxirt. Wenn
sie sich auf dem Stahlhengst tummelt, mag es sie befriedigen,
aber schön sieht anders aus. Möglich ist jedoch, daß die
Schenkel sich mehr ausbilden, wenn eine keine hat...«
»Hinnerich, Du bist hier nicht im Kruge,« fuhr die
Kliebisch dazwischen.
Der Ungermann ward dies Gespräch sichtlich fatal. Sie
mit ihren Gräten hat natürlich gegen Sport, bei dem es auf
einigermaßen Plastik ankommt, solche Abgeneigtheit, daß sie
nicht mal darüber reden hören mag.
»Man muß bedenken, daß für Radfahrer neue Trachten
geschaffen werden; schon jetzt beginnt ein gewisser Luxus in
besseren und besten langen Strümpfen sich bemerkbar zu
machen,« sagte Herr Ungermann.
»Karl, hast Du gehört?« rief ich. »In besserer Waare.
Nein, wenn die Industrie dadurch gehoben wird, bin ich
sehr für die Maschinenreiterei. Könnte die Regierung nicht
gesetzlich befehlen, daß alle Reichsangehörige radfahren
müssen und in einem Nebenparagraphen unsere Wollsachen
amtlich verordnen? Würde das den socialen Frieden nicht
gewaltig schüren?«
»Jawohl,« schrie Kliebisch. »Da haben wir wieder den
Krämergeist. Die Industrie muß unterstützt und gefördert
werden; die Landwirthschaft darf verhungern, das ist ihr angestammtes
Recht. Aber wer soll den Herren Industriellen
ihre Erzeugnisse abkaufen, wenn der Landmann kein Geld
hat? Nur so weiter. Die Pferdezucht auch noch ruinirt und
über das verarmte Land rollt die alleinseligmachende Industrie
auf einem gottverdammten Unglücksrad in ihr eigenes
Verderben. Zum Kuckuck mit den Dingern. Verboten müssen
sie werden.«
»Wie Sie auch schelten,« wandte sich Herr Ungermann
an Kliebisch, »das Rad ist dennoch von großer volkserziehlicher,
sogar ethischer Bedeutung. Der Radfahrer muß sich
auf seinen Ausflügen der größten Nüchternheit befleißigen;
beherrschen ihn die Geister des Weines, ist er nicht im Stande,
137
sein Fahrzeug zu beherrschen und wird sich selbst und anderen
gefährlich.«
»Das ist er schon ohne Kümmel,« höhnte Kliebisch ausfallend.
»Ich bleibe dabei, das Fahrrad steht im Dienste der
Mäßigkeit, gegen die leider zu oft gesündigt wird.«
Das mochte Kliebisch sich wohl als persönliche Bemerkung
zugezogen haben oder sonst wie, genug, er blickte Ungermann
spöttisch an und sagte: »Tugendpredigen und den Weg
der Tugend wandeln ist zweierlei. Mir ist der Musterstall
zehntausendmal lieber als hundert Musterknaben und wenn
auch blos Gäule drinn sind und keine Stadtväter. Wer auf
die Landwirthschaft schimpft, dem dien' ich.«
Mein Karl erhob sich, ging an die Uhr und wand sie
auf. Wir wissen althergebracht, daß dies der Wink zum
Aufbruch ist, den die Gäste jetzt auch ziemlich plötzlich begriffen.
Ottilie holte die verschiedenen Leuchter, die Kerzen
wurden angebrannt und unter mehr und minder wohlgemeinten
angenehmen Ruhewünschen vertheilte sich die Einquartierung
in ihre respectiven Gemächer.
Ich räumte zusammen, der Dorette die Morgenarbeit zu
vereinfachen.
»Was hat Kliebisch gegen Ungermann?« fragte mein Karl.
»Ich weiß es nicht. Seine Frau hat mir auch nichts
gesagt.«
»Der Streit und namentlich der hanebüchene Ton haben
mich verdrossen, ich kann noch nicht schlafen. Mir ist nichts
zuwiderer als solcher Zank.«
»Und Kliebisch's Wörterbuch! Aber das bauert auf
dem Lande so hin und wird etwas sehr gerade aus. Du
hättest ihm nicht immer wieder einschenken müssen. Herrn
Ungermann lobe ich, der rührte den Wein kaum an und Du
mit gutem Beispiel an der Spitze desgleichen, mein Karl.«
»Die letzte Flasche schmeckte nach dem Kork.«
»Und das hat Kliebisch nicht gemerkt?«
»Er war zu sehr in Rage über die Räder und über
Ungermann's salbungsvolles Geschwätz.«
»Geht da nicht die Thür von der guten Stube?«
Wir lauschten.
138
Auch die Hausthür wurde vorsichtig geöffnet und geschlossen.
»Ungermann,« flüsterten wir Beide wie aus einem Munde.

»Er hat wohl noch Durst,« sagte mein Karl.
»Nach halbzwei, wo die Lokale zu sind?«
»Nicht alle. Wenn er nur die Hausthür nicht offen
läßt.«
»Sei unbesorgt, Dorettens Schutzmann paßt auf unser
Haus. Sie nimmt sich neuerdings viel heraus, weil sie
ihre Unentbehrlichkeit entdeckt hat, aber ich übe Nachsicht,
allein schon wegen der Sicherheit. Ist es nicht romantisch,
wie in der Ritterzeit,
daß der Bräutigam die Burg bewacht, die seine Braut
als theuersten Schatz birgt?«
»Vollständig ebenso. Nur die Zugbrücke fehlt. Und das
ist ein Glück für Ungermann. Oder würdest Du sie herablassen,
wenn er in aller Nacht Luft schöpfen wollte?«
»In dem Regen? Es gießt ja mit Mollen. Weißt Du
Karl... ich trau ihm nicht mehr recht.«
139

Nebenbuhlerei.
Wie viel Wahres im
Reimen liegt, das habe
ich so recht an einem
eigengemachten Verse erfahren,
der folgendermaßen
geht:
Ottilie
Ist eine gebrochen Lilie.
Für »gebrochen« hätte ich
gern ein hinziehenderes
Wort, da sie noch zusammenhält.
Entblättert
wäre insofern treffender,
als sie die Kräfte ihres
Geistes unter den Tisch
fallen läßt und die Perlen
des Wissens nicht mehr
in die Unterhaltung rollen.
Sonst, wenn jemand
blos Telegraph sagte, sie
gleich: »Wenn alle Linien
aneinandergeknüpft würden,
umgürtelten sie die Erde siebenunddreißigmal« und keiner
widersprach. Denn woher hatte sie es? Und ebenso mit den
140
Gestirnen und entlegendster Geographie und was Professoren
so aushecken. Das ist ja das Schöne bei Wissenschaft: Wer
kann sie bestreiten? Wer wickelt den Draht um den Erdball?
Wer streut den Kometen Salz auf den Schwanz? Einen
Braten wiegt man nach. Obst ist schon schwieriger. Geflügel
geht nach Gutdünken, aber Wissenschaft ist gänzlich
Vertrauenssache.
Der junge Herr Brauns, der hat Ottiliens Zuversichtlichkeit
ins Wanken gebracht. Wir waren zusammen in dem
Chemie- und Instrumentengebäude. Herr Brauns führte
uns. Es war schrecklich. Ich meine nicht das Gebäude und
nicht, was drin ist. Nein, aber das Licht, das uns aufging.
Herr Brauns machte seine Aufwartung und wurde als
Ungermann's Neffe freundlich empfangen. Wirklich ein lieber
Mensch, man meint nach einer Viertelstunde, man hätte sich
seit Jahren gekannt, so offen und frisch und klar ist sein
Wesen. Und so hübsch. Jung und breitschultrig, ein Körper,
der sich gegen Arbeit stemmt und sie meistert und es mit
dem Tag aufnimmt, was er auch bietet. Dabei leicht in der
Bewegung und deshalb steht ihm die Höflichkeit so gut, so
ungezwungen.
Ich gehe hauptsächlich nach den Augen. Blicke ich
forschend hinein und sie antworten mit sonnigem Lächeln,
weiß ich, da drinnen steht das Paradies der Kindheit noch
in Blüthe. Sind die Augensterne verschleiert, weichen sie aus
und senken sich die Lider, dann ist der Garten des Herzens
nicht gut gehalten, dann ist Unkraut drin, auch wohl Schierling.
Eine ältere Frau darf einem jungen Mann in die Augen
schauen, jungen Mädchen ist es nicht erlaubt. Sie thun es
aber doch — gerade so wie Ottilie — und wenn sie einen
Blick in den Rosengarten gethan haben, vergessen sie ihn
nie wieder und träumen davon bei Tag und bei Nacht und
versäumen alles andere, die Wissenschaft und das Häusliche
und sind ein lebendiger Wunsch geworden, in jenem Garten
unter den Rosen hinzuknieen in anbetender Seligkeit.
Und er, der junge Mann, er war bereit, ihr das Schlüsselchen
zu dem Thore seines Herzens zu schenken. Man sah es
ihm an. Er wurde noch einmal so hübsch in Ottiliens Nähe,
die Wangen rötheten sich tiefer, die Augen strahlten und
141
lächelndes Glück öffnete die Lippen, daß sie auch ohne Worte
redeten.
»Ein Paar wie gemalt,« mußte ich mir eingestehen, wenn
ich sie nebeneinander sah, »und ein goldener Rahmen dazu,«
denn er kann ihr eine glänzende Zukunft bieten. Und nun
darf sie ihm nicht sagen, wie sie ihn liebt und muß ihn abweisend
behandeln und darf den Schlüssel nicht nehmen, der
die Pforte zu den Rosen erschließt, weil es dem unglückseligen
Kriehberg erging wie dem vielgenannten Cäsar: — sie kam —
er sah und wurde gefangen Und nun hackt er.
Er hat sich zu fest an sie geklammert, aber doch nur,
weil sie auf mich nicht hören wollte und Tante Lina so lange
ehestiftete, bis die Kiste vernagelt war.
Briefe haben sie sich geschrieben und Kriehberg rückt
ihre nicht heraus. Seit er Herrn Brauns zuweilen mit uns
sieht, plagt ihn die Eifersucht und er drängt auf Verlobungskarten.
»Ich beauftrage sie nicht,« sagte ich. »Sie können doch
unmöglich als >Stellesuchender< darauf prangen?«
»Als Architekt.«
»Was besagt so'n Fremdwort? Und Baumeister sind Sie
nicht. Also — fragen Sie nach mehreren Jahren mal wieder
vor.«
»Damit ein Anderer sie mir raubt? O nein. Ich weiche
Keinem. Er stelle sich mir gegenüber, drei Schritt Barriere
und Kugelwechsel, bis einer liegt.«
»Herr Kriehberg, einen solchen blutwürstigen Dietrich hätte
ich nie in Ihnen gesucht, und er paßt Ihnen auch nicht. Zu
komisch.«
Ich lachte. Er wurde fürchterlich vergrätzt aussehend.
»Ich dulde keinen Hohn,« rief er. »Keinen, und von
Niemand.«
»Wollen Sie mich am Ende fordern?«
»Sie nicht, aber Ihren Gatten.«
»Der hat so seine Ansichten über das Duell, mit dem
werden Sie wohl kein Glück haben.«
»Ein Gewisser aber, ein gewisser Jemand entgeht mir
nicht. Der Gigerl, der sich an Ottilie heranpirscht, der Laffe,
der Schafskopf...«
»Erlauben Sie, Herr Brauns ist durchaus kein Gigerl!«
142
»Also Brauns heißt die Canaille? Der soll mir vor's
Messer. Ich danke Ihnen für die Adresse!«
»Herr Kriehberg, trinken Sie ein Glas Selters, Sie sind
aufgeregt.«
»Mein Blut ist kalt.«
»Dann giebt es keine Entschuldigung für Sie. Und nun
ist unsere Zwiesprache zu Ende; es kommen Leute.«
Diese Unterredung fand in der Ausstellung des Buchgewerbes
statt, wo bei schönem Wetter die einsamste Einsamkeit
herrscht, da die Literaturhelden des deutschen Vaterlandes
Einem blos den schimmernden Rücken zeigen und
ahnungslos dahin verschlagenes Publikum merkwürdig rasch
es ebenso macht.
»Also Sie weisen mich ab?« knirschte er.
»Nehmen Sie Vernunft an, dann sprechen wir weiter.«
»Was reden wir noch lange? Sie haben mir meine
Ausarbeitungen bezahlt; gut. Von der Verstümmelung meiner
Geisteskinder schweige ich, sie war haarsträubend. Ich war
in Noth... Sie beuteten mich aus...«
»Nehmen Sie die Backen man nicht zu voll. Ich wende
Ihnen zu, was mir die Zeitung bezahlt, und Sie werfen mir
Wucher vor? Und was Sie aufgesetzt hatten, war Quatsch,
dreimal destillirter Quatsch. So, nun wissen Sie's.«
»Wer hat das gesagt? Hat er das gesagt? der p. p.
Brauns? Ei warte, mein Junge!«
»Nein, das sage ich. Denn was man nicht verstehen
kann, ist Quatsch. Warum schreiben Sie kein reguläres
Deutsch? Und Ihre Pläne können Sie wieder abholen lassen,
die waren überflüssig und sind überflüssig und werden ewig
überflüssig bleiben. Für Ihre weiteren Klamottenberichte danke
ich. Und nun denke ich, sind wir miteinander fertig.«
Er antwortete nicht.
»Mütterlich hab' ich es mit Ihnen gemeint, weil sie so
allein standen und mit Ihnen herumgestoßen wurde, woran
Ihre Ueberzogenheit Schuld ist und Durchdrungenheit am
verkehrten Platz. Aber ausbeuten?... Pfui, schämen Sie sich.«
Dies ging rasch und hastig und halblaut, weil schon
Volks uns einkreiste, sich an Skandal zu weiden, anstatt
Goethen und Schillern und den andern Prachtwerken näher
zu treten.
143
Kriehberg preßte die Kiefer aufeinander. Dann brachte
er mühsam heraus: »Ich glaube,... Ihnen... Ihnen
habe ich Unrecht gethan. Ich weiß es nicht. Ich... ich
kann und kann den Andern nicht ausstehen; ich hasse ihn;
ich kenne mich nicht mehr. Ich darf nicht an Ottilie denken:
ich sehe ihn neben ihr, er spricht mit ihr, er ist hübscher als
ich, ich muß es ihm lassen. Ich werde rasend. Für uns
Beide ist die Erde zu klein, viel zu klein.« Er war nach
und nach so schreiig geworden, daß immer mehr Gaffgesichter
sich ansammelten.
»Mit uns ist es aus und damit Basta,« rief ich und
bahnte mich durch die Menge.
»Wat sagte sie von'n Paster?« hörte ich ein Weib.
»Natürlich Scheidung,« sagte eine andere. »Et nimmt
selten en fröhlichet Ende, wenn ne Olle sich'n Konfirmanden
heranheirathet.«
»Jeschieht ihr janz Recht.«
Ich floh an den Möbelkojen vorbei, als hätte ich einen
Eßtisch gestohlen oder einen Kronleuchter in die Tasche gesteckt,
so unglaublich kam ich mir vor.
Ich bin auch wohl mal eifersüchtig gewesen in grundloser
Dummheit unerfahrener erster Ehestandsjahre, aber mit
Weinen und Abbitte und in wachsender Liebe zu meinem Karl,
nie nicht mit Rachgierigkeit und Mordgelüst. Meinen Mann
fordern! Lachhaft! Wenn er kommt, mein Karl ihm eine
Backpfeife verabreicht, daß sie in Stücke fliegt. Aber Herr
Brauns, der kann sich in Acht nehmen. Kriehberg ist ja
toll, so verrückt, daß sie ihn in Dalldorf garnicht einlassen.
Und mich für wahnwitzig halten... ich Kriehberg's Gattin.
Giebt es keinen Schandpfahl für Weiber, die einem solche
Verleumdungen nachschleudern? Freilich, man ist weiß wie
der Schwan, der blos untertauchen braucht, wenn Gemeinheit
ihn mit Stiefelwichse bewarf. Wo aber ist die reinigende
Fluth für den mit Unwahrheit bekleckerten Menschen? Wo
tauche ich unter, die Beschimpfung abzuspülen?
Wasser that es nicht. Doch ich weiß einen stillen See,
der nimmt alle Kränkung, allen Unglimpf hinweg und ist
nicht größer, als daß er mich gerade umfängt. Meines
Karls Brust ist es, an die flüchte ich und er schließt mich
in seine Arme und ich tauche in seine Liebe. Dann kann
144
ich ihm alles sagen und, wenn ich Federn hätte: um neben
mir nicht abzufallen, müßte mancher Schwan nach Spindler.
Ich eilte mich und kam gerade rechtzeitig, Frau Kliebisch
und Ottilie in dem Stelldichein-Zelt zu treffen. Und wer
war bei ihnen in schlichtem hechtgrauem Anzug wie angegossen
mit blendender Wäsche, weißem Schlips, worin ein
vornehmer Brillant, und grauem Hütchen, das die braunen
Augen und den schwarzen Schnurrbart noch eine Nummer
dunkler abstachen? Herr Rudolph. Was beginnen? Ihm
von Kriehbergs Nebenbuhlerkoller sagen, ihm Ottilien's Verplemperung
mittheilen und den Keim vernichten, worin das
Glück zweier schöner Menschenkinder
dem Lichte zustrebt?
Nein. Wenn aber Kriehberg
angefaucht käme? Die Schießröhren
sind ja billig und
überall feil, daß schon Klippschüler
sie zur Vertheidigung
ihrer Ehre aus dem Maikäberverdienst
anschaffen. Also
hat Kriehberg sicher Pulver und
Blei in der Westentasche.

Die geistige Volksküche im Chemiegebäude, wo ich letzt
mit Ottilie einem Vortrage über die Entwickelung des Klavierbaues
beiwohnte, ist ein trefflicher Platz, jemand zu vermeiden,
aber nur von Sechs bis Sieben. Der Klavierbau war sehr
interessant. Ich fragte Ottilie, ob sie spielen könnte? Sie
sagte nein, aber sie thäte es doch manchmal. »Das machen
Viele so,« erwiderte ich, aber jetzt, da sie zum Drehen eingerichtet
worden, sind Klaviere nicht mehr die Qual der
Kinder und die Plage der Nachbarschaft. Alles Ueben ist
schrecklich, nur nicht das Ueben der Tugend. — Ich gebe
ihr zeitweilig solche Inschriften zum Einmerzen ins Gedächtnis,
aber seit Rudolph Brauns sind sie bei ihr weggeworfen.
Herr Brauns lud uns zu einer Fahrt im Motorboot ein.
Ich schützte sofortige Seekrankheit vor.
»Das war doch in Italien nicht? Wissen Sie noch in
Venedig?« sagte die Kliebisch.
»Auf Salzwasser kann ichs ab,« flunkerte ich in meiner
Angst.
145
Und Rudolph, der feinfühlige, verstand im Nu, daß
ich eine Absicht hatte und schlug die für den Ackerbau hoch
wichtigen metereologischen Apparate vor. — »Pfeif' ich drauf,«
sagte Kliebisch. »Mein großer Schafbock ist der beste Wetterprophet.
Greif ich ihm in die Wolle und sie ist klammweich,
wird's regnen, ist sie hingegen trocken, kann ich einfahren. Ich
denke, wir besichtigen die landwirthschaftlichen Maschinen.«
Das ging nicht. Kriehberg schnob ja Wuth im Hauptgebäude,
wo die Milch- und Butterfässer sich langweilten.
Deshalb rief ich: »Ottilie, Du hast doch so unendliche
Neigung für Physikalisches.«
Rudolph Ottilien den Arm geboten und ab. Ich ärmelte
seine andere Seite unter und hielt meinen Sonnenschirm als
Barrikade gegen den Todfeind vor sein Gesicht. Befreiungsversuche
waren erfolglos, bis wir im Chemiegebäude aufathmen
durften.
Was hat er uns Alles erklärt! Er weiß was und noch
ein Ende mehr. Und bei manchem sagte er trotzdem, daß
jahrelanges Studium dazu gehörte, um es voll zu verstehen
und zu würdigen. Wo bleiben wir Frauen, wenn ein Mann
wie Brauns offen bekennt, ohne Mühe und Arbeit in verschiedene
Gebiete nicht eindringen zu können? Was Ottilie
gelernt hat, verschwindet gegen sein Wissen, wie ein Talglicht
gegen den Scheinwerfer. Und nun ich gar, die ich noch aus
der examenlosen Zeit stamme. Wie konnte ich so vermessen
sein, Berichte zu übernehmen und von Sachen schreiben zu
wollen, die mir viel zu klug sind? Freilich sollte Ottilie
helfen, aber sie langt nicht, indem, was sie weiß, keinen
rechten Zusammenhang hat, sondern mehr auswendig gelernt
und blos so hergesagt. Und in Kriehberg täuschte ich mich
gründlichst. Der hat sich zu einem netten Alligator ausgewachsen.
Herr Brauns machte uns auf den berühmten Spektralapparat
aufmerksam, durch den die Gelehrten wahrnehmen,
was auf anderen Weltkörpern gekocht wird und zwar merkwürdigerweise
mit Gas, wenn ich ihn recht verstand. Mir
waren ja noch sämmtliche Pulse in Aufruhr. Und zu den
Sternphotographieen führte er uns. Millionen weiße Tippel,
aber in Wirklichkeit viel größer als die Erde.
»Sind die alle bewohnt?« fragte ich.
146
»Wenn nicht alle, so doch gewiß viele.«
»Von Wesen, so wie wir? Giebt es da auch Rauhbeine,
die auf Mord und Todschlag sinnen?«
»Aber Tante!« rief Ottilie. »Wie schrecklich!«
»Glücklich, wer frei von Schuld ist,« sagte ich beziehungsvoll,
»und sich nicht auf einen entfernten Himmelsglobus zu
wünschen braucht, wenn es los geht.«

Ottilie zuckte die Achseln; Herr Brauns trat an den
nächsten Schrank. »Sehen Sie diese Wage,« sagte er, »darauf
kann man den zehnten Theil eines Flohbeines wiegen.«
»Wird denn so was in Ausschnitt verkauft?« fragte ich.
Er lächelte. »Ich wollte Ihnen nur andeuten, wie empfindlich
solche Wagen sind, mit denen die Chemiker ihre
Analysen machen. Und sehen Sie hier dieses Jenaer Glas,
eines der ruhmvollsten Resultate deutscher Wissenschaft und
Technik.«
»Ich sehe nichts daran. Wodurch ist es so hervorragend?«
147
»Jede Sorte hat ihre vorherberechnete Brechung.«
»Die hängt doch von den Philippinen ab; manche zerbrechen
viel, manche gehen schonender mit den feinen Gläsern
um. Sehr gerissen, das Alles vorher zu berechnen.«
»Unter Brechung verstehen wir die Dispersion des Lichts,
und da eben diese Glassorten verschiedene Brechungscoëfficienten
besitzen, lassen sich achromatische Linsen von erstaunlicher
Leistungsfähigkeit schleifen. Früher war Deutschland
in optischen Apparaten von Frankreich und England
abhängig, jetzt sind sie unsere Kunden. Und nicht wahr,
das freut Sie doch auch?«
»Als wenn Sie meine Gedanken gelesen hätten,« gab ich
zurück.
Und einen solchen Prachtmenschen will Kriehberg umbringen.
Mir war der Boden heiß, auf dem ich wandelte. Mein
einziges Trachten war: weg, sobald als möglich weg!
Auf mein dringendes Befürworten fuhren wir mit dem
nächsten Schiffe stadtwärts, ich und Ottilie und er. Ich hielt
unter diesen Verhältnissen die Spreedampfer für weniger
lebensgefährlich als das Ausstellungsgebiet mit Kriehberg als
Kain und Herrn Brauns als Abel, weil sie so schön leer
waren.
Ich sah ihm an, daß er nur eine Gelegenheit abwartete,
eine Frage an Ottilie zu richten und sah ihr an, daß sie die
Frage fürchtete. Und so kam es zu keiner Näherung. Sie
war einsilbig bis zur Unart und mußte so sein.
Deshalb ist Ottilie eine gebrochene Lilie. Und dabei
verhehle ich ihr das Schlimmste, nämlich Kriehberg's Verrücktheiten.
Wenn ich nicht vorsichtig die höchste Schläue aufböte
und die Pfade der Unvernunft sperrte, ich glaube, wir lägen
schon alle miteinander auf dem Kirchhof.

148

In den Kunstalpen.
Warum ich immer noch nicht in das Hochgebirgspanorama,
das am grünen Strand der Spree seine Schneegipfel
in die von Maschinenhaus-Schornsteinen erzeugten Rauchgewitterwolken
streckt und von innen Tausend Fuß höher sein
soll als von außen, gelangte, das ist einfach zu sagen: Ich
hatte zu viel Verdruß und trübe Aussicht in die Zukunft,
war für die Alpen daher ungeeignet.
Und nun kam ich doch dazu. Morgens beim Kaffee
fallen meine Blicke nämlich auf eine Anzeige: »Gesucht ein
Architekt, guter Zeichner, mit praktischen Erfahrungen für
N 44 Köpenickerstraße Nr. so und so.«
Mein sofortiger Gedanke lautete Kriehberg. Seine Baupläne
waren noch gegenwärtig. Ich sie eingepackt und mit
einem Schreiben durch einen Dreiraddienstmann an Ort und
Stelle gesandt. Ein wundervolles Schreiben, worin ich ihn
so dringend empfahl, daß er genommen werden mußte, falls
der N 44 nur ein paar Millimeter menschliches Rühren sein
eigen nannte. Er mußte, es war nicht anders denkbar.
Und an Kriehberg ebenfalls einen Eilbrief gerichtet mit
dem Schlußwort: »Melden Sie sich; wer wartet, an dem
rennt das Glück vorbei, man muß ihm, wie bei der Pferdebahn,
entgegengehen. Auf der Haltestelle ist der Andrang
zu groß. Vertrödeln Sie die Wendung Ihres Lebens nicht.
Ich wünsche Ihnen das beste Fortkommen.«
Ob ich es wünschte! — Wär' er nur erst weg.
149
Was man so recht von Herzen hofft, kommt Einem vor,
als wäre es schon geschehen. Ich sah Kriehberg bereits in
seiner neuen Thätigkeit, von Arbeit derart breitgedrückt, daß
er an Ottilie zu denken selbst Sonntags keine Zeit mehr
hatte, von seinem Brotherrn alsbald anerkannt. Der hat
natürlich eine Tochter, die ihn anfangs übersieht, schließlich
aber durch den Vater auf Kriehberg's Tüchtigkeit hingewiesen,
ihn von Fabrikwegen heirathet. Er schickt mir die Verlobungsanzeige,
ich schreibe ihm einen noch wundervolleren
Brief mit dem Motto: »Arbeit ist die beste Lotterie, die ihn
in den ersehnten Glückshafen gelotst hat« und führe zwischen
den Zeilen aus: welcher Esel er gewesen wäre, wenn er
Ottilie gezwungen hätte, mit ihm die schmale Leiter der
Karrière zu besteigen, auf der er alleine schon die Sprossen
durchtrat. Zum Schluß dann, schöne, gediegene Segenswünsche
mit dem scherzhaften Hinweis auf Gevatterstehen
bei dem ersten Kriehberg jun., der fröhlich heranwachsen möge,
seinen Eltern zur Freude und der Menschheit zum Zierrath.
Aber man muß sich keine Tischrede eher ausdenken, als
man zu Gast gebeten ist. Vorläufig hatte Kriehberg noch
nicht einmal die Stellung und ich wollte schon taufen. Ich
mußte ja mit Kriehberg's Charakter rechnen, der im entscheidenden
Augenblicke auf gesunden Menschenverstand verzichtet.
Mir kam deshalb der Gedanke, persönlich selbst den
Y 44 mit diplomatischen Reden zu bearbeiten, bis er froh
würde, eine Kraft wie Kriehberg zu gewinnen. Mein Karl
war jedoch uneinverstanden.
»Du hast mit Deinem Empfehlungsbrief des Guten schon
zu viel gethan,« sagte er. »Richtiger wäre gewesen, ich
hätte ihm ein Attest ausgestellt. Zeugnisse schreiben ist
Männersache.«
»Das wäre Schablone geworden. Ihr fangt immer
an: >Ein Sohn frommer aber ehrlicher Eltern, ohne einen
Groschen in der Tasche geboren, hat der Betreffende durch
Fleiß und Ausdauer sich Kenntnisse in seinem Fache erworben,
die ihn befähigen, einen Posten selbstständig auszufüllen
u. s. w.< So was läßt kalt. Ich hingegen habe den
alten Ypsilon angewärmt, sag' ich Dir, wie es nur eine Frau
im Stande ist, die etwas durchsetzen will. Noch ein paar
mündliche Angriffe und er ist erlegt.«
150
»Und wenn Kriehberg sich nachher unzulänglich erweist,
wer trägt die Verantwortung?«
»Das geht mich im Geringsten gar nichts an. Der
Mann muß wissen, wen er sich aufladet. Uebrigens glaube
ich, daß Kriehberg sich zusammen nimmt und der würdige
Fabrikherr gewinnt ihn lieb wie einen Sohn. Im Grunde
ist Kriehberg nicht schlecht.«
»Das Wenigste, was von einem anständigen Menschen
verlangt wird. Nicht schlecht ist lahmes Lob und heißt in
Wahrheit >taugt nichts.<«
»Da irrst Du Dich, mein Karl. Es giebt aber verschiedernerlei
Güte, wie beim Beefsteak. Wo kriegst Du auf
Reisen wohl gutes? Und wie preist Du Dich glücklich,
wenn es wirklich nicht schlecht ist? Kriehberg ist noch jung
und er hat seine guten Seiten.«
»Hat er? Und die wären? Bitte heraus damit.«
»In diesem Augenblick und so mit Gewalt kann ich mich
nicht darauf besinnen.«
»Wäre es nicht besser, ich redete einen Ton mit ihm?«
»Nein, nein, Du nicht. Gereizt wird er gefährlich. Bedenke,
wenn er Dich zum Zweikampf forderte.«
»Das würde mir riesigen Spaß machen.«
»Karl,« rief ich entsetzt. »Weißt Du denn nicht, wie ungesund
das Duell ist? Der eine kommt todt und der andere
auf die Festung. Ist da Sinn drinn?«
»Nein, Unsinn. Uebrigens, was willst Du mit dem Zweikampf
besagen? Ist er eine bloße Idee von Dir oder steckt
etwas dahinter?«
»Dahinter? Wieso? Gott bewahre. Ich dachte nur,
weil sich so viele abknallen; man liest ja täglich, daß der, der
keine Schuld hat, immer der ist, der fällt, wodurch die Ehre
des Beleidigers völlig wiederhergestellt wird, und da junge
Leute wild darauf los rempeln, sei es wegen einer Dame
oder daß die Getränke zu stark waren, — je betrunkener, um
so reizbarer ist das Ehrgefühl — oder daß einer nicht falsch
gespielt haben will... und wie Ehrensachen meistens so Unehrensachen
sind...«
»Wilhelmine, Du quasselst. Und das ist kein Wunder.
Du strengst Geist und Körper zu sehr an. Das Beste für
Dich wäre eine Erholungsreise.«
151
»Was wird aus unserm Hotel, wenn ich feige fliehe?
Wer verhütet Mord und Todtschlag, wenn ich nicht als
Schutzgeist zwischen den Parteien walte?«
»Du phantasierst.«
»Du giebst mir Dein dreimal heiliges Ehrenwort, Dich
unter keinen Umständen zu schießen?«
»Mit wem?«
»Zum Beispiel mit Kriehberg.«
»Dem haue ich eine herunter, daß ihm vier Wochen der
Hut nicht paßt.«
»So habe ich mir es auch ausgemalt, ganz ähnlich gerade
so. Das beruhigt mich. Und wie erquickend wird der
Winter, wenn der Ausstellungsrummel vorbei ist und wir uns
selbst wieder angehören. Viel wollen wir nicht mitmachen,
aber auf das Fest des Alpenvereins gehen wir. Hast Du
Dich schon etwas im Bayerischen vervollkommnet, mein
Karl? Auf der Ausstellung bietet sich die schönste Gelegenheit
dazu.«
Es ist wagenladungsweise Bayerisches vorhanden, sowohl
Getränk, wie Nationalspeisen und -Trachten, die theils von
Kellnerinnen getragen werden, theils von Natursängern, theils
vom Wurzelsepp, der am unverfälschtesten umhergeht und
jeden mit dem im Höhenklima zuhausenen Du anredet, worauf
der als Steifmeier verschrieene Norddeutsche sofort zeigt, daß er
süddeutsche Gemüthlichkeit nicht nur dem Namen nach kennt,
sondern, da sie hauptsächlich in der herzlichen Sprache liegt,
sie auch auszuüben versteht und womöglich gleich losjodelt.
Auf dem Alpenvereinsfeste kommen Berliner vor, die
von gelernten Tirolern nicht zu unterscheiden sind: die Damen
ganz Oberammergau'sch und die Herren mit bloßeren Knieen,
als mitten im Winter gesund ist, nur das Tirolerische radebrechen
sie, daß die Gemsen abstürzen, wenn sie's hören.
Warum hat noch niemand ein Büchlein verfaßt: »Oberbayerisch
in vierundzwanzig Stunden zu beherrschen,« das viel
Segen stiften würde und zur Ausstellung fertig hätte daliegen
müssen, die Risse zwischen Süden und Norden zu verleimen?
Das Trinken der guten Bräue allein versöhnt nicht, das
gegenseitige Verständniß, das einigt und mein Karl hat die
Erlaubniß, mit den Münchener Kellnerinnen sich für den
nächsten Alpenball im Plauschen zu vervollkommnen, denn es
152
sind armforsche ältere Jahrgänge, fleißig und eifrig im Bedienen,
daß es mit dem Anbandeln nichts ist.

»Karl,« sagte ich, »wenn Du überall in Deine Reden,
das heißt mit Auswahl, ein freundliches a hineinsetzt, gelingt
das Bayerische bildschön und anheimelnd. Lieber Bube heißt
zum Exempel liabr Bua. Danach mußt Du Dich richten
und statt grüßen sagst Du grüaß'n und
Landsbergastraß'n und Mauastraß'n und
Zimmastraß'n, hingegen wiederum Jagastraß'n,
die geht unregelmäßig. Und dann
sagst Du zwischendurch >schau< und >guat<
und was niedlich ist, kriegt ein rl hintendran,
wie >Klimbimberl<, wenn man a Ulkerl
macht, wodurch Härten gemildert
werden, wie Potsdamerl oder Stieferl
und nicht gleich duellirt werden braucht.«
»Schon juat, Schatzerl,« unterbrach er mich.
»Schau, Karl, eben hast Du ein
Fehlerl g'macht. Das g wird nicht Rosenthalerthorisch
betont, sondern härtlich,
wie im Schillertheater. Janserl wäre
z. B. total verkehrt. Ganserl mußt Du
sagen und immer gemüthlich, sehr gemüthlich,
so mit dem Brustton der Gemüthlichkeit.«
»Ich werde mir Mühe mit dem
Hofbräuhausdialekt geben, aba wundra
die net, wann i öfta mit an Rauscherl
ham komma.«
»Punktum!«
»Woso?«
»Auf Dein Komma gehört ein Punktum. Schau, ham
komma thu, hätte es heißen müssen.«
»I dank schön für Kalaua«, rief er. »Alte, Du hast a
Klapserl.« —
»Das war der richtige Akzang. Karl, besorge die Karten
zum Alpenfest rechtzeitig, sie werden zu rasch alle. Mit Deinen
unteren Tanzbein-Muskeln nimmst Du jeden wattirten Wettbewerb
153
auf, kommt die sprachliche Echtheit dazu, erregst Du
Bewunderung.«
»Und als was willst Du gehen? Weißt Du, wir sehen
uns die Bayerischen Madln in der Ausstellung an und was
Dir am besten gefällt, das läßt Du Dir schneidern. Komm,
Alte, wir machen eine Bergfahrt ins Alpenpanorama, die ist
gut gegen Deine Grillen. Und die Gedanken an das Fest
im Winter zerstreuen Dich.«
Ich überlegte. Von dem vor meinen geistigen Augen
sich ausbreitenden Blutfelde in die gemalten Berge zu entweichen
schien mir befreiend und aufheiternd. »Mir recht,«
willigte ich ein. —
Das Alpenpanorama hatte ich mir aufgehoben, da aus
Erfahrung Panoramen länger bestehen als Theater, selbst
mit eigens bestellten Dichtungen der Vergangenheit in Versen
und Patriotismus, aus Gipsbüsten, Rothfeuer- und Jubelmarschfanfaren
der nicht auf das Herz sondern auf die
Groschen zielt. Da dürfen sich die Unternehmer nicht
wundern, wenn keine das Haar abschneidet oder den Trauring
versetzt, ihre Vaterlandsliebe an solchen Kunstaltären zu
bethätigen und der Pleitegeier sich auf dem Dache des Musentempels
einnistet.
Sehr seltsam ist die Bergfahrt. Anstatt in die Weite
hinaus, fährt man ins Enge, ordentlich auf Aussichtswagen.
Erst quert man in einen Tunnel hinein und wenn man aus
ihm herausquert, sieht man in Thäler hinab, auf Ortschaften,
Fluren, Flüsse, Wälder und ferne Gebirge, als wäre man
wirklich im Zillerthal, daß man nicht weiß, ob es Natur oder
Kunst ist, woran die Bergbahn vorüberfährt. Und der
Führer im Wagen erklärt Alles und die Reisenden sind entzückt
und rufen Oh und Ah und Herrlich und Großartig
und, wer persönlich in den Gegenden gewesen ist, erzählt, es
wäre wirklich so, wie es aussähe und zeigt die Gipfel, die er
erklommen und wo er gejodelt hat und wo er zu Nacht
gegessen und was und wie gut und wie billig er es gehabt
hat, ganz wie richtig unterwegs im Kupeh, wodurch die
Täuschung ins Fabelhafte gesteigert wird.
Für die Schönheit, die Meister Rummelspacher gemalt
hat, ist die Fahrt schier zu kurz, man möchte mehr und mehr
haben. Aber schon ist der elektrische Aufzug erreicht. Hinein
154
in die Kabuse. Der Führer lockert die Stange und die
Maschinerie zieht an. Mit unheimlicher Geschwindigkeit geht
es hoch. Am Fenster sieht man Felsen und Klüfte und wie
man an ihnen vorbeirast.
»Karl,« sagte ich, »wenn der Strick reißt, schmettern wir
in den Abgrund. Mir scheint die Sache brenzlich.«
»Keinen Zoll bewegen wir uns,« lachte er. »Die gemalten
Berge am Fenster rollen herab, wir dagegen halten.
Der ganze elektrische Aufzug ist eine optische Täuschung.«
»So'n Schwindel!« rief ich empört.
»Nicht doch. Panoramen sind auf schönen Schein berechnet.
Danken wir den Künstlern für ihre Geschicklichkeit,
uns mit ihrer Kunst ins Hochgebirge zu versetzen, als wären
wir da. Wie viele, die nie nach Tirol hinkommen, schauen
es hier und behalten seine Herrlichkeit im Gedächtniß! So,
und nun sind wir oben.«
Der Führer öffnete die Thür an der anderen Seite, wir
querten hinaus, — queren ist jetzt sehr beliebt in Reisebeschreibungen
— querten durch einen Felsengang und standen
nun auf der Aussichtswarte des Ochsners.
Vor uns das Thal und der Schwarzensteingletscher, die
Firne und Höhen, hoch wie die Wolken. Wie groß, wie
erhaben! Dazu rauschende Wasserfälle und Tannen und
Gestrüpp; ein Rundblick über Nahes in die Ferne, in die
Alpenwelt, daß man alle Sorgen vergißt.
Während wir in dem Hinblick der Alpen schwelgten, erzählte
ein Mann, daß ein Verein im Werden begriffen sei,
der sich als Rettungsgesellschaft in den Bergen niederlassen
wolle, den Abgestürzten erste Hilfe zu bringen. In den
Schutzhütten sollen Tragbahren, Verbandkästen, Arm- und
Beinschienen, Universalpflaster, Doctorschriften und alles was
nöthig ist, Verunglückte einigermaßen wieder einzurenken, gelagert
werden, daß die Kletterer mit größerer Beruhigung
auf die unzugänglichsten Gipfel fexen können. Wenn sie fallen,
fallen sie der Medicin in die Hände.
Mir grauste, als ich dies hörte. Warum muß der
Mensch sich unnöthig in Lebensgefahr begeben? Wegen der
Ruhmredigkeit, auf einem Zacken der Erdoberfläche gesessen
zu haben, auf dem ein anderer nie zuvor gehockt hat? Mit
Halsbrechgefahr über eine Eisspalte zu turnen, über die
155
überhaupt kein Weg geht, blos um zu sagen, ich that es? Ist
denn das eine Ehre, mit dem Tode zu spielen um ein Nichts?

»Wie beim Duell — um ein Nichts,« schoß es mir
durch. So schön die Welt, wie thöricht, eines Wahnes
willen, auf ewig die Augen zu schließen und nichts mehr
zu schauen, nichts. Keine Sonne, kein Alpenglühen, keinen
Baum, keinen Strauch, nie mehr das Rauschen der
Wasserfälle hören, keinen Vogelsang, keinen Glockenklang.
Nur noch in den Zeitungen gemeldet und nicht einmal bedauert, sondern
der Vergessenheit mit der Grabrede übergeben:
»Er hat selber schuld.« — Nicht schön das.
Wir verließen die gemalten Alpen. Man wird
feierlich und ernst gestimmt. Mir war ernster als ernst
zu Muthe.
Beim Ausgange erwartete
uns jemand, froh und
freudestrahlend und begrüßte
uns herzlich in lieber
Freundschaft. Es war Rudolf
Brauns. Er stand im
hellen Sonnenlichte, ein Bild
des Lebens und der Jugend,
mit rothen Lippen und gesunden
Wangen und glänzenden
Augen.
»Ich sah Sie abfahren, leider war der Zug besetzt,«
sagte er, »aber hier mußte ich Sie treffen. Ich wollte Ihnen
nur mittheilen, ein wie großes Vergnügen es mir macht,
156
Ihnen gefällig sein zu können. Ihr Schützling wird angenommen,
wenn seine Ansprüche nicht allzuweit gehen.«
»Mein Schützling?« fragte ich. »Wen meinen Sie
damit?«
»Nun den Architekten, den Sie mir so warm empfohlen
haben.«
»Ich Ihnen einen Architekten? Ihnen? Nicht daß
ich wüßte.«
»Nun ja doch. Auf meine Anzeige sandten Sie mir eine
Rolle Zeichnungen mit einem Begleitschreiben...«
»Sie sind doch nicht Ypsilon 44?«
»Ypsilon 44. Ich suche einen Zeichner für unsere
Fabrik...«
»Allmächtige Güte!« rief ich. »Nun geht der Ballon
den verkehrten Weg. Nein, nein.«
»Aber mit Vergnügen. Heut Abend stellt er sich mir vor.«
»Weiß er, daß Sie es sind?«
»Nein.«
Mir ward graublau vor den Augen. Ich sah Herrn
Brauns als erschossene Leiche liegen und Kriehberg mit
blutigem Revolver daneben. Was war zu thun. So verbiestert
wie jetzt, hatte ich mich noch nie.
»Heute nicht,« stotterte ich. »Heute empfangen Sie ihn
nicht. Denn... denn... heute bleiben Sie bei uns... zum
Abendbrot. Nicht wahr... Morgen ist es auch noch Zeit?«
»Ich bin für Pünktlichkeit... was ich einmal versprochen
habe, halte ich.«
»Sie kommen mit.« Dann wandte ich mich an meinen
Mann: »Karl, wollte Ottilie nicht übermorgen abreisen?«
»Mir hat sie nichts gesagt.«
»Nicht wahr, Herr Brauns, Sie geben uns keinen Korb.
Ich glaube, Ihre Tante würde sich sehr freuen?«
»Wenn man einer Tante eine Freude machen kann, darf
man nicht nein sagen,« lachte er.
Mein Karl sah mich an, als gefiele ihm mein geistiger
Zustand nicht. Ich mußte schweigen. Nur Zeit wollte ich
gewinnen. Brauns und sein Todfeind dürfen sich nicht begegnen.
Wo aber ist ein Ausweg?

157

Auswärtige und innere Angelegenheiten.
Wenn dem Chinesen heiß ist, wedelt er sich Kühlung mit
dem Fächer zu, spürt der Deutsche Hitze, trinkt er kaltes Bier,
und wegen solcher-Unterschiede findet der Eine den Anderen
uncultivirt. Wir sehen auf die Chinesen herab, weil sie
einen Zopf tragen, und die Chinesen dünken sich hoch über
uns, weil wir keinen hängen haben. Wo liegt nun die
Wahrheit? Der Eine ist, wie mit dem Fächer äußerlich, der
Andere, wie mit dem Bier auf Eis, innerlich: das Endziel,
die Abkühlung ist, das nämliche.
Dies sind nicht meine, sondern Onkel Fritzens Gedanken
über Asien und Europa. Er hält es nämlich mit dem Zopf,
natürlich blos, um mir zu widersprechen. Wir haben schon
in der Schule über die Chinesen gelacht, wenn der Herr
Lehrer uns eintrichterte, wie verdreht sie Alles machen und
Pudelbraten mit Ricinusöl essen und nicht 'mal das Alphabet
können, sondern für jedes Wort ein Zeichen hinpinseln.
Und keinen Achtstundentag kennen sie und keinen Achtuhrladenschluß
und keine Sonntagsruhe. Wie schaudervoll: in
dem großen himmlischen Reiche kann jeder arbeiten, wann
und wo es ihm paßt, und seine Steuern erwerben und kein
heimlicher Schnüffler petzt und kein Streber zeigt ihn an und
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kein Richter verknackt ihn. Welch' gräßlicher Anblick, solche
Verlodderung der Volkswohlfahrt nebst Müßigschlendern der
Straf-Organe.
Und vor ihren Mandarinen rutschen sie Bauch. Das ist
erstens kriecherisch und zweitens ruinirt es das Zeug.
»Ich bin sehr froh, nicht in China
zu leben,« sagte ich.
»Ich dito« stimmte Onkel Fritz
mir ausnahmsweise zu. »Denke Dir,
Wilhelmine, wenn sie Dir kleine
Klumpfüßchen anerzogen hätten,
daß Du nur eben watscheln
könntest.«

»Gehört hab' ich davon, aber warum sie das thun, ist
mir nie kund geworden.«
»Damit die Frau ihrem Gatten nicht wegläuft.«
»Wie grausam!«
»Nicht wahr? Der arme Mann wird sie nie los.«
»Viel schlimmer ist, wenn man einen Mann nicht los
werden kann. Fritz, ich bin sehr, sehr unglücklich!«
»Was giebt's? Bist Du Deines Mannes überdrüssig?
Hast Du zuviel neue Richtung gelesen und willst mitmachen?«
»Scherz bei Seite, Fritz, ich weiß nicht aus noch ein!«
Und nun erzählte ich ihm meine Noth mit Kriehberg und
Ottilie und Herrn Brauns.
159
»Was geht denn das Dich an?« fragte Onkel Fritz.
»Laß doch die jungen Leute ihre Angelegenheiten unter sich
schlichten.«
»Ich kann kein Blut sehen.«
»Klumpatsch! Du hast natürlich nicht bedacht, daß
Menschen keine Dominosteine sind, die Du schieben kannst, wie
sie nicht wollen. Was sagt denn Dein Mann dazu?«
»Das Schlimmste weiß er nicht?«
»Dann muß die Sache sehr mulmig sein.«
»Ist sie auch, Menschenglück und Menschenleben hängen
davon ab, wie sie endigt.«
»Zunächst deshalb weg mit der Ottilie. Aus den Augen,
aus dem Sinn.«
»Sie stirbt daheim an Gram und Kummer, wie Tante
Lina. Du sollst sehen, nun, da sie nichts mehr zu hoffen hat,
schwindet sie bald dahin.«
»Wer? Ottilie?«
»Nein, Tante Lina. Hoffnung ist der Zehrpfennig der
Seele. Ist der verloren, schließen sich alle Thüren, bis auf
die Pforte des Todes, die öffnet sich umsonst.«
»Wilhelmine, werde nicht sentimental. Tanten sind zähe
und Verlobungen gehen täglich zurück.«
»Blos Kriehberg nicht. Er hat Briefe von Ottilie. Er
thut Einspruch.«
»Dann laß sie ihn heirathen.«
»Sie liebt aber den anderen.«
»Und Du meinst, Tante Lina, die alte Schraube, hat die
Beiden zusammengekobert?«
»Wenigstens stark nachgeholfen.«
»Dann wäre es ihre Pflicht wieder auszufädeln, was sie
eingefädelt hat. Schatz, ich hab's! Setze Dich auf die Eisenbahn,
oder womit Du sonst hinruckelst, fahre zu Tante Lina,
polk ihr die Sachlage klar, damit sie so lange brieflich auf
Kriehberg einwirkt, bis er Vernunft annimmt. Sie weiß ja
am besten, wodurch und wie sie gekuppelt hat.«
»Geschehen muß etwas. Uebermorgen reise ich. Doch
eins, Fritz, sprich mit Niemand ein Sterbenswort. Was aber
wird mit meinem Hotel, wenn ich abwesend bin?«
»Das läuft nicht weg. Und verbohrter, wie es zugeht
mit Dir, geht es ohne Dich schwerlich.« — »Fritz!«
160
»So heiße ich! Ohne Umstände mache Schluß, so bald
wie möglich. Du siehst schon ganz spack aus.«
»Meine Talje wird mir zu weit.«
»Sparst Du vier Wochen Krodobrunnen in Harzburg
mit Bergklettern. Ich an Deiner Stelle karriolte morgen ab.«
»Kann ich nicht. Es ist das große Fest zu Ehren Li-hung-Schangs,
des chinesischen Vice-Königs. Das muß ich
beschreiben. Es wird einzig. Alles mit Theekisten-Inschriften,
und auf dem Neuen See eine mit rothem und
gelbem Kattun überzogene Barke und eine Pagode mit echten
Porzellanvasen von Rex und die Lämpchen blau und gelb in
der chinesischen Wappenkulör.«
»Wenn das den braven Schang nicht zu Thränen
rührt, ist er das Entree nicht werth. Es wird doch auf eine
Mark erhöht?«
»Versteht sich. Die Kosten müssen gedeckt werden.«
»Glaubst Du, weil Schang von uns mit Schokolade begossen
wird, daß China deutsche Industrie und deutsche Leute
begünstigt? Ich nicht. Ich kenne die Onkels durch mein
Exportgeschäft. Es sind Gemüthsathleten sag ich Dir. Erst
kommen sie und dann die andern — noch lange nicht.«
»Oho! Man erwartet, daß er ein Dutzend Panzerschiffe
bestellt...«
»Das dreizehnte oben aufs Packet gebunden.«
»Und Rieseneinkäufe macht. Außerdem soll er ein hervorragender
Politiker sein.«
»Weißt Du, was Politik ist? Anders sagen als thun.
Besser wäre, die Deutschen schlössen feste Freundschaft unter
sich, als daß sie in der Fremde falsche Freunde suchten. Wilhelm,
das Nachlaufen, das verfluchte Nachlaufen, das ist unser
Elend. Wir beleuchten in allen möglichen Landesfarben,
aber kein Land illuminirt in den deutschen Farben.«
»Warum nicht, da wir doch andere Völker mit Oellampen
ehren?«
»Weil es kein schwarzes Licht giebt, und Weiß und Roth
nicht langt. Sonst thäten sie es aus lauter Hochachtung.
Wenn sie könnten, fräßen sie uns auf — vor Liebe. Sie
haben oft genug versucht, Deutschland zu zerreißen und zu
verschlingen, aber ehe sie es todtschlugen, ward es lebendig
und umgekehrt ein Schuh daraus.«
161
»War es denn halbtodt?«
»Es träumt zuviel und beim Träumen hält es die
Augen nicht offen. Augenblicklich träumt es chinesisch.« —
Am Feste regnete es, daß die gelben und blauen Lampen
sich in Vogelnäpfe verwandelten und Schang sich mit der
Ankündigung der Illumination in den Zeitungen begnügen
mußte, die laut posaunten, daß er für fünfzigtausend Brillanten
auf der Ausstellung gekauft hätte.
Alle hinausgeströmte Welt ergoß sich in die Gold- und
Silberabtheilung, wo es während des Regens trocken war,
und betrachtete mit erhobenem Nationalgefühl die köstlichen
Leistungen der Berliner Goldschmiede und Juweliere und
den Platz, wo solcher Einkauf stattgefunden hatte, wenn auch
nirgend wo daran stand »für China erworben.« Einige
sagten, es wären fünfmalhunderttausend Mark gewesen, was
nur scherzend bezweifelt wurde, da der Chinese furchtbar
reich ist. Wenn er will, kann er jede Minute ein Zwanzig-Markstück
hinunterschlucken, ohne daß er was merkt. So
erzählte man und beglückwünschte die Juweliere zu dem
»großartigen« Geschäft und pries den Arbeits-Ausschuß als
Häupter vom Ganzen und die Ausstellung und Berlin und
das Deutsche Reich, daß Handel und Wandel so aufblühten
und der Goldregen von Osten noch dichter pladdern würde,
als der Strippenregen vom Himmel. Wer nicht drinnen war,
quurkste draußen in den Regenwegen und mancher guter
Anzug kriegte seinen Rest, um dem Stern des himmlischen
Reiches zu huldigen, der die Geburt goldener Zeiten verkündete;
liegt doch im Verdienen heute das Heil der Menschheit.
Es war ein großer Tag, nur bekam Niemand Schang
recht zu sehen. Es triefte zu sehr. —
Einige Abende darauf wurde die Beleuchtung wiederholt,
wenn auch mit ohne Schang. Es soll sehr schön gewesen
sein, allerdings mit herabgesetzter Freudenempfindung, denn
im ganzen hatte Schang für nuttige dreitausend Mark
Brillanten eingehandelt und war nach England und Frankreich
gereist, Kanonen und Panzer anzusehen und ähnliche
Einkäufe zu machen. Konkurrenz schrinkt. Doch steht zu
erwarten, daß er sie ebenso einseift. Und das lindert den
Schmerz wieder.
Fast möchte ich glauben, unser Schulmeister hat die
162
Chinesen nicht so gekannt, wie sie uns kennen, und daß
Onkel Fritz Bescheid weiß. Man irrt sich in nichts leichter
als in ausländischen Völkern.
Seinen Rath, Tante Lina zu besuchen, nahm ich an.
Ich mußte.
Denn dieser Kriehberg — man sollte es nicht für denkbar
halten — wurde herausfordernder als je. Er hätte Aussicht
auf feste und dauernde Stellung, schrieb er mir, und
kein Grund läge vor, ihm Ottilie länger zu verweigern.
Herr Brauns brachte jenen Abend bei uns zu, an dem
Kriehberg fällig war und vor verschlossenen Thüren antrat.
Eine sofortige Pustkarte, daß N 44 verreist sei und ihm nach
seiner Rückkehr Bescheid geben würde, sandte ich schleunigst
im Geheimen an Kriehberg ab. Und darauf hin pocht er
auf Aussichten. Unglaublich.
Ottilie war mit der Ungermann und Kliebisch's in ein
Theater gegangen, so daß Herr Brauns, mein Karl und ich
allein beim Abendbrod saßen. Ihm fehlte Ottilie; mir nicht.
Wir unterhielten uns über viele, verschiedene Dinge;
das Gespräch kam nicht in Fluß. Wie wäre es auch möglich,
auf die Dauer Theilnahme für Gleichgiltiges zu heucheln,
wenn sich die Gedanken mit Lebensfragen beschäftigen? Und
zuletzt hielt er es nicht mehr aus, er konnte sich nicht länger
bezwingen.
Und wie er erst zögernd begann und erröthete und
sagte, wie er auf uns zählte, namentlich auf meine Aufrichtigkeit
— er wußte ja nichts von meiner so eben abgelassenen
Rohrpostlüge — und dann immer lebhafter wurde, je mehr
er den Eindruck schilderte, den Ottilie auf ihn gemacht hatte,
gleich beim ersten Anblick und nachher wieder, so oft er sie
gesehen, das klang so gewinnend und innig, daß ich ihm
freundlich zunickte. Und da sagte er, sie müßte die Seine
werden, so liebe er sie.
Nun war es heraus, und ich sollte Ja und Amen dazu
sagen.
»Sie kennen sich gegenseitig noch viel zu wenig,« wandte
ich ein. »Sie müssen erst vertrauter werden.«
»Dazu bietet uns das ganze lange Leben Gelegenheit.«
»Und Sie wissen so viel, da kommt Ottilie nicht gegen.«
»Ich will Liebe, nicht Gelehrsamkeit.«
163
»Sie ist arm.«
»Ich habe mehr als genug. Unsere Fabrik wächst von
Jahr zu Jahr, unser Betrieb dehnt sich aus. Was mein
Vater begründete, führen wir gemeinschaftlich weiter, ich bin
nicht nur sein einziger Sohn, sondern sein geschäftlicher Mitarbeiter.
Meine Eltern wollen mein Glück und mein Glück
ist Ottilie; meine Lebensfreude, sie mit Allem zu umgeben,
was ihr Wünschen begehrt.«
»Wenn die Eltern mit der Wahl einverstanden sind,«
sagte mein Karl, »sehe ich nicht ein...«
»Karl!« rief ich, »nicht zu hastig. Hast Du Verständniß
von einem Mädchenherzen? Ottilie muß doch erst gefragt
werden!«
»Das ist Herrn Braun's Sache. Wenn die jungen Leute
einig sind, sehe ich nicht ein...«
»Karl, versetze Du Dich in Ottiliens Lage, ebenso schüchtern
und gewissermaßen vom Lande, und Herr Brauns kommt
mit der Thür in's Haus gefallen und will Dich heirathen,
natürlich schreist Du und läufst weg oder Du giebst
in Verwirrung Dein Wort und sitzest hernach da und
weinst aus Voreiligkeit, und sie schleifen Dich in die Kirche
und ein Jahr darauf liegst Du mit gebrochenem Herzen in
weiß Atlas im Sarg.«
»Gott soll mich schützen,« lachte mein Karl und sah mich
verwundert an, und fragte mit seinen Blicken: »Alte, was
hast Du?«
Herr Brauns lachte nicht. Der war blaß geworden und
schwieg ernst, furchtbar ernst. Ihm mochte wohl aufdämmern,
daß etwas nicht in Ordnung sei und sein Glück wie Edelweiß
an einem Abgrund blühte, und ich sollte der Führer
sein und weigerte mich aus Sachgründen.
Er brach auch bald auf. — Wie that er mir leid.
Er reichte uns die Hand beim Abschied, sie zitterte
leicht. So mächtig war der Aufruhr in ihm, daß er seiner kaum
Herr ward, er, der Eisen und Stahl brach, wenn er wollte.
Ich begleitete ihn hinaus. Meinen Karl winkte ich mit
dem Ellbogen und der rechten Fußsohle, zurückzubleiben.
»Gewähren Sie mir drei Tage,« sagte ich. »Ich muß
verreisen; wenn ich wiederkomme, dann... dann sind wir...
älter.« — »Aber Ottilie geht?«
164
»Vorläufig nicht; ich sagte nur so.«
Ein Freudenschimmer überflog seine Züge.
»Versprechen Sie mir, keine Thorheit zu begehen?«
»Thorheit?« lächelte er, »Thorheit? Nein.«
»So ist's recht. Sehen Sie, Herr Brauns, wenn ein
junges Mädchen heiß und verzehrend liebt, dann fürchtet es
sich vor der Entscheidung. Es ist, als sollte sie in Gluth
und Feuer springen und schließt die Augen und beträgt sich
wie blind.«
»Verstehe ich Sie recht?« — »Adieu, Herr Brauns.« —
Mein Karl wollte Auskunft haben; ich bat ihn, mir die
Angelegenheit zu überlassen. Heirathen sei Frauenaufgabe.
— Darin ergab er sich.
Ungermanns und Ottilie kamen spät nach Hause.
Mein Karl fragte: »Ottilie, würden Sie Herrn Brauns
Ihre Hand geben, wenn er sie verlangte?«
Sie sah ihn starr an, dann mich — Ungermanns hatten
sich gottlob zurückgezogen — als hätte sie nicht recht gehört.
»Er will Sie zur Frau.«
»Karl!« rief ich.
Es war zu spät. Ottilie lag ohnmächtig auf dem Teppich.
Die Wahrheit war ihr zu viel gewesen.
»Karl, wie konntest Du?«
»Einmal muß Euren Heimlichkeiten ein Ende gemacht
werden. Ich will nicht, daß Du mir draufgehst.«
»Wie egoistisch, Karl.«
Ottilie kam wieder zu sich. Ich half ihr, sich zur Ruhe
zu legen und wärterte an ihrem Bette, bis sie schlief. —
In der Nacht hörte ich sie weinen.
»Ottilie,« sprach ich, »es kann ja noch Alles gut werden.«
»Ich wollte, ich wäre todt,« schluchzte sie.
Da beschloß ich mit Onkel Fritz zu sprechen, wie es geschah.
Und seinen Rath, Tante Lina vor das Messer zu
nehmen, befolge ich.
Wenn Jemand Schuld an dem Jammer hat, ist es Tante
Lina. Nichts ist verderblicher, als das Heirathstiften, zumal
von älteren Jungfern, die nur in der Theorie Bescheid
wissen.

165

Provinz-Erlebnisse.
Geschäftsreisen sind keine Vergnügungs-Ausflüge. Freilich
kann eine Geschäftsreise sich zur Quelle reinster Freuden
gestalten, wenn der Absatz fluscht, neue Kunden anbeißen und
die alten die Waare auftraggebender Weise loben. Anerkennung
in Worten klingt sehr schön und befriedigt Dichter
und Künstler, zumal in gedrucktem Zustande, aber mit Aufblähung
ist dem einfach civilen Bürger nicht gedient; der hat
Wechsel einzulösen, Fabrikanten zu zahlen, Rohstoffe anzuschaffen
und Arbeiter zu lohnen, der muß umsetzen; denn
was auch aufkommen mag, Geld bleibt egal Mode. In
keiner Konfession sind die Menschen orthodoxer, als in der
Anbetung des Geldes.
Unser Felix Schmidt konnte auf das Ergebniß seiner
letzten Tour stolz sein, als er zurückkehrte. Er war vergnügt
und mein Karl war so vergnügt, daß er mich mit in das
Geschäftliche hineinzog, was er nur selten thut, wie ich ihm
ja auch nicht mit jeder zerbrochenen Schüssel ins Gesicht
springe und nur dann und wann erfreue, wenn ich wirklich
Billiges, lächerlich unter dem Einkaufspreis erworben habe.
Gewöhnlich berechnet er nach, daß er trotzdem viel zu hoch
kam. Neulich kaufte ich auch etwas. Es sah aus wie eine
Kneifzange und war patentirt und von zwei Mark auf fünfzig
Pfennige herabgesetzt, blos es ließ sich nirgend wozu gebrauchen.
Mein Karl drohte, das nächste Mal käme ich
unter Kuratel. Ich entgegnete: »Wer eine Mark fünfzig
166
sparen kann und es nicht thut, versündigt sich; übrigens die
Frau soll noch geboren werden, die einem Ausverkauf widersteht.
Also was brummst Du?«
Jetzt hatte ich Verwendung für den Gegenstand, indem
ich ihn nebst anderen Niedlichkeiten als Aufmerksamkeit für
Tante Lina mitnahm. Kann sie auch nichts damit anfangen,
so freut sie sich doch über den guten Willen, der bei Geschenken
das Werthvollste ist. Und den hatte ich.
Ob ich auf einer Geschäftsreise war, als ich in der
Eisenbahn saß und nach Tante Lina fuhr, das vermochte ich
nicht bestimmt zu beantworten, eine Vergnügungspartie war es
jedoch nicht. Würde ich meinen Zweck erreichen? Vielleicht.
Blieben meine Bemühungen fruchtlos, waren Fahrkarte, Zeit
und Spesen der Katze geweiht. Aus der Füllung des Abtheils
machte ich mir nichts, die Stadtbahn-Straffahrten nach
Treptow hatten mich abgehärtet, und schon längst hatte ich
den Unterschied zwischen Häringen und Berlinern herausgefunden.
Die Häringe werden nämlich mit Salz gepökelt
und die Berliner mit amtlichen Zumuthungen. Die Verpackung
ist dieselbe.
Bei der herrschenden Sommerwärme zog ich die dritte
Klasse der gepolsterten zweiten vor, und das hatten sämmtliche
Mitleidensgenossen aus demselben Grunde gethan, wie
sie sagten, als das allgemeine Gespräch mit Bahnbeschwerden
eröffnet wurde. So mächtig wird stets über die Leitung des
Ganzen geurtheilt, daß sie aus dem Ohrenklingen gar nicht
herauskommen, und deshalb natürlich keinen vernünftigen
Verbesserungs-Gedanken fassen kann. Hinterrückisches Zähneknirschen
hat gar keinen Einfluß, ebenso wenig wie das Anblaffen
der unschuldigen Schaffner etwas an den Bahngesetzen
ändert. Man gebe der Verwaltung mehr Ferien unter
der Bedingung, sie abzureisen. Das würde ihr gut thun.
So und ähnlich äußerten die Herrschaften sich, und
nachdem die Eisenbahn ihre Wischer weghatte, kam Berlin
daran.
Ich gab mich nicht zu erkennen, um die freien Aeußerungen
nicht zu hemmen.
Es bildeten sich bald zwei Parteien. Die eine ließ an
Berlin kein gutes Haar, die andere war der Anerkennung
voll, wenn man jedoch genau hinhörte, gingen die meisten
167
Klagen aus dem Geldbeutel hervor. Die, die Alles hatten
sehen und genießen wollen, ohne daß es etwas kosten sollte,
waren böse, die Anderen, die sich gesagt hatten, daß, wer
Vieles in kurzer Zeit abmachen will, an einem Tage mehr
ausgiebt, als zu Hause in einer bis verschiedenen Wochen,
waren zufrieden. Kann Berlin etwas dafür, daß die Straßen
so lang sind?
Die Droschken waren ihnen zu theuer.
Warum sie nicht Pferdebahn gefahren wären oder Omnibus?
Wer wußte denn, wo man damit hinkäme?
Man brauchte nur zu fragen.
Um sich Grobheiten auszusetzen?
Wo das der Fall gewesen wäre? Der Berliner gäbe gern
und willig Auskunft.
Damit liefe man den Bauernfängern in die Arme.
»Jawohl,« rief ich dazwischen, »wenn man nämlich ein
Bauer ist.«
»Sie sind wohl aus Berlin und wissen Alles besser?«
entgegnete der Mann. »Wie ist es einem Herrn gegangen,
den ich zufällig kennen gelernt hatte? Er machte nämlich die
Bekanntschaft von einem Grafen und der Graf führt ihn in
höhere Zirkel ein und es ist auch sehr nett da, blos daß die
Gesellschaften immer so spät in der Nacht stattfanden. Doch
dies fiel ihm nicht weiter auf, indem er sich amüsirte mit
ungarischen Gräfinnen und Comtessinnen aus Polen, in die
er ganz weg war; hochfein. Und da er sich nicht knauserig
zeigen durfte, wenn mal gespielt wurde, haben sie ihm nicht
blos sein Geld abgenommen, sondern auch die Uhr; und wie
er sie am nächsten Abend einlösen will, hat die Polizei die
ganze noble Gesellschaft ausgehoben.«
»Hat er seine Uhr wieder?« fragte Jemand.
»Nicht doch. Wenn er sich meldet, muß er als Zeuge
aussagen und das paßt ihm nicht wegen seiner Stellung.
Wenn sein Name in der Zeitung steht und wie die Frauenzimmer
ihn hineingelegt haben und daß der Graf ein entlassener
Heilgehilfe mit Vorstrafen war: die Blamage ist zu
enorm.«
»Was man nicht Alles mit guten Freunden erlebt,« bemerkte
168
ich. Die übrigen lachten und tuschelten und einer
rief: »Der gute Freund sind Sie doch nicht am Ende selber?«
»Würd' ich die Geschichte dann erzählt haben?«
»Na, na!« zweifelte ein Herr. »Es mag nett zugehen,
wo Sie her sind!«
»Ich bin es weiß Gott nicht,« suchte er sich herauszureden.
»Sie können es mir glauben.«
»Wer glaubt, wird selig.«
»Auf Ehrenwort, ich bin es nicht. Ich kann Ihnen auch
den Namen nennen, es war ein gewisser Ungermann.«
»Ein kleiner untersetzter Herr mit durchgewachsenem
Schädel?« fragte ich erstaunt.

»Ganz derselbige. Kennen Sie ihn?«
»Nur so von Ansehen. Ich kann mich auch irren.«
»Vielleicht wissen Sie mehr von den ungarischen Gräfinnen
als wir?« argwöhnte der Herr und fixirte mich.
Ich wurde verlegen.
»Und wo die Uhr geblieben ist?«
»Mein Herr!« fuhr ich auf.
»Ich kenne Berlin,« höhnte er.
»Berlin bei Nacht,« gab ich ihm zurück, »gerade so wie
Ungermann. Jawohl! Den hat die gerechte Strafe für seine
Aushäusigkeit und Duckmäuserei ereilt. Hoffentlich sind seine
169
Genossen nicht leer ausgegangen. Sagten Sie nicht, er wäre
ein guter Freund von Ihnen?«
»Ich verbitte mir jede Anspielung.«
»Ich mir dito!«
»Uebrigens wenn Sie es interessirt, wurde ich in Alt-Berlin
mit dem Herrn bekannt. Die Ausstellung ist doch für
Fremdenverkehr, da treffen sich eben die Fremden.«
Dagegen sagte keiner etwas. Voller Aufregung suchte
ich nach meinem Riechsalz, wobei die merkwürdige Zange
herausfiel, die mein Schräg-à-vis aufhob und prüfend betrachtete,
anstatt sie mir höflichst zu überreichen.
»Erlauben Sie, was ist das für ein Instrument?« fragte er.
»Das weiß ich nicht.«
»Merkwürdig!«
»Wieso?«
»Man führt doch keine Brechzangen bei sich, ohne zu
wissen, wozu sie gebraucht werden?«
»Ach so? Eine Brechzange ist es,« erwiderte ich. »Mir
sehr angenehm, das zu erfahren.«
»Was denn sonst? Man schiebt das Ding zwischen die
Thür, knack, und auf springt sie.«
Alle blickten mit neugieriger Abscheu erst auf das Instrument
und dann auf mich. Die neben mir saßen, rückten
zur Seite, so gut es ging.
Ich lachte und wandte mich an den Herrn, der mir die
Zange noch nicht wiedergegeben hatte: »Darf ich mir mein
Eigenthum gefälligst ausbitten?«
Er sah mich an, mit so unverkennbaren Criminalaugen,
daß ich eine Gerichtsperson auf Ausstellungsurlaub in ihm
witterte und von plötzlicher Angst erfaßt, zurückfuhr.
Darauf sah er mich noch durchbohrender an und sagte:
»Dieses verfängliche Geräth muß der Polizei eingeliefert
werden.«
»Meinethalben, für mich hat es keinen Werth.«
»Und doch kann es Ihnen theuer zu stehen kommen.«
»Wollen Sie mir jetzt mein Besitzthum wiedergeben?
Oder soll ich klagbar werden?«
Er zögerte.
Nun ich fühlte, daß ich Oberwasser kriegte, gewann ich
Muth: »Besehen Sie sich es genau, wenn Sie lesen können.
170
Da steht D. R.-P. darauf, Deutsches Reichs-Patent. Glaubt
denn ein vernünftiger Mensch, das Deutsche Reich patentire
Einbrechzangen und Diebgeräth?«
»Warum nicht? Patentirt wird vieles.«
»Die Frau scheint mir Recht zu haben,« rief ein jüngerer
Mann aus einer Ecke.
»Hab' ich immer!« stimmte ich ihm bei.
»Und ich finde es nicht schön, sofort gleich zu verdächtigen,
wo garnichts vorliegt. Hat die Frau denn schon eingebrochen?
Und wenn sie einbrechen will, seit wann ist die
Absicht strafbar? Außerdem fragt sich, ob das Ding wirklich
zum Einbrechen taugt? Mir scheint es für diesen Zweck viel
zu schwach gearbeitet. Ein Geldspinde bringt sie nicht damit
auf. Das ist meine Meinung.«
»Aber wozu dient das Instrument denn?«
»Mir scheint es ein Briefbeschwerer,« sagte eine Dame.
»Das sieht man doch im Dunkeln,« klammerte ich mich
an diesen Rettungsstrohhalm. »Giebt es etwas unnatürlicheres
als Briefbeschwerer? Dazu nimmt man alte Schuhe, Hufeisen,
Beile, Aepfel und Birnen, Töpfe aus Metall und Stein
und worauf das Kunstgewerbe sonst verfällt.«
»Das ist wahr,« bestätigte mein Nachbar zur Linken.
»Wer die Ausstellung betrachtete, der hat auch Briefbeschwerer
gesehen,« sagte ich. »Aber wer blos nach Berlin
ging, um zu schwiemeln, weiß von nichts. Geben Sie mir
meinen Kunstgegenstand. — Danke!«
Während ich das Unglücksgeschirr wegstopfte, begann
der Herr, der sich als Ungermann's Freund verrathen hatte,
auf die Ausstellung zu raisonniren: »Wer kann Alles sehen?
Die Vergnügungen erdrücken die Industrie.« — Und was der
nicht wußte, ergänzten Andere.
Als sie es jedoch zu schlimm machten, bildete sich Gegnerschaft,
die immer mehr in's Loben kam und gut fand,
was vorher getadelt und herabsetzte, was in den Himmel
gehoben war.
Ich verhielt mich zuhörend; ich war zu zerknittert, einzugreifen.
Hingegen war mir klar: Allen recht zu machen,
ist selbst Kommerzienräthen unmöglich.
Mit wahrer Aufathmung begrüßte ich meinen Aussteige-Haltepunkt,
verließ die Gesellschaft mit deutlicher Nichtbeachtung
171
und suchte den Postwagen auf, der mich weiter befördern
sollte. Im Wartesaal nahm ich einen kleinen Trosttropfen;
nur einen. Dem genossenen Aerger nach hätte ich
Grund gehabt, mich dem Alkohol gründlichst zu ergeben und
begriff, wie fortgesetzter Verdruß einen Menschen schließlich
ins Delirium treiben kann. Welche Charakterfestigkeit
gehört dazu, Ausstellungscomité zu sein, das täglich aufgemöbelt
kriegt und doch nie molum gesehen wurde!
In solchem gelben Stephans-Kasten war ich noch nicht
gefahren; er ist ja auch im Absterben und deshalb waren
die englischen Mehlkutschen, die weiter nichts sind als eine
Kreuzung von Omnibus und Post, in Berlin, wenn es hoch
kam, nur mit einer Person bevölkert. Wir haben unsere
billigeren flinken Droschken erster Güte, was sollten wir mit
den Noah-Archen auf Rädern? Sie hier unübertrefflich
halten, weil sie von England kamen? Ueber solchen Mumpitz
sind wir längst hinweg.

Ich war allein in dem Wagen auf der langsamen
Straße mit Feldern auf beiden Seiten, Dörfern in der Ferne
und Gehöften, an denen man vorüberfuhr in ländlicher Stille.
Wie viele Menschen doch außerhalb Berlins glücklich sind.
Und doch meinen die Meisten, das Glück sei nur in der
großen Stadt zu Hause. Aber was ist Glück? Das einzige,
was der Mensch sucht, wenn er es gefunden hat. Denn es
giebt keinen Zufriedenen.
172
Wie glücklich hätte ich jetzt sein können, wenn ich mich
weder mit Kriehberg noch Ottilien beschwert hätte. Waren
denn Ruhe und Frieden und meine Häuslichkeit nicht Glück
genug? Was hatte ich Noth, mich in die Schreibtinte zu
begeben? Nun saß ich drinn. Ohne die Beiden wäre ich
nicht auf der Spritztour nach Tante Lina, die sehr verhängnißvoll
hätte werden können. Der Mann, der mich möglicherweise
für das Ehrenmitglied einer Einbrecherbande
hielt, war nahe daran, mich der Obrigkeit zu überantworten.
Man weiß ja nie, mit wem man fährt, welch' unbewußtes
großes Thier er ist und was er einem anthun kann?
Und dieser Ungermann! So ein Nachtbruder. Und
bei Tage wie neugeborne Unschuld. Den werd' ich abmalen!
Mit dieser Absicht drusselte ich ein und erwachte erst,
als der Postillon sein Stückchen blies. Ich träumte gerade,
Ungermann winselte um Gnade, so klang das Geblase.
Wir rumpelten über holperiges Pflaster durch ein
thurmartiges Thor und waren in der Stadt. Tante Lina
wohnte nicht weit von der Post, sie aufzufinden ging ohne
Adreßkalender.
Sie freute sich nur mittelmäßig, als ich bei ihr eintrat
mit den Worten: »So, da bin ich. Sie können sich wohl
denken, daß ich wegen wichtiger Angelegenheiten komme. Wie
geht es Ihnen, Tante Lina?«
»Ganz gut,« erwiderte sie. »Recht gut. Viel besser,
als sonst. Bitte, setzen Sie sich. Ich nehme jeden Abend
vor dem Schlafengehen, mit Erlaubniß zu sagen, drei Stücken
Rhabarber. Apotheker Bahnsen rieth es mir und es hilft
auch, weil ich die Berliner Kost nicht vertragen konnte und
wenn nichts gethan wurde, es leicht schlimm geworden wäre.
Im vorigen Jahre hatte Maler Brandt's Frau es ebenso,
aber weil sie nichts brauchte, schlug, mit Erlaubniß zu sagen,
innerliche Gedärmgicht dazu und in fünf Tagen war sie todt.
Sie hat so geschrieen, daß sie es drei Häuser weit gehört
haben.«
»Wer lange Rhabarber ißt, kann alt werden,« sagte ich,
nur um etwas zu sagen, da ich den rechten Dreh noch nicht
hatte.
»Will ich auch,« entgegnete sie. »Ich will noch vom
Leben haben, was es mir bieten kann. Und wozu auch nicht?
173
Das Essen und Trinken schmeckt mir und zu sorgen hab' ich
für Niemand mehr, für Niemand. Der, auf den ich wartete,
der braucht nicht, was ich zusammenhielt, der ist reich; darum
hab' ich Alles auf Leibrente gegeben.«
»Aber Tante Lina!«
»Ja, nun erbt Keiner was. Keiner. Viedt's haben auch
genug. Und Sie brauchen es auch nicht. Und Kriehberg
ist noch jung, der kann arbeiten. Das hat Johannes auch
gemußt.«
»Sie können über das Ihrige verfügen, wie Ihnen gut
dünkt, Tante Lina, aber sagen Sie mir das eine: Haben Sie
Kriehberg etwas versprochen?«
»Nicht gerade versprochen. Aber da er und Ottilie sich so
sehr lieben, sagte ich, sie sollten heirathen, ehr etwas dazwischen
käme. Warum dürfen die jungen Leute nicht glücklich
werden?«
»Wovon sollen sie existiren?«
»Sie sind ja noch jung. Es verheirathen sich so viele
und sind glücklich.«
»Doch blos nicht in Berlin! Was kostet ein Haushalt
in Berlin? Allein die Miethe. Und er hat nichts.«
»Oh, so viel wird er wohl haben.«
»Aber nein. Nicht so viel, die bescheidenste Wohnung
zu nehmen mit Küche, eben groß genug, eine Karmenade
auf einmal zu braten. Tante Lina, da haben Sie nicht gut
gerathen.«
»Sie lieben sich.«
»Wissen Sie das so genau? Ich bin anderer Ansicht.
Er allerdings will Ottilie...«
»Und sie ihn. Und ich gab ihnen meinen Segen und
sprach, werdet glücklicher als ich und da verlobten sie sich
mit Liebe und Treue für alle Ewigkeit.«
»Welcher Leichtsinn. Arme Ottilie. Tante Lina, haben
Sie ihnen wirklich nichts versprochen? Garnichts? Reinigen
Sie Ihr Gewissen, von Ihnen wird einst Rechenschaft gefordert,
wenn die Beiden in Elend zu Grunde gehen.«
Sie mimmelte mit den Lippen. »Nun ja,« begann sie
zögernd, »ich warf so hin, daß, wenn sie sich brav hielten,
ich Ottilie in meinem Testamente bedenken würde, und das
will ich auch.«
174
»Nun Sie ihr Vermögen für immer weggegeben haben?«
»Meine Sachen sind wie neu, blos in der einen Kommode
ist der Wurm.«
»Aber Kriehberg rechnet entschieden auf Geld.«
»Wie sie alle; alle miteinander.« Sie blickte mich an,
als wenn sie sagen wollte »und Du auch!«
Ich besann mich kurz. »Ich will Ihnen die Beiden
schicken; sie können sich hier verheirathen und bei Ihnen
wohnen, damit Sie das von Ihnen eingerührte Glück aus
erster Hand mit verzehren. Ich habe für so etwas keinen
Platz.«
»Ich auch nicht. Was würden die Leute dazu sagen?«
»Was Leute immer sagen, wenn Zweie zusammengeredet
worden sind und hinterher ihre Ohren abreißen möchten,
mit denen sie nach all den schönen Worten hingehorcht
haben.«
»Und was sagen die Leute immer?«
»Gut, wer damit nichts zu thun hat. Das sagen sie!«
»Was kann ich aber dabei machen?«
»Viel, sehr viel. Nur einige Zeilen an mich, daß weder
Ottilie noch Kriehberg Baares von Ihnen zu erwarten hat.«
»Nein.«
»Ja! Und zwar eine Bescheinigung von Ihrem Renteninstitut.
Es muß sein.«
»Muß?«
»Tante Lina, ein Leben mit unerfüllter Liebe ist großes
Weh — Sie wissen es. Doch, ohne Liebe mit Wort und
Schwur gebunden sein, das ist gebranntes Leid. Nur wenn
Kriehberg sein Wort zurückgiebt, wird Ottilie frei. Und sie
liebt einen anderen. Dies Ihnen zu sagen, bin ich hier.
Das Glück zweier Menschen liegt in Ihrer Hand. Können
Sie noch zaudern?«
Sie schwieg geraume Zeit. »Wie ist das gekommen?«
fragte sie.
Ich erzählte ihr Alles und sie gab genau Acht; dann
sagte sie: »Ich will ihn bitten, ihn, Johannes, daß er sich
Kriehberg's annimmt. Vielleicht daß er drüben sein Fortkommen
besser findet, als hier. Johannes wird es mir nicht
abschlagen. Er ist ja glücklich. Aber Verantwortung habe
ich keine. Nein. Nein!«
175
Wir blieben zusammen, bis am Spätnachmittage die
Post wieder abging. Ihr Rechtsanwalt schrieb den Schein,
worin er beglaubigte, daß sie ihr Capital auf Leibrente gegeben
hätte und nachdem diese Angelegenheit erledigt war,
spendete ich das Mitgebrachte. Eine Tasse mit der Berolina
darauf war ihr genehm, desgleichen eine Medaille zur Erinnerung
an die Ausstellung; der Briefbeschwerer fand dagegen
weniger ihren Beifall, obgleich sie nichts sagte.
»Es ist das Neueste in Nippsachen,« pries ich ihn an.
»O nein!« wehrte sie ab. »Viedt's haben gerade solchen
in ihrem Laden und können ihn nicht los werden; von ihrem
Lieferanten in Berlin, zur Probe. Es ist, mit Erlaubniß zu
sagen, ein Reise-Taschenstiefelknecht.«
Zum Glück kam das Mädchen und meldete, die Post
ginge gleich. Tante Lina hatte das Geschenk sichtlich übel
genommen und wer weiß, ob ich sie herumgekriegt hätte,
wäre ich ihr gleich zu Anfang mit den Spenden gekommen.
Guter Wille zieht nur dann, wenn er mit guter Laune
zusammentrifft.

176

Es kommt zum Klappen.
Es war mir eine wahre Wohlthat, von Tante Lina ab,
wieder nach Berlin hin zu streben, obgleich ich mich auf den
nächsten Tag gefaßt gemacht und das Erforderliche mitgenommen
hatte. An einem so wenig bleibwürdigen Platze
sich länger als gezwungen aufzuhalten, rechne ich zu den
Vergeltungen der Vorsehung, die man für bereits grasbewachsene
Thaten aufgebrummt kriegt, — vielleicht daß man
mal zu heftig gewesen ist oder Nebenmenschen es besorgt
hat — mit Ausnahme der Krausen — oder was sonst nicht
mehr zu ändern war, aber doch noch zu Buch steht. Gut,
daß ich nichts auf dem Kerbholz hatte und mit der Post den
Anschluß erreichte. Und Kriehberg sollen die Heirathsgedanken
schon vergehen, wenn der Weg zum Traualtar nicht
mit Markstücken gepflastert ist, wie er sich einbildet. Liebt er
Ottilie wirklich und will er sie aufrichtig glücklich machen,
giebt er ihr das Jawort zurück.
Und wie nette Reisegefährten traf ich in der Bahn. Das
waren Leute, die sich auf den Besuch der Ausstellung freuten,
weil sie schöne und bildende Beschreibungen darüber gelesen
hatten, nicht die übliche Schlechtmacherei von Schreibmenschen,
die nur herunterreißen, weil das Aufbauen so seine Mucken
hat. Wer nie backt und braut, dem mißräth allerdings auch
nichts. Und Fehler — wo ist völlig Vollkommenes? Man muß
das Mangelhafte von dem Gelungenen absubtrahiren und
das Gute gehörig zusammenaddiren und dabei berücksichtigen,
177
daß Jeder seinen Privatgeschmack hat, dann ergiebt sich das
richtige Exempel.
Sie fragten mehr, als ich beantworten konnte und ob es
nicht doch zu stark ins Geld ginge, wenn man Alles mitnehmen
wollte.
Ich sagte: »Berechnen Sie die Summen, wenn Sie nach
Kamerun reisen müßten, um Wilde und ihre Dörfer zu beaugenscheinigen,
oder nach Kairo oder nach Spitzbergen, wo die
Eisbären sich Gutenacht sagen, oder nach dem Zillerthal, und
wo giebt es Rundreisebillets in die Vergangenheit, da doch
Alt-Berlin aufgebaut wurde, wie es nach dem dreißigjährigen
Kriege erbärmlich war und noch keine Ahnung hatte, wie
es nach Einundsiebzig anschwellen würde.
Da flögen so viele blaue Scheine als jetzt Pfennige.
Und die ganze große Gewerbe-Ausstellung haben Sie als
Beilage, nebst Musik und Beleuchtungseffekten, Gartenanlagen
und Dod und Deibel.«
So verursachte ein Wort das andere und auch wegen
der Verköstigung fragten sie, und ob in der Fischhalle an einem
Sonntag wirklich über hundert Zentner Seefische vermöbelt
worden wären?
»Gewogen hab' ich sie nicht,« war meine Antwort, »aber
es wird schon so sein, es stand ja in den Zeitungen an der
Stelle, wo sie das Glaubhafte hindrucken. Ueberhaupt, versäumen
Sie die Fischerei nicht, da schwimmen Regenbogenforellen
und die seltensten Fische, vom einfachen Steckerling
bis zum Caviar lebendig herum und Hummer in unreifem
Zustande, noch ganz blaugrün und junge Fische werden ausgebrütet
und als Gegensatz zur Kinderbrutanstalt ist eine
Krebswochenstube da, an der man nichts sieht als Drainröhren,
die aber höchst naturhistorisch ist, wenn gerade einer
von den Amphibienräthen Zeit hat und die Erklärung dazu
leistet. Und wenn man sich satt gesehen hat, kann man sich
an Fischen satt essen, die große Portion dreißig Pfennige ohne
Kellnerschmuhgroschen; mit: vierzig.«
»Da gehen wir hin,« hieß es. »Ich lasse mir zweimal
geben,« sagte ein langer Magerer, »das ist ja enorm billig.«
»In der Volksernährung kriegt man es noch umsonster,«
unterstützte ich seine guten Absichten, »und in der vegetarischen
Eßanstalt bekommen Sie für zwanzig Pfennige ein Gericht
178
saure Linsen, daß sie Ihnen schon aus den Ohren heraustrudeln,
ehe Sie den letzten Löffel voll hinter haben.«
Dies erheiterte sie und warum soll man sich nicht scherzhaft
geben in aufthauender Gesellschaft, obgleich die Vornehmheit
verlangt, sich im Coupé wie eine beschäftigungslose
Padde zu verhalten?
Mit Wohnung waren sie schon versorgt, indem sie sich
an Stangen gewandt hatten, der Zimmer massenweise an der
Hand hat. »Viele schlüpfen bei Bekanntschaften unter,« sagte
ich. — »Das würde doch wohl lästig,« meinte eine Dame. —
Ich seufzte.
»Haben Sie Erfahrungen darin?« fragte die Dame
weiter. »Die kommen noch,« entgegnete ich und dachte an
das Huhn, das ich mit Ungermann zu pflücken hatte. Was
sage ich Huhn? Mindestens einen Auerhahn. Und für sie,
die Ungermann, setzt es auch was; zunächst um ihren neuen
Hut. Wie ein Schlittenpferd. Es werden schon Federn
fliegen.
Je mehr wir in nächtliche Dunkelheit geriethen, um so
dämmeriger wurde auch die Unterhaltung, die sich zuletzt
darauf beschränkte, daß die Herren uns ihre Zigarren vorrauchten.
Was es für Unkraut war, kann ich nicht sagen,
aber sie selbst öffneten von Zeit zu Zeit die Fenster, um nicht
zu ersticken. Ich schätzte es auf eine Art von Mottentod.
Dank der Unermüdlichkeit der Lokomotive kamen wir
Berlin immer näher und als sie noch lange nicht pfiff, holte
jeder sein Handgepäck heran und belästigte sich und die Nachbarn.
Aber das ist einmal so in dem Verlangen begründet,
rascher anzukommen, wie man ja auch lebensgefährlich dicht
an den Schienen dem Zug entgegensieht, damit er sich eilt,
wenn man mit will.
Wir wünschten uns gegenseitig viel Vergnügen und
waren auseinander, als die Thür kaum offen stand. Ich sah
weiter kein Vergnügen vor mir, als meinen Karl zu überraschen,
da ich erst Morgen erwartet wurde.
Ich hinein in eine Droschke und los. Es war bereits
gegen Mitternacht, aber in der Lindengegend und in den
Hauptstraßen noch ein Treiben wie bei Tage, die Cafés und
Bierpaläste im hellsten Lichte und auch noch Läden geöffnet.
In der Provinz liegen sie schon zum zweiten Male auf der
179
rechten Seite, dachte ich, und stärken sich mit gesundem
Schlaf und drehen sich bald zum dritten Male im Bewußtsein
höherer Solidität. Aber wer bildet das nächtliche
Publikum in Berlin? Die Fremden. Und wo sind die
her? Aus der Provinz. Wenn sie zu Hause so schwudderten?
Ei weih!
Na, Ungermann wird sich über sein Abgangszeugniß aus
der Residenz freuen.
Der Kutscher schien mich für außerhalbsch zu halten, indem
er mit seinem Zossen auf Zeitfahrt losbummelte, bis ich
ihm zurief: »Geben Sie dem ollen Asphaltschoner mal'n
bisken langen Haber, er tritt sich ja auf die eigenen Hacken.«
Der Droschkenlenker hielt an und wandte sich um. »Det
Ferd,« sagte er und deutete mit der Peitsche auf das Fell voll
Knochen, »det war früher Rennpferd, der braucht keenen
Dreschflegel. Im übrigen is er nu jlücklich so weit umdressirt,
det er allens dhut, wat er will.«

»Na, wat will er denn?« erwiderte ich im Volkstone.
»Nach'n Stall will er.«
»Also dalli!«
»Nee, nu nich, weil et seine contrair entjejenjesetzte Richtung
is. Se sollten blos nach'n Wedding jewollt haben, da
hätten Se'n kennen jelernt; uff'n Nachhauseweg schlägt er
180
jeden elektrischen Strom um mehrere Nasenlängen. Hü!
Schimmel.«
Obgleich der jetzt folgende Galopp nicht rascher ging
als der bisherige Schritt, erhob es mich sehr, wie die modernen
Kulturerrungenschaften allmählich in der Bevölkerungsdenkweise
Wurzel schlagen, während doch feststeht, daß die
Griechen Elektricität und Telephon und Photographie und
Hygiene nicht einmal dem Namen nach hatten. So frißt
die Bildung sich immer weiter in die Massen und greift die
Aufklärung um sich, wozu Ausstellungen schichtenweise beitragen,
je nachdem Volks- oder Elite-Tage sind. Elite ist
theurer, sonst ganz dasselbe. Ein großes Jahrhundert, worin
wir leben.
Als wir die Landsbergerstraße gewonnen hatten, war
das Haus duster. »Alle in der Bucht,« sagte ich mit innerlicher
Zufriedenheit, gab dem Droschkong einen Uebernickel
für das Roß und gedachte durch die Fabrik oben zu gehen,
meinen Karl zu interwieven ohne zu stören, und mein Gemach
aufzusuchen, wo Ottilie wahrscheinlich nach Schlaf
schmachtete. Ich konnte ihr Beruhigung bringen, die gesünder
hilft als Morphium oder sonst was, wonach man noch
kränker wird.
Aber mein Schreck, als ich das Hausthor unverschlossen
fand. »Ungermann,« war mein erster Gedanke, mein zweiter
»wo ist der Schutzmann als Sicherheitswächter?« Ich sah
die Straße lang, kein Helm zu entdecken, nichts als die langsam
abzuckelnde Klapperkiste mit dem verkehrsmüden Wettklepper
a. D.
Ob ich mich hineinwagte? Wenn ein Mörder auf der
Treppe lauerte? Oder blos ein Pennbruder, auf den ich im
Dunkeln trat? Das ist schon schauderhaft. Ob ich schrie?
Nein. Listig vorwärts, ganz leise. Dann über den
Hof. Der Hausschlüssel paßt zur Fabrik. Hinauf getastet bis
an meines Karls Thür. Ich horchte. Keinerlei Schnarchung.
»Schläfst Du, mein Karl!« rief ich halblaut. »Erschrecke
nicht, ich bin es, Deine Wilhelmine, Deine treue Gattin.
Tante Lina läßt grüßen.«
Keine Antwort. Ich klopfte an. »Es brennt nicht,«
rief ich, »es ist auch nicht eingebrochen. Mach' auf, mein
Karl.«
181
Er rührte sich nicht.
»Karl, mach' auf!«
Ich klopfte stärker. »Karl, wenn Du nicht aufmachst,
werde ich böse. Sehr böse; verstehst Du mich?«
Ich holte mein Schlüsselbund hervor, aber erst der letzte
ging hinein. Und der schloß nicht. Nach einigen vergeblichen
Versuchen brach er ab. Da mein Karl nicht von dem Geräusch
aufwachte, mußte er abwesend sein. Aber wo?
Natürlich im Berliner Zimmer.
Auf dem dunklen Gange nach der Wohnung stieß ich
gegen Weiches, daß mir das Blut in den Adern stockte. Es
krabbelte jedoch nicht in die Höhe, sondern fühlte sich als
Waarenballen heraus. Aha, Ungermann's Bestellung. Ganz
hübscher Posten, aber es könnte mehr sein. Die Zwischenthür
war eingeklinkt und in der Küche noch Licht; die oberen
matten Scheiben waren hell. Ich und eintreten war eins.

Die Dorette kriesch auf; ich sagte blos »Ha!«. Der Schutzmann
aber strammte sich kerzengerade hin und salutirte.
Dorette suchte die Lampe auszublasen, unsere Tischlampe, jedoch
zu spät, ich hatte genug gesehen. Aufgedeckt war, mit
182
Brot und Butter und kaltem Braten und Wein von dem
Sonntags-Lafitte und Käse und ein Hafen Kompott und die
Cognacflasche und was sonst gut und genießbar war.
»Wo ist der Herr?« fragte ich strenge.
»Aus.«
»Und das Hausthor steht offen? Nennen Sie das Bewachung,
Schutzmann?«
»Ick habe heute keenen Dienst!« entgegnete er.
»Er ist ja mein Breitijam,« sagte Dorette, »un als
solcher hat er doch seine Pflichten. Warum ooch kommt die
Frau so unprezise retour?«
»Um zu sehen, was während meiner Abwesenheit vorgeht.
Wir reden morgen weiter. Und der Bräutigam ist
hoffentlich satt und kann gehen.«
Er schnallte sein Seitengewehr um. »Leuchten Sie ihm,
Dorette, und schließen Sie das Haus.« Ich nahm die Lampe
und den Cognac an mich. Es hatte tüchtig geschafft.
Weinend ging Dorette voran. Sie fühlte sich schuldbeladen.
Angemessene Verpflegung war ihr gestattet, aber
keine Orgien. Und mit Lafitte fangen Orgien an!
Also mein Karl war aus. Recht heiter!
Nun zu Ottilien.
»Sei froh, Kind,« rief ich beim Eintritt, »auf Regen folgt
Sonnenschein, ich bring' ihn mit für Dich.«
Keine Antwort. Ich leuchte hin: Ottiliens Bett war
unberührt. Sie wird sich wohl alleine geängstigt haben und
nächtigt bei der Kliebisch. — Ich hin nach dem Vorderzimmer
und klopfe an. Kein Ton.
Dies war mir sonderbar. Alle miteinander aus? Nein,
auf dem Sopha lag Anna Kliebisch und sägte schaudervoll.
Das ist wahr, schlafen hat sie heraus. Selbst bei Tage,
wenn sie so dasitzt, möchte man ihr immer zurufen: »Gute
Nacht, Anna.« Doch ein bischen zu sehre Drömlade, das
Kind.
Nach verschiedenen Mißerfolgen rüttelte ich sie endlich
lebendig; sie plierte mich glasäugig an, sagte nichts und
schlief wieder ein.
Dies war mir zu dumm. Ich sie gehörig geschüttelt, bis
sie endlich wieder zu sich kommt. Aber nicht viel mehr als
vorhin.
183
»Wo ist Mama?« fragte ich.
»Wo Mama ist?« wiederholte sie traumig und nickte
wieder ein.
»Anna, werde doch munter. Wo Mama ist?« frage ich.
»Im Bett.«
»Unsinn, da ist sie nicht. Wo ist sie? Und wo ist
Ottilie?«
»Im Bett.«
»O Du Demel,« brach ich aus. »Du bist doch'n lieben
Gott sein größtes Bähschaf. Dussele weiter und vergiß
morgen blos das Aufwachen nicht.«
Mir blieb als letzter Anker der Vernunft nur noch die
Ungermann. Die war aber auch nicht vorhanden, im Gegentheil
komplet abwesend mitsammt Schloßkorb und Schachteln.
Ab nach Kassel. Ihre Sachen standen noch da.
Ich war wie erschossen. Knieewankend setzte ich mich.
Was war geschehen? Kein Mensch im Hause als das unzurechnungsfähige
Schlafkind und Dorette. Da kam sie gerade
wieder herauf.
»Dorette,« rief ich, »hier herein ins Berliner Zimmer
und nun nicht länger gewimmert, sondern ohne Mogeln erzählt,
was vorgefallen ist. Erstens die Ungermann?«
»Die hat sich verzogen mit'n Mittagszug. Un Trinkjeld
hat se nich jejeben. Det haak ihr jleich anjeahnt, als se
kam. Det war eene von de Billijen.«
»Gut. Und zweitens die Frau Kliebisch?«
»Die kommt bis spätestens übermorjen retour.«
»Von wo?«
»Det hat se nich jesagt. Et war ja jroßer Ufstand,
wie der junge Herr heut Nachmittag kam un er sagte:
Ottilie, ick lasse Dir nich, un sie sagte nein, nein, ick derf
nich, ick wollte, ick wäre bejraben oder so. Jenau konnt ick't
nich verstehn...«
»Also wieder an der Thür gehorcht. Und was sagte
Herr Kriehberg?«
»Der? Der sagte jarnischt.«
»Der mußte doch wieder antworten.«
»Nee, det konnt er nich. Der war ja jarnich da.«
»Der nicht? Welcher junge Herr dann?«
»Jotte doch, der mit die braunen Plüschoogen. Ach hat
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der 'n Blick an'n Leibe! Wenn ick nich so derbe verlobt
wäre, in den könnt ick mir verkieken.«
»Dorette, bleiben Sie sachlich. Also Herr Brauns war
hier und sich Ottilien erklärt und sie ihn abgewiesen...«
»Se hat schrecklich jebarmt.«
»Und er weggerannt?«
»Na ja, wat man so langsam wegrennen nennt. Aber
doch erst später, un wat die Kliebischen is, mit ihn.«
»Unsinn! Und Ottilie blieb zurück?«
»Die war janz verdreht. Se lachte und dann weente
se, un mir fiel se um den Hals un küßte mir un sagte, Dorette
sagte se, es kann nich sind un es ist doch; so oder so ähnlich.
Wat Verrückte sagen, det is schwer zu behalten.«
»Und was that mein Mann... was that der Herr
dabei?«
»Die Herren waren schon vor Mittag nach Treptow
rausjemacht. Un ick alleene blos mit die Anna; die hab' ick
Abendbrot jejeben un da ward se müde. Un wenn mein
Breitijam nicht antrat, ick hätte mir zu Tode jeforchten. Nee,
hier in'n Hause is et nich mehr scheen.«
»Darüber habe ich zu urtheilen, ich ganz allein. Verstanden?
Und wenn Ottilie sich ein Leid angethan hat,
kommen Sie vor den Richter.«
»Och Jotte nee!«
»Nicht heulen. Dazu ist Zeit, wenn Sie im Loch sitzen.
Geben Sie Acht, was Ihnen blüht. Warum haben Sie
nicht aufgepaßt?«
»Se war ja nachher janz vernünftig, blos mit eenmal
weg un nich zu finden!«
»Und Sie suchen nicht? Und Ihr Schutzmann läuft
nicht hinterher und setzt die Polizei in Bewegung? Und
schwemmen ihn mit Lafitte an? Den zieh ich Ihnen vom
Lohn ab.«
»Et war ja keen Anderer da.«
»Wozu ist denn die Wasserleitung?«
»Da jeht keen Schutzmann ran.«
Ich sprang auf. »Kommen Sie, wir wollen suchen, ob
Ottilie nichts Schriftliches hinterlassen hat, keinen Abschiedszettel
oder irgend ein Zeichen.«
So viel wir auch stöberten. Nichts. Nichts und nirgends.
185
»Am Ende hat sie die Anna Kliebischen wat anvertraut,
ick jloobe sojar, se sagte, vergiß es nich oder Vergißmeinnich
oder so, wie man so bei's letzte Lebewohl sagt.«
»Die weiß von sich selber nichts, viel weniger von
Ottilie.«
»Det kann wohl sind. Se saß da so misepeterig und da
sagte mein Breitijam, en Grogh würd' ihr wohl nich schaden,
da kriegte se de richtige Bettschwere nach un wäre unter de
Füsse aus.«
»Und Sie folgten dem bodenlosen Vorschlag und machten
dem Kinde einen Grogh?«
»Zwee.«
»Von Cognac? Aber Dorette, waren Sie denn gänzlich...?«
»Ick sage ja, et is hier nich mehr scheen in'n Hause.«
Was nützte es? Aus dem Kinde war nichts herauszubringen,
das hatte ich eben vergebens versucht und was
Dorette erzählte, war so klar verwickelt, daß ich klug blieb
wie zuvor. Wenn nur Ottilie nicht zu Wasser gegangen
war? Das wäre grauenvoll. Aber was ging die Kliebisch
mit Herrn Brauns von dannen? Und Ottilie hatte
ihr Handköfferchen mitgenommen. Man ertränkt sich doch
nicht mit Gepäck? Wohin konnte sie geflohen sein und
warum?
Wir sahen nochmal nach. Auch ihre Brennscheere war
weg und ihr Morgenanzug und ihr Regenmantel. Nein,
nasse Absichten hatte sie nicht gehabt.
»Dorette,« sagte ich, »selbst wenn Alles gut abläuft, einen
anderen Dienst werden Sie sich suchen. Das sehen Sie
hoffentlich selber ein?«
»Bis zu'n Frühjahr. Dann wollten wir Hochzeit machen,
et kann sind, ooch ehr. Warum soll ick mir vorher verändern?
Det wird die Frau mir doch nich anmuthen sind bei
die ville Arbeed mit 'n Besuch? Die Frau is ja so jut.«
Sie weinte so reuevoll, daß ich sagte: »Es hängt von
Ihrem ferneren Betragen ab. Gehn Sie zu Bett, Dorette.«
Ich setzte mich wartend in's Berliner Zimmer im Reiseanzug,
innerlich und auswendig aufgelöst. Waren das Zustände.
Kaum wendet man den Rücken und die Welt geht unter.
Und mein Karl, gerade da er nothwendig nicht weichen
durfte, macht blau. Ob ich hinüber ging nach Betti, ihr mein Herz
186
auszuschütten? Ich kannte ihr Mitgefühl im Voraus: »Mama,
warum hast Du das Hotel eingerichtet?«
Endlich kam etwas die Treppe heraufgepoltert und in
die Wohnung herein. Ich richtete meine Blicke fest auf
die Thür.
Sie lachten draußen. »Wir heben noch Einen,« sagte
jemand, »Ihr Cognac ist gut.« — Das war Kliebisch's
Stimme.
»Mir recht.« Das war mein Karl.
»Nur um mich nicht auszuschließen,« sagte der Dritte.
Das war Ungermann.
Und herein kamen sie. Und mein Mann, meine Unschuld
von Mann schwankend zwischen Kliebisch und Ungermann.
Ich erhob mich. »Meine Herren!« sagte ich. Weiter
nichts. Aber der Schreck.
»Du hier, Wilhelmine?«
»Wie Du siehst! Ich will nicht fragen, wo Du warst,
ich will es nicht wissen. Dein Zustand verräth genug. Ich
danke Ihnen, meine Herren, namentlich Ihnen, Herr Ungermann,
daß Sie als künftiger Stadtvater so väterlich für
meinen Mann gesorgt Und ihn auf Ihre Studienfahrten mitgenommen
haben, während ich weg war.«
Ungermann verfärbte sich. »Wir waren ein bischen
vergnügt, zum Schluß... weil ich morgen abreise,«
stammelte er.
»Dummes Zeug, Du bleibst,« sagte mein Karl.
»Herr Ungermann reist,« entschied ich, »Du hörst, er will
es. Und Sie, Herr Kliebisch, Sie als mehrfacher Familienvater,
helfen meinen Mann verführen? Das hätte ich nicht
erwartet. Und zu trinken giebt es nichts mehr.« Ich nahm
die Flasche und schloß sie ein.
»Aber Mienchen, es war so schön auf der Ausstellung.«
»Die ist längst aus.«
»Ich habe mit Ungermann Brüderschaft getrunken und
wir wollen noch fidel sein. Komm, Mienchen, sei mit lustig.«
»Wie könnte ich das? Ottilie liegt vermuthlich tief in
der Spree, und Frau Kliebisch ist mit dem jungen Brauns
durchgegangen.«
»Was ist das?«
187
Ein Sturzbad konnte nicht eisiger wirken als meine Worte,
und als ich ihnen tropfenweise mitgetheilt hatte, was ich
für sie geeignet hielt, war ihre Antäubung so gut wie verflogen.
»Vorläufig läßt sich nichts beginnen,« sagte ich, »die
Einzige, die etwas weiß, die Anna, ist nicht vernehmungsfähig.«
»Der Schmerz über die Mutter,« stöhnte Kliebisch.
»Sie muß ihn erst ausschlafen,« versetzte ich ihm. »Und
nun gute Nacht, meine Herren. Komm, Karl, Du gehst mit
mir, ich habe Dir noch sehr viel mitzutheilen.«
»Ich schlafe doch in der Fabrik.«
»Heute nicht, Du kannst nicht in Dein Zimmer, der
Schlüssel ist abgedreht. Komm nur.«
Ein zerknirschteres zu Bett schleichen habe ich noch nie
erlebt. Aber in dem Taumelbecher der Freude ist der Rest
Bärme. Das mögen die Herren bedenken, wenn sie nicht
nach Hause finden können.

188

Alt-Berlin.
Als ich zum ersten Male Alt-Berlin betrat, wurde mir
ganz nachtwandlerisch. Das war vor der Baumblüthe zur
Bauzeit mit der Gestattung, die werdenden Herrlichkeiten im
Voraus zu besichtigen. Die Stadt stand schon. Eine ganze
Stadt mit Straßen und Plätzen, einer Kirche, einem Rathhause,
mit Festungswällen, Thürmen und Thoren, Brücken,
Gäßchen, Ecken und Winkeln, eine Stadt aus vergangener
Zeit. Berlin vor dreihundert Jahren, ebenso klein, armselig
und gering.
Photographieen von damals sind nicht vorhanden, weil
sie noch kein Collodium hatten und Zeichnungen und Gemälde
wegen Mangels illustrirter Zeitungen ebenfalls nicht,
so daß die Phantasie aufbauen mußte, was die Zeit langsam
und die Menschen gewaltsam zerstörten. Aber alle sagen
sie, gerade so hätte Berlin um's Jahr 1650 ausgesehen,
und wenn Kliebisch meint, es wäre mehr ein Abguß von
Kottbus und Angermünde, muß er erst beweisen, was er
sagt. — Für mich ist es Berlin, schon allein, weil richtige
vorzeitliche Thran-Latichten an den Tauen über den Straßen
hängen.
189
Als ich im Maien-Sonnenschein durch die Stadt schritt
— ganz allein — vergaß ich völlig, wo ich war. So still
die Straßen, daß ich mich besinnen mußte, ob wirklich schon
Pferdebahnen erfunden seien und ob die Stadtbahn, auf der
ich vor kaum einer halben Stunde nach Treptow toste, nicht
ein Spiel meiner Einbildung gewesen wäre. Wohin waren
die Menschen verschwunden, die hier wohnten? Ausgewandert?
Verjagt? Verstorben?
Dies war Vergangenheit, ich konnte sie mit der Hand
berühren: das alte Gemäuer, die Balken und Pfosten und
durch grüne Scheiben hineinsehen in niedrige Stuben, und
Käfterchen. Die standen alle leer.
In solchen Räumen hatte einst Glück gewohnt und über
solche Schwellen war einst Unglück geschritten, daß aus dem
fröhlichen Heute ein trauriges Morgen wurde, bis es wieder
weichen mußte in ruhelosem Wechsel. Denn in den Häusern
lebten Menschen.
An den Schildern ließ sich erkennen, welcherlei Gewerbe
getrieben wurden. Es muß eine recht unsolide liederliche Stadt
gewesen sein, das alte Berlin, so viel Schänken, Wirthshäuser
und Trinkstätten entdeckte ich. Selbst das Rathhaus war ausschließlich
auf Getränk eingerichtet. Die Mittagssonne schien
lustig auf die Weinhauskränze und in die Biergärten, in
denen jedoch Niemand saß. Es war spukhaft am hellen Tage.
Und doch so traulich und wehmüthig, wie eine vergessene
Schachtel Spielzeug aus den Kindertagen.
Ich schritt langsam durch die Straßen: überall die
gleiche Verlassenheit. »Du träumst, Wilhelmine,« sagte ich
zu mir. »Gleich fällst Du irgendwie und wachst auf.«
Endlich gewahrte ich einen Menschen. Es war ein
junger Mann auf einer Leiter mit Pinseln und Farbtöpfen;
der malte an einem alten Dache.
»Sie!« rief ich, »ach sind Sie doch so gut und sagen Sie
mir, wo bin ich eigentlich?«
»In der Bolings-Gasse,« antwortete er.
»Hab' ich nie von gehört! 'Ne neue Straße?«
»Nee, uralt. Schon längst vom Erdboden verwischt.«
Er kam herunter in seinem langen Leinenkittel und musterte
das Dach aus der Entfernung.
»Es hat wohl durchgeregnet?« fragte ich.
190
»Nee, vorläufig nicht. Wie finden Sie das Moos?«
»Welches Moos?«
»Na, das ich da eben hingemalt habe. Wirklich eminent
echt, was? Feines Grün? Wie?«
»Ach so. Danke Ihnen. Nun weiß ich wieder Bescheid.
Ich meinte aber wirklich, ich wäre in vergangenen
Jahrhunderten.«
»Machen wir; blos mit Farbe. Das Uebrige ist Holz,
Leinewand und Gips. Wenn Sie's interessirt, zeig ich's
Ihnen.«
Er führte mich zu Halbfertigem, wo die Papp-Neubauten
aussahen, als wenn sie kaum den Sommer über
halten würden. So wie aber Farbe darauf sitzt, schwört
man, sie hätten vom Großen Kurfürsten an gestanden. Darüber
sprach ich meine Verwunderung aus.
»Machen wir,« sagte er. »Ich habe einen diebischen
Spaß daran, Alles zu fingern, als wäre es leibhaftig. Man
lebt sich ordentlich hinein.«
»Sie sind wirklich ein Künstler!«
Er lächelte, aber es war ein bitteres Lächeln. »Das
sagen Sie,« sprach er, »meine Kollegen denken anders.«
»Haben denn die das Moos gesehen?«
»Mehr als das. Ich habe fleißig studirt, bin auf
der Akademie mit Preisen ausgezeichnet, ich habe Bilder
gemalt...«
»Und jetzt streichen Sie Häuser an?«
»Was bleibt mir? In der Kunst-Ausstellung hat man
für meine Arbeiten keinen Platz. Da hängen sie allen möglichen
Schmierkram aus Frankreich und Belgien, Holland und
wer weiß sonst noch von wo her an die Wände, bis das
Lokal vollgestopft ist und sagen zum Deutschen: Du kommst
bei internationalen Bestrebungen an den Katzentisch oder
bleibst besser ganz zurück. Ja, wenn die Ausländer blos
Meisterwerke schickten, gut, dann hat die Kunst den Oberbefehl.
Aber wenn sie ihren Abhub mit einpacken, begreift
man nicht, warum unsereins verzichten muß, dem Publikum
seine Leistungen vor Augen zu führen, die es mit den
Fremden dreimal aufnehmen. Und wo ist sonst Gelegenheit, an
das Urtheil des Publikums zu appelliren als auf den großen
Ausstellungen? Die Akademie wird vom Staate erhalten,
191
hat man sie durchgemacht und will vorwärts, heißt es, die
staatlich begünstigte Ausstellung bedauert, keine Ecke für Dich
zu haben, nicht die kleinste. Dagegen nehmen sie Schinken,
die ein verrückter Norweger sudelt, auf, weil... weil so
was international ist. Darum male ich jetzt Dachpfannen
und Moos und quaste Mauern an und verdiene damit. Ich
geh' überhaupt zum Handwerk; von Kunstgenossen, die nicht
mehr können, als ich, mich bevormunden zu lassen, bin ich
zu stolz.«
Ich sagte: »Jeder muß wissen, was er thut; und das
ist wahr, an tüchtigen Professionisten fehlt es. Wenn Sie
sich gesetzt haben, schicken Sie mir Ihre Geschäftskarte, unsere
Malerarbeit bekommen Sie.«
»Nein,« rief er, »so meine ich es nicht. Ich widme mich
dem Kunsthandwerk. Früher ersann jeder Handwerker sich
seine Muster selbst. Heute ahmen sie nach, was vorhanden
ist. Ich will Neues schaffen. Und ich kann es, habe ich doch
im Geiste der alten Zeit ohne Muster jetzt gearbeitet und
meine Schaffenskraft erkannt. Im Geiste der Neuzeit ersinne
und zeichne ich weiter. Machen wir.«
Darauf zeigte er mir Verzierungen und Geranke, Beschläge
und vielerlei, was er erfunden und gemalt. »Es
lebe Alt-Berlin,« rief er, als er sah, wie ich mich daran ergötzte,
»von ihm aus geht mein Lebensweg.«
»Vom Fischerdorf zur Kaiserstadt,« fiel ich ein, »nur Muth
und Selbstvertrauen.«
»Und Arbeit und Gelegenheit zur Entfaltung des
Könnens. Das Handwerk ist heute freier als die Kunst, die
sich in Mode und Klickenwesen enge Zunftschranken zieht. Und
verhungern, weil einige Leithämmel zur Veränderung sich auf
dürre Haide verrannt haben? Danke. Ich will leben und
verdienen. Und das machen wir.«
»Sehr vernünftig,« sagte ich. »Gut, wenn junge Leute
zur Einsicht kommen; alten nützt sie meist nichts mehr.«
Er erklärte mir noch manches Alterthümliche, wie das
Rathhaus und die Gerichtslaube mit dem Block und dem
Halseisen. Da mußten die Verbrecher zu ihrer eigenen
Schande stehen und wurden von den anständigen Bürgern
ausgenetscht und mit faulen Eiern beworfen. Wenn Weiber
sich gescholten und gehauen hatten, hing der Büttel ihnen
192
einen Stein um den Hals und band sie aneinander und jede
bekam einen Stock, in den vorne ein spitzer Nagel eingeschlagen
war. Damit mußten sie sich gegenseitig prickeln,
was umso besser ging, als sie blos ein Hemd anhatten. Bei
besonderen Fällen wurde Hornmusik dazu geblasen. Das
muß ein Spaß zumal für die Kinderwelt gewesen sein, die
sich in ihrer Unschuld selbst an Schrecklichem freut. Gottlob,
daß solche Strafen abgeschafft worden sind, obgleich es
einige giebt, den das Prickeln nicht schadete. Wenn zum
Beispiel die Krausen und die Ungermann in damaliger Zeit
gelebt hätten, welche der andern wohl mit dem Nagel über
gewesen wäre? Der Zunge nach zu rechnen, die Krausen.
Aber sehen möchte ich es doch nicht. Lieber wäre mir ein
Hochzeitstag auf der Straße. Der Maler sagte, später würden
Alt-Berliner in ihren Trachten die Stadt bevölkern.
Nach und nach kamen Bauleute, Maurer, Zimmerer
und mancherlei Arbeiter, denn die Mittagszeit war um. Ich
bedankte mich bei dem Dachpfannen-Rafael, der weiter auf alt
malte, und schritt durch das Spandauer Thor und über die
Brücke in den Ausstellungspark.
Wie traumhaft war die Stunde in Alt-Berlin gewesen.
Die bleibt der Erinnerung. —
Und nun hatten wir einen Familienabend nach Alt-Berlin
verabredet, nämlich mein Karl und ich und der Amtsrichter
Buchholz, der mit Verlegung seines Urlaubs unser
lieber Gast war, nachdem Ungermann's sich verduftet und
Kliebisch's sich auf ihre Klietsche zurückgezogen hatten.
Ungermann's Abgang war höchstes Gebot. Mein Karl
kennt wohl Kopfschmerzen aus früherer Zeit, aber solche
wie am Morgen nach dem Brüderschaftpicheln mit Ungermann
hatte er in seinem Leben nicht erlebt. Ihm saßen die
Augen noch am Nachmittag schief und sein Appetit war
einzig auf Selterwasser gerichtet. Dabei Neigung zu horizontaler
Lagerung. O Karl, warst Du krank!
Kliebisch war auch vollgesogen genug, jedoch die Unruhe
wegen seiner Gattin störte ihn verhältnißmäßig rechtzeitig
auf. »Noch keine Nachricht von meiner Frau?« fragte
er bekümmert. — »Nein,« entgegnete ich, »und ein Glück,
daß sie weg ist. Betrachten Sie blos Ihr Spiegelbild, Herr
Kliebisch, und sagen Sie, ob eine Frau Wohlgefallen an
193
solchem Portrait finden würde? Wo in aller Welt sind Sie
gewesen?«
»Ausstellung,« brachte er hervor. »Dressel... Alt-Berlin.« —
»Sonst nirgends?« — Er seufzte leidend. — Ich schenkte
ihm Kaffee ein. Den trank er. Brötchen interessirten ihn
nicht. Dann fragte und klagte er wieder nach seiner Frau.
»Ich denke, Ihre Tochter wird ihre sieben Sinne allmählich
so weit beisammen haben, daß sie Auskunft geben
kann,« sagte ich. »Heute Nacht war sie übermüde. — Die
Mutter wird ihr Kind doch nicht ohne Abschied verlassen
haben?«
»Eine Mutter, die durchgeht, nimmt keine Rücksichten.
Keine!« rief er bitter. »Berlin ist ein schrecklicher Ort,
überall Verführung.«
»Das müssen Sie selbst am besten wissen,« warf ich ihm
kühl vor. »Meinen Mann so zuzurichten. Schämen Sie sich.«
»Oho! Buchholz war der Fidelste; nicht nach Hause zu
kriegen. Wenn ein Mann einmal seine langentbehrte Freiheit
genießen kann...«
»Was? Sie wollen meinen Mann herabsetzen, Unfrieden
stiften, Eheglück ruiniren? Glauben Sie, das mit einem Sack
Kartoffeln gut machen zu können? Doch bei mir nicht?«
Die Anlappung verschüchterte ihn. — »Hätte er eine Ahnung
gehabt, daß er lästig fiele, wäre er garnicht gekommen,« sagte
er mucksch, »und das Beste wäre wohl, er ginge gleich.«
Ich entgegnete, ich allein könnte nicht ab- noch zureden,
in unserem Hause hätte mein Mann die Oberleitung, der
wäre vollkommen frei in seinem Willen, augenblicklich jedoch
zu unwohl, um gefragt zu werden.
»Gut,« sagte er, »ich gehe mit meinem Kinde.« — Ich
schwieg.
Er hin und Anna'chen geweckt und es gehetzt, sich reisefertig
anzuziehen. Jedoch dies Packen konnte ich nicht mit
ansehen, das war purer Kuddelmuddel, weshalb ich helfend
eingriff. Die Kleine war noch schlafhaft. »Anna,« fragte ich,
»hat Mama Dir nichts gesagt, als sie ging?« — »Nein.«
»Auch Ottilie nicht?« — »Nein.« — »Besinne Dich doch.« —
»Ja, einen Brief gab sie mir.« — »Wohin hast Du den gelegt?
194
Auf den Tisch?« — Das wußte sie nicht. — »Unter's
Kopfkissen?« — »Ich glaube.«
Wir suchten. Kein Brief zu finden. »Hat Mama Dir
wirklich nichts an mich aufgetragen?« — »Mama meinte,
Ottilie würde Alles schreiben, ich behielte es wohl nicht
richtig.«
»Sie kennt Dich, scheint's. Kind, einen Rath geb' ich
Dir: geh' nie allein aus die Straße, Du kommst unter'n
Leichenwagen.«
Darüber entsetzte sie sich und fing an zu flennen. Nun
war nichts mehr herauszubringen. Zum Verzagen.
Um Elfen verabschiedete sich Ungermann sehr höflich
und gemessen mit dem Wunsche, daß die Beziehungen der
beiden Häuser die altbewährten bleiben möchten. »Ihre
Kundschaft wird meinem Manne stets schätzenswerth sein,«
sagte ich, »und ich hoffe, daß Sie mit dem zufrieden waren,
was wir bieten konnten. Ungarische Gräfinnen verkehren
leider nicht bei uns, dafür sind Uhr und Kette sicher.«
Er versuchte zu lächeln, es war aber danach. »Ich verlasse
Berlin mit den Erfahrungen, die ich zu sammeln vorgenommen,«
erwiderte er. »Man wird meine Bemühungen
an rechter Stelle anerkennen, auf Mißverständnisse rechnete
ich von vornherein und wie ich sehe, sie sind nicht ausgeblieben.«
Nun lächelte ich. Daran erkannte er, wie ich dachte.
So ein Leisetreter.
Um Zwölfen gondelten Kliebisch und Tochter ab. Ich
hielt es für meine Pflicht, das Kind sicher in die Eisenbahn
zu befördern, und fuhr bis zum Alexanderplatz mit. Kliebisch
gab die Koffer auf, während ich die Anna an der Hand
hielt, um sie nicht im letzten Augenblick zu verlieren. Sie
weinte, der jählingse Luftwechsel war ja auch so seltsam
für sie.
Dann stiegen sie ein. »Anna,« fragte ich noch einmal,
»Kind, kannst Du Dich gar nicht besinnen, wo Du den Brief
hast?« — »Ich glaube in der Tasche« — »Dann her damit.«
— Sie fuhr in ihr Gewand und grabbelte. — Kein
Brief. — »Er ist in dem anderen Kleide.« — »In welchem?«
— »Das ist unten im Koffer.«
Die Lokomotive pfiff, der Zug setzte sich mitsammt den
195
Koffern, dem Kleide und dem Brief in Bewegung. Herr
Kliebisch sah sehr unglücklich aus, entweder wegen des beschleunigten
Abschieds, oder aus alkoholischen Gründen von
gestern, oder wegen der Zukunft seiner Aeltesten. Denn was
soll aus dem Wurm werden? Schließlich heirathet es einen
Canditaten der Viehlologie mit gleichgesinnten Anlagen und
nachher wundert so was sich, wenn die Landwirthschaft einen
Aufschwung nach rückwärts nimmt. In dieser Weise sah ich
wahrsagend voraus; hingegen die letzte Vergangenheit war
mir unklar, da Niemand sagte, was sich ereignet hatte, und
noch nicht offenbarte was mir blühte. Gerade in diese
Unruhe fiel der Amtsrichter.
Der Mann war jedoch gleich so gemüthlich, daß ich Stab
und Stütze in ihm hatte. »Der Vetter hat die Bier-Influenza,«
sagte er, meines Karls Zustand verständig durchschauend,
»und wenn ich Ihnen, verehrte Cousine, ungelegen
komme, nur keine Schüchternheit. Ich ziehe sofort nach der
Putsch oder wie sie heißt.«
»Nein, die Butschen hat voll besetzt, immer solche Fremde,
die das Nachtgewand in Packpapier mitbringen. Sie bleiben
bei mir.«
Um die Weitläufigkeit der Verwandtschaft abzukürzen,
betitelten wir uns vetterschaftlich und der Amtsrichter machte
von seinem Familienrechte gleich Gebrauch, indem er meinem
Karl eine bengalische Auster anrührte, aus einem Eigelb,
einem Theelöffel Salz, ebenso viel Pfeffer und Mostrich mit
einem Cognac gemildert. Er giebt sie seinen Assessoren und
Referendaren, denen das Recept immer hilft, wenn sie Montags
leidend sind. Auch meinem Karl nützte es; er schwor,
nie wieder mit Ungermann auszugehen, als er noch an dem
Nachgeschmack würgte.
Während mein Mann sich langsam auf sich selbst besann
und der Herr Vetter sich häuslich einrichtete, kam die
Kliebisch angesegelt. Aber der Aufstand, als sie Gatten und
Töchterchen abgereist vorfand. Und keine Erklärung angenommen,
sondern mich verantwortlich gemacht. Zum Glück
hatten wir in der Person des Vetters ein lebendes Tribunal
im Hause, so daß die Hauptinjurien mehr innerlich gedacht
als äußerlich angebracht wurden. Justiz erfordert Vorsicht.
Wegen Ottilie mußte der Amtsrichter eine richtige
196
Sitzung abhalten mit Belastung und Entlastung und Dorette
als Zeugin. Als ich verlangte, mein Mann müßte sein
gestriges Alibi nachweisen, wodurch ich erfahren hätte, wo die
Drei gewesen, bemerkte der Vorsitzende: »Zeuge hat nicht
nöthig, Nachtheiliges gegen sich auszusagen.« Mein Karl
athmete erleichtert auf. Was sie wohl betrieben haben?
Und mir schien, als wenn der Amtsrichter sich das Lachen
verbiß.
Die Kliebisch kam nach und nach so weit, daß sie nicht
mehr ganz vorbei antwortete und sagte, es müsse Alles in dem
Briefe stehen, den Ottilie geschrieben hatte, während sie mit
Herrn Brauns gegangen war, Verlobungsringe zu besorgen
und eine kostbare Brosche und was Ottilien sonst noch fehlte,
bei Herrn Brauns Eltern einigermaaßen nicht als Bettelprinzessin
erscheinen und was sie im Zorn redete. Sie
hätte den Anstand des Hauses gewahrt und Ottilie zu Herrn
Brauns Eltern begleitet und der Dank dafür sei die Vertreibung
ihres Mannes und Kindes. Ob ich es verantwortet
hätte, Herrn Brauns und Ottilie allein reisen zu lassen? Er
wäre ja wie ein Wahnsinniger aus Liebe, da hätte sie nach
Feuer und Licht sehen müssen.
Also Rudolph hatte sein Mädchen entführt.
»Sehr recht,« sagte mein Karl. »Er ist nicht der Mann,
lange zu zappeln. Ich hätte es eben so gemacht.«
»Karl, aus Dir redet die bengalische Auster. Schweige
und bereue Dein gestriges Betragen.«
Der Amtsrichter stiftete friedlichen Vergleich und ich war
froh, endlich zu wissen, wie Haase gelaufen war. Meine
Verantwortung hörte auf, die jungen Leute hatten ihr Schicksal
selbst in die Hand genommen. Schließlich dankte ich der
Kliebisch noch, daß sie mit Rudolph und Ottilie als Ehrenwache
gegangen war. Die Eltern hatten die künftige
Schwiegertochter wohlwollend empfangen. Das war ein
Lichtblick nach so vieler Finsterniß. —
Und nun waren wir ein Trifolium, wie der Amtsrichter
betonte, und zwar ein vergnügtes. Mit ihm die Ausstellung
durchpilgern, war reizend. Erstens hatte er Verständniß und
zweitens Durst immer zur rechten Zeit, nicht wie Kliebisch,
der an den Zapfstätten schwer vorbei zu bringen war. Der
Familienabend in Alt-Berlin war sein Vorschlag. Theil
197
nahmen außer uns Dreien noch Betti und ihr Mann und
der Sanitätsrath und Frau.
Wie anders war Alt-Berlin jetzt, als damals in der
Mittagseinsamkeit. Wie von einem Jahrmarkt überschwemmt
ließen die Gassen; Verkaufstisch an Tisch und Waaren darauf:
der ganze Quark, Stück 'ne Mark. Das war nicht
gerade mittelalterlich, trotz der Maskentrachten der Mamsellen
und der Landsknechte. Und in den Häusern Kneipe an
Kneipe mit und ohne Musik, und Kostümtrompeter auf den
Plätzen, daß eine heftige Art von Lustigkeit herauskam.
Wir versuchten in die wegen ihrer Grobheit beliebte
Bauernschänke zu dringen, konnten jedoch nicht ganz hinein,
so voll war sie. »Machen Se man, dett Se wieder raus
kommen,« schrie der Wirth uns an, »Se sehen doch, dett
hier anständige Leute sitzen.« — »Hierbleiben!« schrieen die
Gäste. — »Rin mit der Schwiegermutter,« rief der Wirth,
»die fehlt noch in meinem Museum.« Da gröhlten sie Alle:
»Wir brauchen keine Schwiegermama — ma.« Mit dieser
Probe vollkommen befriedigt, wandten wir uns zum Gehen
und es war auch Zeit, daß wir die Thür frei machten, da
uns ein Herr nachgeworfen wurde, der wohl lange genug
drinnen gesessen hatte. Brüllendes Gelächter belohnte den
handgreiflichen Scherz. — Ob es wohl in der großen Kurfürstenzeit
ähnlich so herging? Ich will hoffen, daß dieser
Ton sich aus Alt-Berlin nicht auf Berlin verbreitet. Das
wäre eine üble Ausstellungserbschaft.
Doch nun kam das belebende Element durch die Gassen
daher, der historische Festzug. Es waren Männer und
Frauen, wie vom Theater ins Freie verirrt, bunt angezogen,
mit falschen Bärten und Perrücken und was Helden und
Knappen und Ruinenfräuleins und ihre Zofen so um Fastnacht
tragen. Bei Licht, aus Opernglasferne, vielleicht ganz
annehmbar, in der Nähe und bei Tage jedoch zu ungediegen.
»Entweder ganz echt oder gar nicht,« meinte der Amtsrichter.
— »Oder wenigstens komisch,« erwiderte ich. »Die
Ritter z. B. mit Ofenröhren und Theekesseln, daß man lachen
könnte.«
»Hier scheint etwas zum Lachen zu sein,« sagte er.
»Gehen wir hinein in die Singspielhalle?«
198
»Ich fürchte, es ist zu rauchig drin für die Damen,«
weigerte sich mein Karl. Das fiel mir auf. Wir hinein.
Ich voraus.

Ein großer Raum, am Ende eine Bühne. Auf der
Bühne vergoldete Stühle und auf den Stühlen ein gutes
Dutzend Sängerinnen. Alle in kurzen Kleidern, wenn man,
was sie anhatten, noch ein Kleid nennen will. »Dies ist ja
ein Tingeltangel,« sagte der Sanitätsrath, »gehen wir.« —
»Den hab' ich längst einmal sehen wollen,« entschied ich,
»bleiben wir.«
Nun sang eine nach der anderen. Immer von Liebe
mit Zubehör. Stimme meist nicht vorhanden. Dafür um so
mehr Mimik. Mir wurde siedeheiß, wie sie sich betrugen.
Aber die Herren in den Vorderreihen johlten Beifall und
die Frauenzimmer lachten ihnen zu und machten Augen.
Und was für welche! Nun wußte ich, wieso Ungermann
seine multerigen Bekanntschaften in Alt-Berlin gemacht hatte,
dies war sein Stammlokal gewesen und meinen Karl hatte
er auch hingelockt. Warum wollte der sonst sich drücken?
199
Unsere Herren waren verlegen, daß wir Damen einmal
sahen, wie ein Tingeltangel beschaffen ist, bis auf den Amtsrichter,
der sich amüsirte. Der durfte, der war unverheirathet.
»Was sagst Du dazu?« fragte ich Betti. Sie antwortete
nicht. Sie war bleich und saß kerzengerade, wie
früher immer, wenn sie in tiefer Seele litt. Ihre Blicke
ruhten fest auf ihrem Mann, als suchte sie auf seinem Antlitz
zu lesen. Er war ja auch einst flott gewesen, wie die
jungen Leute da vorne, die den Sängerinnen Champagner
auf die Bühne reichten. Gedachte sie vergangener Zeiten?
»Komm,« sagte ich. Sie stand auf und nahm meinen
Arm. Ohne rechts und links zu sehen, zog sie mich auf die
Gasse, durch die Menschenmenge zum Georgenthore hinaus
in die grünen Buschwege des Parkes.
»Was hast Du, Betti?« — Sie athmete schwer auf.
»Es war ein böser Traum,« sagte sie mühsam. »Ich will
nie wieder an ihn denken. Nie wieder nach Alt-Berlin.«
»Kind, Alt-Berlin ist so schön.«
»Aber die Menschen darin! Mama, wo ist mein Felix?«
Er kam mit den Anderen.
Unrecht hatte Betti nicht. Was die Künstler schaffen,
verdirbt der Ungeschmack. Aber es soll doch nur Geld verdient
werden.

200

Spree-Afrika.
Ein zu allerliebster Mann, der Amtsrichter. Wenn ich
nur erst eine Frau für ihn hätte. Ich habe freilich meinem
Mann geloben müssen, nie wieder Menschen in ihr Glück zu
stürzen, aber um den Amtsrichter wäre es ewig schade,
wenn er als Junggeselle verbraucht werden sollte, und mit
zarten Blumenstengeln auf die Annehmlichkeiten einer liebevollen
Häuslichkeit hinweisen, liegt in dem Gelöbniß doch
wohl nicht mit darin.
Und ich hoffe, er bekehrt sich noch, allein schon wegen
der Gaskochmaschinen, mit denen es eine wahre Lust sein
muß, einen Hausstand zu begründen. Von der elektrischen
Küche will ich gar nicht reden: man stellt die Pfanne auf
einen beliebigen Tisch, dreht die Schraube und der Eierkuchen
ist fertig. Es ist erstaunlich, wie weit die Verfeinerung der
Menschheit jetzt reicht. Vergleicht man hiermit die Wilden,
glaubt man kaum in demselben Jahrhundert mit ihnen zu
leben.
Für nur dreißig Pfennige Thoreinlaß treten wir in
unsere Kolonieen, am Karpfenteich zwischen den Gebüschen
malerisch gelegen, und können eine Vorstellung von unseren
Erwerbungen in Afrika gewinnen.
Viele sind gegen Kolonialbesitz, viele dafür. Mein Karl
war bisher der Meinung, er koste nur und brächte nichts
ein. Onkel Fritz behauptet, wir müßten ihn haben, weil in
absehbarer Zeit Deutschland so übervölkert würde, daß kein
201
Platz mehr wäre. »Fritz,« sagte ich, »sie nehmen das Tempelhofer
Feld zu.« — »Worauf sollen dann die Paraden
abgehalten werden?« entgegnete er. Daran hatte ich nicht
gedacht. Kolonialpolitik hat doch so ihre Eier.
Die Hütten der auswärtigen Eingeborenen sind für das
Stralau-Rummelsburger Klima nicht geeignet, dagegen nach
der afrikanischen Bauordnung einwandsfrei. Wie die
Schwarzen froh sein werden, wenn sie sich wieder an der
heimathlichen Sonne wärmen können und ihre Kultur-Sendung
in Treptow erfüllt haben, und verwilderter zurückkehren
als sie kamen.
Für mich ist es schier unmöglich, die einzelnen Stämme
auseinander zu halten, welche die Suaheli sind und welche
die Massai oder Dualla oder Papuas oder wie sie sonst geschrieben
werden, zumal wenn sie sich mit rother Farbe geschminkt
haben und wie anglühende eiserne Oefen aussehen.
Seitdem ich obendrein weiß, daß die Papuas arg nach
Menschenfleisch sind, geh' ich nicht dichte ran. Nächstenliebe
mit Einbeißen ist nicht mein Fall.
Der Amtsrichter ist dem Kolonialischen geneigt und hat
sich eingehend damit beschäftigt, schon allein, weil mit der
Zunahme der Verbrecher doch vielleicht die Einrichtung von
Strafprovinzen nothwendig wird.
»Herr Vetter,« fragte ich, »angenommen den Fall, Sie
verdammen einen unverbesserlichen Rufti, dessen Geschäft in
Messerstechen und ähnlichem Frevel besteht, nach Papuanien
und die dunklen Reichsbrüder essen ihn auf, wäre das nicht
eine verschmitzte Art Hinrichtung mit Umgehung des Gesetzbuches
und zöge Ihnen Anklage zu?«
»Vorläufig noch nicht,« entgegnete er. »Aber es kann
so kommen; dem grünen Tisch ist Alles möglich.«
»Warum wird er nicht anders bezogen? Wenn die
alte Kulör nicht taugt, her mit einer frischen.«
»Das Grün frißt sich doch immer wieder durch,« sagte
er. »Es ist der Grünspan des Staates, alt und ehrwürdig.«
»Aber giftig.«
Er lächelte. »Ein gesunder Organismus überwindet
ihn.« — »Aber er spuckt.« — »Das Recht hat er.« — »Hat
er doch etwas.« — »Was das Volk kneift, thut dem werdenden
Geheimrath nicht weh,« sagte Onkel Fritz.
202
Unter diesen Gesprächen gelangten wir zu der Festung
Qui-kuru qua Siki. Das ist ein heimtückisches Werk von
außen und noch heimtückischer von innen. Die Wälle, dick
und fest aus Palissaden und Lehm, sind mit hohen Stangen
besteckt und obendrauf weißgebleichte Todtenschädel, die
grinsen: Kommt nur heran, auf diese Manier wird hier
frisirt. — Geht man durch das enge Thor und sieht die
Gräben und Gänge, wie in einem Irrgarten, hat man nur
einen Gedanken: hier wird abgemurkst! Entrinnen ist nicht.
Immer tiefer flüchtet man in die Mausefalle hinein und findet
den Ausweg nicht wieder. Und nun fangen sie an zu
schießen. Bums hier, bums da aus den kleinen Löchern in
den Wänden und schleichen hervor mit Beilen und Lanzen
und massacriren die Eindringenden. Höchst schaudervoll.

Obgleich diese Festung nur ein Stück Nachbildung der
echten ist, kann man begreifen, daß solche Verschanzung für
die Eingeborenen unüberwindlich war und selbst unseren
203
Truppen nicht beim ersten Anrennen erlag. Aber wir
kriegten sie und als sie sich nicht mehr halten konnte —
Krupp vertrug sie nicht — da gab es einen Mordsknall.
Der Häuptling Sike, ein unangenehmer Herr, der sich unseren
humanen Sklavereiaufhebungsbestrebungen widersetzte und
nebenbei Branntwein trank, hatte sich mit seiner Familie und
seinen Schätzen auf ein Pulverfaß gesetzt und in die Luft
gesprengt. Vier Tage hat die Festung gebrannt, mit Erdöl
getränkt. Der Sieg war unser und die Kriegsentschädigung
wurde in Elfenbein ausgezahlt. Aus dem Elfenbein werden
Klaviertasten gesägt und die Klaviere gehen wieder nach
Afrika zur Verbreitung der Kultur, die erst ihren Gipfelpunkt
erreicht, wenn die Töchter der Wilden ebenso auf dem
Piano herumrudern können, wie unsere.
Doch das hat noch gute Wege, denn von erhöhter
Bildungsarbeit haben sie keinen Dunst. Ihre Hauptbeschäftigung
ist herumlaatschen und sich die Zeit mit Langweile
vertreiben. Man liest ja auch, daß verschiedene Stämme
unter Tänzen und Freuden dahinleben, ohne die Sorge des
Lebens zu kennen. Und das ist wahr, viel Sorgen machen
die Weiber sich nicht. Wenn sie kochen, besteht ihre Maschine
aus ungehobelten Feldsteinen und um ihr Geschirr
zu scheuern, greifen sie beliebig in den neben ihren Füßen
befindlichen Erdboden, nehmen eine Handvoll und klarren
Pfannen und Kessel damit aus. Wenn das nicht sorglos ist,
weiß ich nicht, was sonst! Vielleicht ihre Kleidung? Was die
Kinder anbetrifft, die haben blos Natur an. Sonst sind sie
süß. Es muß an den Augen liegen. Kinderaugen sind doch
wohl auf der ganzen Welt dieselben.
Es war eine Mutter vor einer Hütte. Sie saß im Grase
und spielte Pitsche-Patsche mit ihren Kleinen. Die jauchzten
vor Lust und das junge Weib strahlte vor Glück. Ihre
Augen leuchteten, ihre Lippen lächelten und die weißen Zähne
schimmerten beneidenswerth. Ich glaube, die Liebe ist auch
dieselbe, so weit die Erde rund ist.
Wir gebildeten Europäer standen an dem Gehege und
sahen zu. Manche riefen Redensarten, die sie gottlob nicht
verstanden, aber mir schien, als wenn die Frau unter ihrer
Wangenschwärze erröthete, wenn den Schnodderigkeiten
wieherndes Gelächter folgte. Sie erhob sich und blickte die
204
Weißen an. Was sie wohl dachte? Dann nahm sie ihre
Kinder an der Hand und verzog sich in die Hütte. Und wir
verzogen uns auch.
»Die wären richtig weggegrault,« sagte Onkel Fritz.
»Haben sie Dir gefallen, Erika?« — Seine Frau schwieg.
Nach einer Weile sprach sie: »Die Frau that mir so leid.«
Von großem Interesse waren uns die Zauberhütte und
die Götzenbilder, weil Niemand Gewisses darüber weiß. Gerade
das Geheimnißvolle reizt. Selbst der Amtsrichter
konnte keine Auskunft geben. Dagegen erklärte er uns das
Versammlungshaus der Papuas. Kein Weib darf die Baracke
betreten und vor allen Dingen nicht die große Trommel
erblicken, auf der sie das erzeugen, was als Heidenlärm bekannt
ist. Solche Furcht haben sie vor ihr, daß sie erschreckt
fliehen, sobald darauf gebummert wird. Ja, sie glauben, sie
müßten sterben, wenn sie die Trommel blos sähen. Solchen
Aberglauben haben die Männer ersonnen, damit sie ungestört
ihre Feste und Schmausereien feiern können und keine Frau
sie von den Gelagen heimholt.
»Ganz wie bei uns mit Herren-Abenden,« sagte ich.
»Aber die Vergeltung rührt sich schon. Wie denken Sie über
Frauenemancipation, Herr Vetter?«
»Ich bin für die Freiheit der Frauen,« entgegnete er
höflich.
»Siehst Du,« stieß ich Onkel Fritz an. — »Eben deshalb
heirathet er nicht,« sagte der.
Ich überhörte diese Unziemlichkeit, um uns nicht aufzuhalten.
Denn noch lag die Kolonial-Ausstellung vor, die
als eine Darstellung von Sansibar aufzufassen ist, in einer
Mischung von afrikanischen Gebäuden und Berliner Erfrischungshallen.
Eine bedeutende Sache. »Wir müssen festhalten,
was wir haben,« sagte der Vetter, »ich freue mich,
einen Einblick in die Wichtigkeit unserer Kolonieen zu erlangen.
Hätte die Berliner Ausstellung nichts weiter gebracht,
als diese Abtheilung, es wäre genug, ihr zu danken.
Aber das genaue Studium erfordert Tage.«
Darin hat er recht. Allein schon das Tropenhaus giebt
ein Bild von der Production, dem Handel, dem Verkehr und
der Lebensweise des Europäers in unsern Schutzgebieten, vom
Auswärtigen Amte hingebaut. Und sollte man denken, die
205
eisernen Pfeiler, auf denen es ruht, sind unten mit ölgefüllten
Becken umgeben, damit die Ameisen nicht hochkriegen und
Alles zernagen, was sie vorfinden. Und unten hat die Luft
freien Durchzug, die Fieberdünste wegzuwehen.
Drinnen die Möbel sind zum Theil aus dem schönen
Neuguineaholz, ungeleimt, der Feuchtigkeit wegen und mit
Messingschrauben zusammengehalten; ebenso sind Schlösser
und Schlüssel aus Messing wegen des Rostens. Jegliches ist
für das Klima ausgetiftelt und zwar in Berlin. Die Gesammteinrichtung
gefiel uns, besonders das Speisezimmer mit
gedecktem Tisch, worauf in Wachs geformt die köstlichen
Früchte lagen, die zur Speise dienen, und oben an der Decke
die Punkah, ein Riesenfächer, den an der Tafel Sitzenden
Kühlung zuzuwehen. An den Wänden die Gemälde schilderten
die Gegenden, die Jagden und die Schlachten mit den Feinden
und was sonst sich malerisch in Oelfarbe ausdrücken läßt,
wie z. B. unsere Schutztruppe in graugerippten Sammt und
Naturlederzeug mit Gamaschen und Tropenhut; kolossal
schneidig. Auch das Schlafzimmer des Gouverneurs war besichtigungshaft.
Einer selbst war nicht drinn, wohl aber
sein Bett mit Fliegenschleier, Nachts die Mosquitos abzuwehren.
Ich warf hin: »Wen das Gewissen nicht sticht, der schlummert
auch ohne Gazevorhänge. Gegen Wilde sei man milde.«
»Du sollst in der letzten Zeit mächtig unruhig liegen,«
sagte Onkel Fritz mir leise. — »Ich wüßte nicht, wann ich
Dir etwas vorgeschlafen hätte?« gab ich zurück. — »Auch nicht
nöthig, ich seh Dir doch an, daß Du nicht in Deiner gewohnten
Gemüthsverfassung bist. Ist Kriehberg endlich beseitigt?«
»Nicht eher, als bis die Papuas ihn am Spieß braten.
Er wankt nicht. Er behauptet, wir lögen ihm vor, daß Tante
Lina ihr Geld fest verankert hätte und will auf Entschädigung
klagen, wegen des Aufwandes, den er machen mußte, um
standesgemäß mit Tante Lina und Ottilie aufzutreten.«
»Laß ihn klagen.« —
»Fritz, Alles — nur nicht vor die Schranken. Siehst Du,
Richter können zu reizend sein, wie der Vetter, aber hängt
ihnen den Talar um und sie sind unsicher. Paß acht,
Kriehberg kriegt Recht. Er geht ans Reichsgericht. Das
spricht ihm Ottilie zu und mir die Kosten. Wie das noch
endet, weiß ich nicht. Mir steht der Verstand still.«
206
»Das merke ich. Warum legst Du dem Vetter den Fall
nicht vor?«
»Der hat Ferien und will sich amüsiren.« —
»Wer sagt denn, daß er sich nicht darüber amüsirt?« —
Es kam mir eine Erleuchtung. Die Vorsehung will es,
warum hat sie uns sonst einen Amtsrichter in die Verwandtschaft
gebracht? Auch sind Ferien ohne jegliche Thätigkeit ungesund.
Mir wurde licht und froh im Sinn, gerade so als wenn
man sich in fremder Umgebung verlaufen hat und sieht
plötzlich ein Wirthshaus. Wir eilten den Anderen nach, die die
Hospital-Einrichtung des Tropenhauses in Augenschein nahmen.
Bei all dem Obst und den Fieberlüften, den Ameisen
und Gewürmen und Kämpfen können Krankheiten nicht ausbleiben
und da ist denn der »Deutsche Frauen-Verein für
Krankenpflege in den Kolonieen«, der in hilfreichster Weise
für die Siechen in dem fernen Land sorgt, wo nichts zu haben
ist, was Leidende benöthigen. Wie es in den Kolonieen zugeht
und wie die Frauen hier nun thätig sind, das erfährt man
aus der Vereinsschrift »Unter dem Rothen Kreuz«, die ich sofort
bestelle. O, wie viel können wir da wirken für unsere Landsleute
und für die Schwarzen. Güte bindet fester als Gewalt.
Auf dem Liebesgaben-Tische hatte Erika einen mit
Kerzen geschmückten Tannenbaum entdeckt. Er stand groß
und breit zwischen den anderen Sachen, aber er war uns
nicht aufgefallen, da wir ihn für putzende Grünigkeit hielten. Der
Baum war ein künstlicher aus Gedrath und grünen Stoffnadelzweigen,
täuschend wie eine Tanne aus dem Walde. Es
war ein zweiter solcher Baum vorhanden, eng in eine Blechbüchse
verpackt, nicht größer als ein einigermaßener Regenschirm,
daß er sicher verlöthet, bis mitten in Afrika hinein
versandt werden und überall um die Weihnachtszeit fast zwei
Meter hoch aufgebaut werden kann, wo Deutsche weilen, die
sich vergebens nach der Tanne sehnen, weil sie dort nicht
wächst. Und ein Fläschchen ist dabei mit Tannenduft. Der
wird auf den Baum gesprengt. Die Lichter brennen, Goldfrüchte
hängen daran und in der Spitze schwebt der Engel
mit dem Stern. Dann ist Weihnacht, deutsche Weihnacht.
Die Fremden und die Wilden sehen das und fragen, was
es bedeutet? »Deutsche Sitte,« wird ihnen gesagt. »Kommt
und feiert mit uns das Fest der Liebe.«
207
Wenn wir Erika nicht bei uns gehabt hätten, wir wären
achtlos vorübergegangen. Sie aber sah und fragte und uns
wurde Bescheid. Onkel Fritz schrieb sich die Verfertiger auf,
sie hießen C. Nicolai Söhne und wohnen in Hamburg. Er
will überseeischen Geschäftsfreunden solche Tannenbäume verehren.
Er weiß, was er thut.
Wir erlebten darauf im Freien den Aufzug der Afrikaleute.
Es muß wohl so sein und sie sind wohl auch derselben
Meinung. Männer, Weiber, Kinder schritten daher
und machten ihre Musike, die mir klang wie orientalische
Musik überhaupt. Die ist, als wenn Teppiche geklopft werden
und Einer lernt Clarinette dazu.
»Nun, Schwager?« fragte Onkel Fritz.
»Wie gefallen Dir die Kolonialbrüder und
Schwestern?« — »Gar nicht,« sagte mein
Karl, »was haben wir von ihnen?«

»Sieh doch nur genau hin, mich dünkt,
die Strümpfe, die ihnen an den Stellen
herunterhängen, wo sonst die Waden sitzen,
könnten aus Deiner Fabrik stammen.« —
Mein Karl prüfte. »Es sind von meinen
halbwollenen,« sagte er, »die rothblaue Borde
ist ein Versuch, der nicht recht einschlug.« —
»Das ist eben der Segen der Kolonieen, wie
ich Dir vor Jahren bereits gesagt habe: Die
Wilden sind hundert Meilen hinter dem Leipzigerstraßengeschmack
zurück.« — »Ganz zu
verwerfen sind Kolonieen doch am Ende
nicht,« erwiderte mein Mann. — »Karl,« sagte
ich und wies auf einen besonders schlampigen
Neger, »wenn alle so mit den Wollwaaren
umgehen, wie der lange Lulei, kann der
Absatz riesenhaft werden. Der hat schon mindestens vierzehn
Zehen durchgestochen.«
Seit dieser Beobachtung ist mein Karl für Afrika etwas
geneigter. —
Von Sansibar begaben wir uns nach Kairo. Als mein
Karl und ich es zum ersten Male besuchten, genossen wir
reine Wiedersehenswonnen und ein über das andere Mal
riefen wir: sind wir denn wirklich nicht im Pharaonenlande,
208
wo wir unvergeßliche Wochen zubrachten? So getreu ist
das Kairo an der Coepenicker Chaussee hingestellt, mit Arabern,
Beduinen, Fellachen, Eseln und Eseljungen besiedelt. Wir
schwelgten über jedes, das wir als lieb Bekanntes begrüßen
konnten. Es war mein einziger Wunsch, noch einmal hin
nach Kairo, aber ich hatte ihn aufgegeben. Und nun wurde
er so dichte bei erfüllt.
Wir trafen Leute, denen war unsere Begeisterung lachhaft.
Die hatten sich unter Kairo ganz etwas Anderes vorgestellt:
Flitterprunk, ungefähr als wenn im Opernhaus
großes Galla-Ballet neu ist. Sie wußten nicht, daß der
Orient allmählich untergeht, zerbröckelt und zerfällt, und
ahnen nicht, daß die Gluthsonne des Morgenlands dazu
gehört, ihn zu vergolden. Ich sagte: »Lesen Sie, Buchholzens
im Orient, da steht's drin.« Was soll ich mir Quesen
in den Mund reden, gegen vorgefaßte irrige Meinungen?
Und wenn ein arabischer Stiefelputzer — es ist ja Horde
die Bande, aber komisch und unverwüstlich — seine rasch
gelernten deutschen Brocken redete, was sagten sie dann?
»Ackerstraße,« sagten sie, als wenn Berliner Schusterjungen
gefärbt wären.
Es wird eben so viel gefälscht, daß die Leute bald an
nichts Echtes mehr glauben.
So etwas verdrießt. Und gar zu viel Handel und Unfug
treiben sie. Nicht die Egypter, nein die wirklich aus
der Ackerstraße mit einem Tarbusch auf dem Kopfe und
Pantinen im Benehmen.
Der Vetter verstand, das Echte vom Unechten zu scheiden,
und Erika war wie in der Welt der Phantasie, die nahm
das Ganze, wie es sich bot. Mit den Beiden die Bazargassen
zu durchwandern, das war ein Vergnügen. Ich zeigte ihnen
die vergitterten Haremsfenster. — »Arme Frauen,« sagte Erika.
Und in der Arena, die Beduinen auf ihren arabischen
Pferden, wie sie daherstürmten und aus ihren langen Flinten
schossen. Selbst Onkel Fritz meinte: »Hier könnte Renz auf
die hohe Schule gehen.« Und der Hochzeitszug mit Kameelen
und Sänften und dem farbigen Egyptervolk. Wer das sah,
kann sagen, er hat ein Stück Orient gesehen.
Und alles das, die ganze Stadt doch nur ein Sommertagtraum.
Wo jetzt die Moscheen stehn und die krummen
209
Straßen Kairo sich hinziehen, grünen im nächsten Frühjahr
die Kornfelder und wo der Muezzin zum Gebet rief, singt
die Lerche. Kein Edfu-Tempel, keine Pyramide mehr, dahin,
dahin. Und der Wind, der die Palmen nicht mehr findet,
eilt weiter über die märkische Ebene, wie er gewohnt ist von
jeher. Dann sind die Egypter bei den ihrigen und erzählen
von Berlin Kebir, dem großen gewaltigen Berlin, und wir
erzählen uns von der Märchenstadt am Nil, die zu Besuch
war an der Spree.

Die Pyramiden sind ein Weltwunder des Alterthums.
Daß sie mit Sack und Pack auf Reisen gehen, das ist ein
Weltwunder unserer Zeit. Was unsere Nachkommen wohl
anstellen, um die Vergangenheit zu überbieten? Denn mehr
als Radschlagen kann der Mensch nicht.
210

Glückliche Leute.
Noch einige Tage und
mein Hotel steht leer. Der
letzte Gast, der Vetter Amtsrichter,
muß wieder in Dienst.
Daß ein so liebenswürdiger,
hochgebildeter Mann von
Verbrechen leben muß! Aber
andererseits, wenn blos Edles
auf Erden begangen würde,
wären die gesammte Jurisprudenz
brodlos, und es sähe
für reich betöchterte Familien
noch flauer aus als jetzt, wo
zum Aufziehen gebildeter
Weiblichkeit die Gelegenheiten
immer massenhafter,
die zum Versorgen jedoch
immer zählbarer werden.
Da steckt es.
Wir sehen ihn ungern
scheiden und hoffen von nun
an in regerem Verkehr zu
bleiben, wenigstens einmal im Jahre, und dann auf längere
Wochen. Die Uhren ticken freilich ihren gleichen Schritt,
aber die Zeit wird eilsamer im Alter, und Wochen fliehen
211
wie Tage und die Tage wie kurze Stunden. Kaum hatten
wir uns über das erste Grün gefreut, und nun fielen schon
gelbe Blätter hier und da. Und doch war der Sommer
nicht eigentlich heiß gewesen, ausgenommen für mich. Mir
war nicht schlecht eingekachelt worden.
Doch das war vorbei.
Ottilie schrieb mir reumüthige Briefe. Es war ja auch
nicht 'was, durchzubrennen, während ich mich in ihren Angelegenheiten
Reisegefahren aussetzte, aber indem sie um Verzeihung
flehte und schriftlich über sich nachzudenken gezwungen war,
kam sie zu der Erkenntniß ihrer Unvollkommenheiten, und
den Gewinn schlage ich als ihre beste Mitgift an. Auch
Musjeh Urian, ihr Verlobter, gestand seitenlang seinen Frevel
ein und bat um mein ferneres Wohlwollen. Kann man ihm
denn böse sein?
Verliebte sind unzurechnungsfähig, und Rudolph mußte
man lassen, daß er verhältnißmäßig vernünftig gehandelt
hatte, wenn man sich es recht benahm. Denn wie verliebt
war er trotz Ottiliens Fehlerhaftigkeiten. Schöne Gestalt hat
große Gewalt.
Das hatte Kriehberg auch an sich erlebt, obgleich nicht
so wie Rudolph, sondern mehr mit Geldnebengedanken.
Ich fragte den Vetter Amtsrichter: »Wenn Einer von
Einer schriftliche Indizien verwahrt und derselbe beabsichtigt,
wenn diejenige demjenigen, der dieselben besitzt, denjenigen
vorzieht, welchen dieselbe später kennen lernte, mit denselben
zu schikaniren und derselbe sich nicht entblödet in das Ja
vor dem Geistlichen hineinzufahren. Darf derselbe das?«
Der Vetter entgegnete: »Ich habe Sie nicht ganz verstanden,
verehrte Cousine.«
»Das wundert mich, ich gab mir doch Mühe, Amtsstil
zu reden.«
»Der ist bisweilen selbst ergrauten Actenlesern zu viereckig,
als daß sie daraus klug würden. Aber wenn Sie die
Güte haben, mir den Fall in der gewöhnlichen Umgangssprache
mitzutheilen, hoffe ich, Ihnen Auskunft geben zu
können. Und wenn ich bitten darf, ohne Voreingenommenheit
und ohne Beschönigung.«
»Zu beschönigen ist nichts, Kriehberg ist, wie er ist, ein
Subject.«
212
»Erlauben Sie, das scheint mir parteilich.«
»Wo denn? Wenn ich Partei nehme, doch für Rudolphen,
und von dem hab' ich kein Sterbens-Atom erwähnt.«
»Ahem!« sagte der Vetter. »Liebe Cousine, so kommen
wir nicht weiter. Also zunächst der genannte Kriehberg. In
welchem Verhältnis stehen Sie zu ihm?«
»Herr Vetter, solche Fragen muß ich mir dringend verbitten.
Ueberhaupt Kriehberg! Ich kenne keinen Menschen,
mit dem ich quaranzetter stände, als mit ihm.«
»Ich verstehe. Waren Sie von Anfang an derselben
Meinung?«
»Herr Vetter, wie jemand sich entwickelt, solchen Verlauf
nimmt die Freundschaft!« Und nun erzählte ich ihm von
den Berichten und von Kriehberg und Ottilie als Hilfs-Assistenten
und von Tante Lina in ihrer Eigenschaft als
Erbvorspieglerin und von Rudolph und Ottilien, als wirkliche
Liebe, und von Kriehberg's Eifersucht und von Ottiliens
Entführung und Kriehberg's Herausforderungsgelüsten,
die sich sogar bis auf mein Lamm von Mann erstreckten.
»Warum ist es nicht möglich, das Duell mit Stumpf und
Stiel auszurotten?« fragte ich.
»Weil die Ehre, Gott sei Dank, noch lebt, die höher
steht als das Leben. Ihr Hort gegen Vergewaltigung und
Heimtücke ist der Zweikampf. Wer sich an die Ehre wagt,
wisse, daß er sein Leben auf's Spiel setzt.«
»Ganz recht, auf den Zufall! Der entscheidet.«
»Wie im Kriege um die Ehre des Vaterlandes, der
Sieg oft Werk des Zufalls ist. Wer die Ehre nahm, mag
auch das entwerthete Leben nehmen oder das seinige lassen
als Sühne. Wie es sich fügt.«
Die Antwort hätte ich mir denken können; die Schmisse
des Herrn Vetter — sie stehen ihm nicht übel zu Gesicht —
sagen ja offenkundig, daß er schon als Jüngling mannhaft
für sich eintrat.
Und Rudolph hat auch so einen Kratzer auf der Stirn,
von der technischen Studentenzeit und dem Farbentragen.
Der geht los. Deshalb fragte ich: »Es existiren doch
Festungen. Ist keine frei für Kriehberg, ehe er beleidigt und
zwar mit lebenslänglicher Beköstigung?«
213
»Nein,« sagte der Vetter, »die Freiheit eines Menschen
einzuschränken ist nicht gestattet.«
»Aber wenn man doch weiß, daß er Unheil anrichten
wird?«
»Auch dann nicht.«
»Warum leben wir nicht mehr in Alt-Berlin, Herr
Vetter? Damals saß die Senge loser als heute.«
»Sie machen sich unnöthige Sorge. Wenn das Fräulein
die Verlobung rückgängig machen will, werden wir ausreichende
Gründe finden. Er vermag ihr keinen Unterhalt
zu bieten, sein exaltirtes Wesen deutet auf geistige Störung.
Ist ihm irgend ein verschrobener Verwandter nachzuweisen,
liefern wir ihn den Psychiatern aus.«
»Ist das sehr etwas Schlimmes?«
»Bei einem Anhänger Lombroso's ist er so gut wie verloren,
dem genügt schon eine dämliche Kinderfrau zur erblichen
Belastung bis ins vierte Glied.«
»Das ist Alles recht schön; aber wer hindert ihn, das
Glück der Beiden durch seine Unvernunft zu stören? Und da
Ottilie nicht frei von Schuld ist, welch' ein Brautstand wird
das, welch' eine Ehe? Das ist meine Behauptung. Und
solche Verbrechen an Glück und Freude sind straflos?«
Dies sah der Vetter ein. Glück muß rein sein, sonst ist
es kein Glück.
Er ließ sich Kriehberg's Adresse von mir geben, von
ihm selbst zu erfahren, ob er aus Liebe handele oder aus
Eigennutz. — »Von jedem etwas,« sagte ich »halb sauer und
halb mit Essig.« —
Als der Vetter wiederkam, waren wir einen Tippel
klüger, aber auch nicht mehr. Kriehberg wollte gegen eine
Abstandssumme zurücktreten und Ottiliens Briefe herabrücken.
Es waren man blos 5000 Mark, mehr nicht. Und die
sollte ich berappen. Wer sonst?
Ottilie verfügte nicht über so viel. Und Rudolph konnte
doch unmöglich seine Braut kaufen? Blieb ich allein vor
dem Rest sitzen.
Oder Tante Lina.
Aber die konnte ja nicht an das Ihrige heran.
Machte ich mir wirklich ungelegte Eier, wie der Vetter
214
meinte: »Genau genommen, geht Sie die ganze Angelegenheit
gar nichts an.«
Wie oft hatte ich mir das einzureden versucht, und
Onkel Fritz sagte es auch. Es half jedoch nicht. Mir war
Ottiliens und Rudolphs Zukunft zur Herzensfreude geworden.
Daran lag es, daß ich Unheil von ihnen zu wenden suchte,
was jedoch erschwert wurde durch Ottiliens Rückkehr.
Rudolphs Eltern wollte sie zu mir bringen, meinen
Karl und mich kennen zu lernen, und die Verlobung sollte gefeiert
werden.
Und wenn wir rufen: »Hoch lebe das Brautpaar!« und
Kriehberg stürzt herein und vollführt Aufruhr? Oder schießt
gar? Und keiner mag an die Stunde zurückdenken, die
sonst wie eine Sonne aus der Erinnerung in's Leben hineinstrahlt,
wenn trübe Tage kommen. Weder Rudolph noch
Ottilie. Und können sie auch nicht vergessen.
Ich setzte mich hin und weinte.
Dorette meldete Besuch.
»Ich kann Niemanden empfangen, ich habe Migräne.«
»Det paßt jrade. Der Herr is ooch wat Feines.«
»Mein Mann ist im Kontor.«
»Nee, er will bei Madame,« sagte Dorette und hielt mir
die Karte hin.
Dorette hatte die Thür halb aufgelassen. »Verzeihen
Sie, wenn ich ungelegen komme, aber meine Zeit ist gemessen.«
»Ich blickte hin, der Herr war mir fremd... und doch
bekannt. Wo hatte ich ihn gesehen? Richtig, auf der Ausstellung.
Er war es, Johannes Viedt.«
»Sie kommen von Tante Lina?« fragte ich, ohne die
Vorstellungsförmlichkeiten zu erledigen.
»Ich bringe Grüße von ihr. Und um kurz zu sein, sie
hat mich gebeten, einem jungen Manne in seinem Fortkommen
drüben behilflich zu sein, einem Architekten...«
»Ja, ja,« unterbrach ich ihn. »Kriehberg heißt er, eine
außerordentliche Kraft...«
»Freut mich zu hören. Für einen tüchtigen Baumeister
ist bei uns ein lohnendes Feld. Ich selbst habe große Unternehmungen
vor in St. Louis. Sein Weg ist gemacht, wenn
er sein Fach versteht.«
215
»Besser als die anderen, er baut Ihnen Alles.«
»Sonderbar, und doch kämpft er mit Schwierigkeiten?«
»Wo soll er hier seine Kräfte entfalten? Aber drüben
in dem freien Lande wird er Bedeutendes leisten.«
»Freut mich. Die Dame nimmt innigsten Antheil an
ihm... wie eine Mutter.«
»Das fiel mir nie auf. Aber wer weiß?«
Er schwieg.
»Sie spricht nicht über ihre Vergangenheit,« fing ich an.
»Und doch spürt man aus Allem, daß sie ein verlorenes Leben
betrauert. Deshalb ist sie mitunter so verbittert, und wiederum
weich zu anderer Zeit. Ist es ihr Wunsch, dem jungen
Mann fortzuhelfen... ich würde ihn erfüllen, wenn es an
mir läge... so bald wie möglich... vielleicht ist es die einzige
Freude, die sie noch hat. Sie glauben nicht, wie ich ihr dies
nachfühle.«
»Das macht Ihrem Herzen Ehre,« sagte Herr Johannes
Viedt.
»O, bitte.« — Wie er sich wohl meine Erröthung deutete?
»Wo ist der junge Mann? Von Ihnen würde ich Auskunft
erhalten...«
»Sagte Tante Lina? Ja, das habe ich ihr versprochen.
Ich werde Ihnen Herrn Kriehberg senden.«
»Kaiserhof, Zimmer fünfundvierzig.«
»Soll geschehen.«
»Ich danke Ihnen.«
Er ging. Ich mit fliegender Hast auf und davon nach
Kriehberg. Glücklicherweise traf ich ihn, wenn auch nicht in
rosenfarbner Laune. Er sollte Miethe abladen und es fehlten
ihm die Groschen.
»So weit sind Sie herunter und doch noch zu
Pferde?« rüffelte ich ihn an. »Noch immer keine Einsicht?
Und nun schleunigst mit Ihnen nach dem Kaiserhof, da ist
einer von den amerikanischen Naböbbern, Sie mitzunehmen
zum Cementanrühren und was Sie sonst vom Bau los haben.
Aber so können Sie nicht antreten....«
»Ich kann doch meine Pfandscheine nicht anziehen?«
»Nee,« sagte ich, »aber wir können sie einlösen.«
»Würden Sie das?«
»Gewiß, aber erst her mit Ottiliens Briefen.«
216
»Sie legen mir eine Falle!«
»Junger Mann, die Vorsehung reicht Ihnen die Hand.
Hier das erbärmlichste Elend — dort eine Zukunft, um die
Sie Hunderte beneiden. Und sie zögern auch nur eine
Minute? Ich zähle bis drei. — Mit drei ist unwiderruflicher
Schluß. Also: Eins!«
Er rührte sich nicht. Ich ging einen Schritt auf die
Thür zu.
»Zwei! — Freie Ueberfahrt nach den Goldbergen. Sogleich
in Thätigkeit!« — Ich faßte den Thürgriff.
»Zwei ein halb. Adje Herr Kriehberg. Eins und zwei
und...«
»Halt!«
»Na, sehen Sie!«
Er holte die Briefe hervor und die Versatzamts-Dokumente.
Auch die Miethe wurde erledigt.
Und was sagte er, als ich ihm noch Taschengeld ließ
aus der Wechselei mit seinen Hausleuten?
»Sie schreiben mir es wohl auf meine Arbeiten gut« —
Ob das Bramsigkeit war den Leuten gegenüber oder Unverfrorenheit,
daß er sich solche Worte herausnahm, soll unentschieden
bleiben, ich ließ ihn ohne Antwort stehen. Mit dem
war ich fertig.

»Aber er war noch lange
nicht über das Wasser. Wenn
Herr Viedt ihn nicht mitnahm?«
Ich hatte wenigstens die
Briefe, damit konnte er nichts
mehr anstiften.
Ich las sie zu Hause durch.
Unverantwortlich überschwänglich
mit himmlisch und entzückend, mit Liebe und Daseinswonne
und Seligkeiten und doch kein Satz aus dem
Herzen, sondern aus Büchern, ebenso wie ihre Wissenschaften
eine bloße Behaltssache mit dem Kopfe; nichts Innerliches.
Solchen Brast hatte ich oft genug gelesen; wahrscheinlich
in denselben Romanen, woraus Ottilie sich mit Liebesweisheit
belernte. Nein, geliebt hat sie Kriehberg nie. Es war die
reine Gymnasialpoussade, nicht mehr und nicht dauerhafter,
217
ohne einen Fleck zu hinterlassen, obgleich man nie vorsichtig
genug sein kann! Umgang färbt ab.
Und doch der Schreck, als Kriehberg am Spätnachmittage
erschien... Natürlich Herrn Viedt vor den Kopf gestoßen
und der Tanz beginnt von Neuem, war meine feste
Ueberzeugung.
Aber gottlob nein. Der Himmel hatte ein Einsehen gehabt
mit meinen Leiden. Er war angenommen, am folgenden
Tage ging es nach Hamburg und von da in die neue
Welt, neuem Leben entgegen. Nun wollte er mir danken.
»Herr Kriehberg,« sagte ich, »daß Sie glauben, mir
Dank schuldig zu sein, nehme ich als ein Zeichen Ihrer Reue
an, im Uebrigen will ich Ihren Dank nicht. Was ich für
Sie ausgelegt habe, steht zu Buch. Sie werden mir es
wiedererstatten, wenn Sie in Dollars wühlen. Wir haben
blos geschäftlich miteinander zu thun. In meiner Zuneigung
haben Sie weder Sitz noch Stimme.«
»Wenn Sie wüßten, wie die Gesellschaft mich behandelt
hat, diese selbstsüchtige, verlogene Brut, die mir feindlich gesonnen
ist von jeher, die mich nie verstanden hat...«
»Ach was, Gesellschaft! An Ihnen liegt es, daß Sie
überall gegen rennen. Sie wollen mehr für Ihr Bischen
Können haben, als es werth ist, das ist Ihr Zorn. Verstehen
Sie die Welt, dann werden Sie wieder verstanden werden.«
Das mochte er nicht hören, er empfahl sich mit einer
kurzen Verbeugung und verschwand. —
Ich athmete auf, die Luft war rein. Aber ganz frei
fühlte ich mich erst, nachdem ich dem Vetter die Unterhaltung
mit Kriehberg erzählt hatte. »Wenn jetzt nichts aus ihm
wird, trifft mich keine Schuld,« schloß ich, »an ihm ist gethan,
was gethan werden konnte.«
Der Vetter lächelte. »Keine mächtigere Gunst als
Frauengunst,« sagte er. »Nach meinem Urtheil ist Kriehberg
ein Mensch, der immer wieder angebracht werden muß, da
er selbst sich meistens unmöglich macht. So einer ist auf
Protection angewiesen und findet sie auch, so bald es ihm
gelingt, mit doppeltem Boden als vielversprechendes Talent
zu imponiren und als verkanntes Genie Mitleid zu erwecken.
Und hat er einmal die Gönnerschaft eines weiblichen Herzens
218
gewonnen, bleibt sie ihm und hilft ihm vorwärts, auch wenn
er sie nicht mehr verdient!«
»Sehr richtig, Herr Vetter, als wenn ich Tante Lina
leibhaftig vor mir sähe; meine Gunst dagegen hatte Kriehberg
längst verscherzt. Aber sagen Sie selbst, hätten Sie es
über sich gebracht, ihn in seiner Laufbahn zu behindern?
Schließlich dauert er Einen doch und er kann sich ja auch
ändern.«
»Vielleicht findet er eine liebende Gattin, die ihn erzieht.«
»Für seine Zukünftige wäre das Beste, er bliebe unverheirathet.
Oder auch er kriegte seinen Lohn durch sie. Die
Vorsehung wird schon wissen, wie sie's anfängt« —
Mein Karl mußte noch einmal in seine Fabrikwohnung
ziehen, da ich Ottilie bei mir hatte.
Es war ein wunderliches Wiedersehen, als sie kam und
nicht wußte, ob es Schelte gäbe oder gute Worte und er
dabei war, ihr Bräutigam. In seiner Gegenwart mich einer
Kanzelrede für fähig zu halten, traute sie mir nicht wohl zu,
aber wäre inhaltlose Höflichkeit nicht eben so hart gewesen,
wie ein Ausputzer mit Amen und Sela? Genug, sie fürchtete,
ob ich doch nicht...
Nein. Als sie zögernd dastand und ihre Blicke schüchtern
baten, breitete ich die Arme aus und sie umhalste mich
schluchzend und bebend.
»Kind, Kind, es ist Alles gut,« sagte ich und flüsterte
ganz leise: »Alles, Alles.«
Sie mußte verstanden haben, was ich meinte. Nun ließ
sie mich erst recht nicht los.
»Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben,« wandte ich
mich an Rudolph. »Sie sind mir der Rechte. Sie versprechen
mir, keine Thorheiten zu begehen — ja, das haben
Sie — und kaum bin ich aus der Sehatmosphäre, entführen
Sie Ottilie.«
»Das war doch keine Thorheit.«
Als er das sagte, lachte er über das ganze Gesicht. Und
ich... ich lachte mit. —
Herrn Braun's Eltern waren im Hôtel de Rome abgestiegen,
mein Pfuschhôtel konnte ich ihnen nicht gut anbieten;
sie sind es vornehm gewohnt, wenn auch nicht ausgeschlossen
ist, sie einmal in richtiger Berliner Manier bei
219
uns zu sehen, mit warmem Abendbrot, einfach und gediegen
und dafür lieber etwas reichlich. Die Leute sind wirklich
nette Leute. Obgleich so reich, mußte ihr Sohn von der
Pike auf dienen, arbeiten und schlossern und schmieden und
zeichnen und rechnen, als hätte er nichts zu erwarten. Und
deshalb hatte er auch die Freiheit nach seinem Herzen zu
wählen. Er konnte etwas und stand auf eigenen Füßen.

Und dabei die Ungermann, des älteren Herrn Brauns'
Schwester. Familienäpfel fallen doch manchmal sehr weit
vom Stamm. Oder aber Ungermann hat sie schädlich angewöhnt.
Der ist nach keiner Richtung empfehlenswerth.
Denn anstatt von meinem Karl einen größeren Posten zu
kaufen, hat er eine Lappalie bestellt und unserem Konkurrenten
alle verregnete Waare billig abgenommen und sonst noch
viel dazu. So etwas gehört sich nicht. —
Braun's besuchten die Ausstellung nicht des Vergnügens
wegen, sondern in wichtigster Absicht. Es galt, dem Sohn
ein eigenes Heim einzurichten, und wo konnte das Zubehör
besser ergründet und beschafft werden, als da, wo das Beste
und Schönste nahe bei einander war?
Das höchste Ziel des heutigen Menschen ist eine eigene
Villa. Ottilie hatte es erreicht. Die Pläne waren bereits
entworfen, die Ausstattung stand fertig in den Hallen der
Ausstellung. Wir brauchten blos aussuchen. Brauns senior
bezahlte.
220
Wie ganz anders doch die einzelnen Gegenstände erscheinen,
wenn sie erworben werden sollen und nicht als gewerbliche
Anstauungsleistungen ermüden. Und Möbel haben
wir gewählt: propper! Die Villa wird kostbar. —
Auch die Hochzeitsreise ist bereits geographisch abgesteckt,
mit Madrid als Endpunkt. Nun kommt Ottilie dahin, und
kann die spanische Residenz mit ihrer Examensarbeit vergleichen.
Rudolph sucht eben jeden ihrer Wünsche zu erfüllen,
selbst den weitesten. Wenn sie nur nicht verwöhnt
wird. Aber Mama Brauns ist eine kluge Frau. Und Ottilie
ordnet sich ihr unter aus freien Stücken. Sie hat ja eine
Mutter in ihr wieder.
Als ich mit Ottilie allein war, am ersten Abend nach
ihrer Rückkehr sagte ich: »Reich mir mal die Schweden und
mach die Ofenthür auf.«
Nachdem sie dies gethan, hielt ich ihr ein Päckchen Papiere
hin und fragte: »Kennst Du diese?«
»Meine Briefe!« rief sie verlegen.
»Deine Jugend-Dummheit. Von ihr soll nichts bleiben,
als Staub und Asche. Weg und aus!«
Wie der Ofen voller Flammen prasselte, sagte ich:
»Schade, daß wir Deine Wissenschaften nicht mit eins verbrennen
können, oder ergiebst Du Dich ihnen auch noch
ferner?«
»Nein, nein!« erwiderte sie rasch.
»Du hast noch manches nachzuholen, wobei Dir die
Wissenschaft im Wege ist. Du mußt Hausstand studiren und
Nahrungsmittel lernen und Dienstmädchen regieren und...«
»Meinen Rudolph glücklich machen.«
»Kind, das ist das einfachste von der Welt: Liebe ihn
mehr als Dich.«
Sie faltete unwillkürlich die Hände und senkte schweigend
das Haupt. Ich küßte sie.
Wenn ein Engel durch das Gemach flog, weiß ich wohin
er ging mit dem stillen Gebet um Liebe. —
Die Verlobungsfeier fand in dem runden Thurmgemach
im Hauptrestaurant statt. Auf der Ausstellung hatten die
jungen Leute sich gefunden, dort wollte Rudolph uns alle
an seinem Bräutigamsglück theilnehmen lassen. Wir kamen
auch sämmtlich — Sanitätsraths hatten eigens nur dürftig
221
zu Mittag gegessen — und Butsch und Frau hatte er gebeten,
war sie doch sein Compagnon. Daß heißt Antheil
wollte er nicht, das war Scherz gewesen, dagegen die Barometer-Idee
der Butschen hatte er beim Patentamt gehißt.
Zweitausend und hundertundfünfzig Mark hatte sie nach
Abzug der Musterschutz-Auslagen bekommen und für später
waren Procente in Aussicht.
Sie, die Butschen, strahlte, als ich ihr zu dem Erfolge
gratulirte. »Wer hätte das für möglich gedacht?« sagte sie,
»aber es ist so. Butsch will, daß ich noch ein Mädchen
halte und blos noch sitze und erfinde.«
»Haben Sie denn schon wieder etwas?«
»Ach nee und wenn ich noch so blödsinnig nachdenke.
Und Butsch thut es auch nicht gut. Der wird schon en ganzer
Simulante.«
»Wie so?«
»Na ja, er simulirt in eins weg Barometer. Aber er
bringt sie nicht zum Hacken.«
»Daß er nur sein Geschäft nicht darüber versäumt. Am
Vorbei-Erfinden ist schon mancher zu Grunde gegangen.«
»Ach nee, da paßt er auf. Seine Weiße ist die Beste
überall in der Gegend. Es kommt auch kein Tropfen Wasser
mehr mang, als muß. Er will nicht an Ausstellungsfremden
verdienen, wie viele thun. Butsch weiß, was er der Ehre
Berlins schuldig ist.«
»Ja, ja,« sagte ich. »Es hat so jeder seine Ehre.«
»Wie meinen Sie das?«
»Liebe Butschen, so ausgezeichnet Sie auch im Erfinden
sind, die Fragen der socialen Gesellschaft zu lösen muthe ich
Ihnen nicht zu und wenn Sie noch drei Mädchen nähmen.
Auch ist hier nicht der Ort für dergleichen. Kommen Sie,
es geht zu Tisch. Wir werden vergnügt sein, so recht von
Herzen vergnügt.«
»Buchholzen! Sie treffen doch immer die Gefühle
Anderer mitten auf den Kopf. Wenn Eine vor Lust krieschen
möchte, bin ich es. Blos ich habe Bange, daß Butsch zu
viel kriegt. Dann singt er. Passen Sie auf, er singt.«
Wir aßen und tranken und waren froh. Es war zu
hübsch. Und so schön auch Gemach und Tafel waren, mit
222
Blumen und kostbarem Gedeck, das schönste war doch das
Brautpaar. Und wir Alle freuten uns an ihrem Glück.
Als es dunkelte, begann draußen die Illumination. Wir
traten an die Fenster und blickten auf den lichtumrankten
See, auf den Flammen-Springbrunnen und das Hauptgebäude,
das wie ein Riesenschloß in feurigen Umrissen gegen den
Nachthimmel stand. Und die Töne der Musik drangen herauf
in jubelnden Weisen.
»Ein Fest der Arbeit ist die Ausstellung,« sagte der alte
Herr Brauns. »Möge allzeit Segen ruhen auf redlicher
Arbeit, sie ist die Kraft des Vaterlandes.«
Rudolph winkte. Die Lohndiener brachten frisch gefüllte
Gläser mit Dressel's bestem Rheinwein.
»Der Deutschen Arbeit in Deutschem Wein!« rief er,
»Ihr gilt dieses Glas.« Und dann noch eins:
»Auf das, was wir lieben!«
Und Herr Butsch stimmte an:
»Hoch soll'n sie leben. Dreimal hoch!«

Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a/S.
Notizen des Bearbeiters:
Unterschiedliche Schreibweisen wurden nicht geändert.
Typographische Fehler und einzelne Satzzeichen wurden stillschweigend geändert.
Antiqua-Schrift der Originalversion wurde hier durch Kursivschrift ersetzt.
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